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BAG: Einwurf-Einschreiben kein Anscheinsbeweis

1. Eine verkörperte Willenserklärung geht unter Abwesenden zu, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt ist und für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von ihr Kenntnis zu nehmen. Zum Bereich des Empfängers gehören von ihm vorgehaltene Empfangseinrichtungen wie ein Briefkasten (Rn 10).

2. Der Beweis des ersten Anscheins greift bei typischen Geschehensabläufen ein, also in Fällen, in denen ein bestimmter Sachverhalt feststeht, der nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablauf als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolgs hinweist (Rn 16).

3. Die bloße Vorlage des Einlieferungsbelegs eines Einwurf-Einschreibens und die Darstellung seines Sendungsverlaufs begründen für sich allein genommen ohne die Vorlage einer Reproduktion des Auslieferungsbelegs keinen Anscheinsbeweis für einen Zugang der eingelieferten Postsendung beim Empfänger (Rn 18).

[Orientierungssätze des Gerichts]

BAG, Urt. v. 30.1.20252 AZR 68/24

I. Der Fall

Kündigung zugegangen?

Die Parteien streiten zuletzt noch darüber, ob eine Kündigung der Beklagten mit Schreiben vom 26.7.2022 das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis aufgelöst hat. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 14.3.2022 außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich. Hiergegen erhob die Klägerin mit Schriftsatz vom 18.3.2022 Kündigungsschutzklage und wies auf ihre bestehende Schwangerschaft hin. Das Arbeitsgericht stellte später – mit Urt. v. 11.1.2023 – fest, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch diese Kündigung nicht aufgelöst wurde. Das zuständige Regierungspräsidium erteilte der Beklagten mit Bescheid vom 25.7.2022 die Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin. Im Rahmen des damals noch erstinstanzlich anhängigen Kündigungsschutzverfahrens berief sich die Beklagte erstmals mit Schriftsatz vom 4.11.2022 darauf, sie habe das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit Schreiben vom 26.7.2022 ein weiteres Mal außerordentlich, hilfsweise ordentlich zum 30.9.2022 gekündigt. Die Klägerin hat den Zugang dieses Kündigungsschreibens bestritten.

Einwurf-Einschreiben

Die Beklagte hat vorgetragen, zwei ihrer Mitarbeiterinnen hätten das Kündigungsschreiben gemeinsam in einen Briefumschlag gesteckt und als Einwurf-Einschreiben aufgegeben. Sie verwies insoweit auf den im Internet abrufbaren sog. Sendungsstatus und berief sich auf einen Anscheinsbeweis.

Verfahrensgang

Das Arbeitsgericht hat die Klage – soweit in der Revision von Interesse – abgewiesen (ArbG Heilbronn, Urt. v. 11.1.2023 – 1 Ca 91/22), das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben (LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 12.12.2023 – 15 Sa 20/23). Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.

II. Die Entscheidung

Revision unbegründet

Das BAG hat die Revision als unbegründet zurückgewiesen. Das Landesarbeitsgericht habe auf die Berufung der Klägerin das erstinstanzliche Urteil zu Recht abgeändert und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch eine Kündigung vom 26.7.2022 außerordentlich fristlos oder hilfsweise ordentlich aufgelöst worden sei. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei sie für den Zugang der Kündigung beweisfällig geblieben

kein Beweis erbracht

Die Beklagte habe für den von ihr behaupteten Einwurf des Kündigungsschreibens am 28.7.2022 in den Hausbriefkasten der Klägerin keinen Beweis angeboten, insbesondere keinen Zeugenbeweis der Person, die den Einwurf vorgenommen haben soll. Es bestehe auch kein Anscheinsbeweis zugunsten der Beklagten, dass ein Zugang des Kündigungsschreibens vom 26.7.2022 bei der Klägerin erfolgt sei.

Einlieferungsbeleg ungenügend

Der von der Beklagten im vorliegenden Verfahren vorgelegte Einlieferungsbeleg eines Einwurf-Einschreibens, aus dem neben dem Datum und der Uhrzeit der Einlieferung die jeweilige Postfiliale und die Sendungsnummer ersichtlich sind, zusammen mit einem von der Beklagten im Internet abgefragten Sendungsstatus („Die Sendung wurde am 28.7.2022 zugestellt.“) genüge nicht für einen Beweis des ersten Anscheins, dass das Schreiben der Klägerin tatsächlich zugegangen ist. Zwar habe der Bundesgerichtshof angenommen, dass für den Absender eines Einwurf-Einschreibens bei Vorlage des Einlieferungsbelegs zusammen mit einer Reproduktion des Auslieferungsbelegs der Beweis des ersten Anscheins streitet, dass die Sendung durch Einlegen in den Briefkasten bzw. das Postfach zugegangen ist, wenn ein näher beschriebenes Verfahren eingehalten wurde (BGH, Urt. v. 11.5.2023 – V ZR 203/22 – Rn 8; BGH, Urt. v. 27.9.2016 – II ZR 299/15 – Rn 33). Ob der Senat dem BGH folge, könne aber vorliegend offenbleiben. Die Beklagte habe den Auslieferungsbeleg schließlich nicht vorgelegt und sei hierzu wegen des zwischenzeitlich eingetretenen Fristablaufs nicht mehr in der Lage. Die Vorlage des Einlieferungsbelegs eines Einwurf-Einschreibens und die Darstellung seines Sendungsverlaufs begründen ohne die Vorlage einer Reproduktion des Auslieferungsbelegs keinen Anscheinsbeweis für den Zugang beim Empfänger. Da durch die Absendung eines Schreibens nicht der Nachweis seines Zugangs erbracht werden könne, sei der Einlieferungsbeleg für die Frage des Zugangs ohne Bedeutung.

Sendungsstatus reicht nicht

Der Ausdruck des Sendungsstatus, auf dem dieselbe Sendungsnummer wie auf dem Einlieferungsbeleg sowie das Zustelldatum vermerkt sind, bietet ebenfalls keine ausreichende Gewähr für einen Zugang. In diesem Fall lässt sich weder feststellen, wer die Sendung zugestellt hat noch gibt es ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass das vom Bundesgerichtshof beschriebene oder das jeweils gültige Verfahren der Deutschen Post AG für die Zustellung der eingelieferten Postsendung tatsächlich eingehalten wurde. Der Sendungsstatus ist kein Ersatz für den Auslieferungsbeleg.

III. Der Praxistipp

umstrittene Rechtsfrage

Welchen Beweiswert die Ein- und (reproduzierten) Auslieferungsbelege beim Einwurfeinschreiben haben, ist umstritten. So ist der verneinenden Auffassung zuzustimmen, dass mit Hilfe dieser Belege der Anscheinsbeweis für den Zugang der Erklärung beim Empfänger nicht geführt werden kann (anders der BGH). Schließlich kann die Erklärung auch noch nach Eintritt in den Machtbereich untergehen oder abhandenkommen. Außerdem ist es denkbar, dass die Zustellperson die Erklärung – insbesondere in Mehrfamilienhäusern – in den falschen Briefkasten wirft (vgl. OLG Koblenz, Urt. v. 28.1.2005 – 11 WF 1013/04; LAG Hamm, Urt. v. 5.8.2009 – 3 Sa 1677/08; ArbG Düsseldorf, Urt. v. 6.4.2017 – 10 Ca 7262/16; ArbG Düsseldorf, Urt. v. 22.2.2019 – 14 Ca 465/19; ArbG Reutlingen, Urt. v. 19.3.2019 – 7 Ca 89/18).

BAG lässt es offen

Ob das BAG zukünftig dem BGH folgt, hat es jüngst ebenfalls offengelassen (BAG v. 20.6.2024 – 2 AZR 213/23). Das BAG hatte zwar richtigerweise entschieden, dass ein Beweis des ersten Anscheins, dass Bedienstete der Deutschen Post AG Briefe zu den postüblichen Zeiten zustellen, gegeben ist, nicht aber die Frage beantwortet, ob er sich der Auffassung des BGH anschließt, wonach die Vorlage des Einlieferungsbelegs und einer Reproduktion des Auslieferungsbelegs mit der Unterschrift des Zustellers einen Beweis des ersten Anscheins für einen Zugang des Schreibens an dem auf dem Auslieferungsbeleg genannten Tag begründet.

Bote statt Einschreiben

Arbeitgebern bleibt vor diesem Hintergrund zu raten, einen individuellen Boten (idealerweise keinen Kurierdienst) des Unternehmens mit der Zustellung von Kündigungen zu betrauen, um die erheblichen Beweisschwierigkeiten bei der Zustellung via Einwurf-Einschreiben zu vermeiden.

Dr. Jannis Kamann, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln, kamann@michelspmks.de

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