Das Rechtsfolgensystem der §§ 10 Abs. 1 Satz 1, 9 Abs. 1 AÜG ist nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG auf die Überlassung zwischen Konzernunternehmen i.S.d. § 18 AktG nicht anzuwenden, wenn der Arbeitnehmer nicht zum Zweck der Überlassung eingestellt und beschäftigt worden ist (sog. Konzernprivileg). Die Konjunktion „und“ beschreibt ein alternatives Verhältnis der Merkmale Einstellung und Beschäftigung. Das Konzernprivileg ist danach bereits ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer zum Zweck der Überlassung eingestellt „oder“ beschäftigt wird. Die zwingenden Vorgaben des AÜG können nicht dadurch umgangen werden, dass der Arbeitsvertrag nach der Einstellung geändert und der Arbeitnehmer zum Zweck der Überlassung als Leiharbeitnehmer beschäftigt wird.
[Amtliche Leitsätze]
I. Der Fall
Tätigkeit im Automobilkonzern
Der Kläger war von 2008 bis 2020 bei der Firma S als Sitzefertiger angestellt. Seine Arbeitsleistung erbrachte er auf dem Werksgelände der Beklagten, einem Automobilhersteller. Die Firma S und die Beklagte sind konzernverbundene Gesellschaften.
Werkvertrag oder Arbeitnehmerüberlassung?
Der Kläger vertritt die Auffassung, zwischen ihm und der Beklagten sei gem. § 10 Abs. 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 AÜG ein (fingiertes) Arbeitsverhältnis zustande gekommen, weil sein Einsatz bei der Beklagten im Rahmen einer verdeckten Arbeitnehmerüberlassung erfolgt sei. Er sei in die Arbeitsprozesse der Beklagten eingegliedert gewesen und habe seine Weisungen von Mitarbeitern der Beklagten erhalten. Die Beklagte hingegen ist der Auffassung, dass schon keine Arbeitnehmerüberlassung vorliege, da die Arbeitsbereiche der Beklagten und der Firma S voneinander abgrenzbar seien. Zum anderen fänden vorliegend die Rechtsfolgen einer illegalen Arbeitnehmerüberlassung – Fiktion eines Arbeitsverhältnisses – keine Anwendung, da diese Bestimmungen aufgrund des Konzernprivilegs des § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG nicht anwendbar seien.
Verfahrensgang
Die Klage blieb vor dem Arbeitsgericht (ArbG Hannover, Urt. v. 15.3.2022 – 13 Ca 281/20) und dem Landesarbeitsgericht (LAG Niedersachsen, Urt. v. 9.11.2023 – 5 Sa 180/23) erfolglos, wobei das Berufungsgericht darauf abstellte, dass die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses zur Beklagten schon wegen des Konzernprivilegs nicht eintreten konnte. Die Revision des Klägers führte zur Zurückweisung an das Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung.
II. Die Entscheidung
Zurückverweisung an das Berufungsgericht
Das BAG entschied, dass das Landesarbeitsgericht den Antrag des Klägers auf Feststellung eines Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten nicht mit der gegebenen Begründung abweisen durfte.
Auslegung des Konzernprivilegs
Gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG komme zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer ein Arbeitsverhältnis zustande, wenn der Arbeitsvertrag zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer gemäß § 9 Abs. 1 AÜG unwirksam sei. Diese Vorschriften fänden dann keine Anwendung, wenn das Konzernprivileg des § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG greife. Das Konzernprivileg entfalle auch dann, wenn der Arbeitnehmer zwar nicht zum Zweck der Überlassung eingestellt, wohl aber zum Zweck der Überlassung beschäftigt werde. Zwar spreche der Wortlaut der Bestimmung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG – „eingestellt und beschäftigt“ – auf den ersten Blick dafür, dass das Konzernprivileg nur dann entfalle, wenn sowohl die Einstellung als auch die Beschäftigung zum Zwecke der Überlassung erfolge. Diese Wortlautauslegung sei jedoch nicht zwingend. Die Regelung könne auch im Sinne eines „und/oder“ ausgelegt werden. Für letzteres spreche die Gesetzesbegründung. Nach dem Willen des Gesetzgebers solle das Konzernprivileg auch bei einer zu Überlassungszwecken dienenden Beschäftigung ausgeschlossen sein. Für dieses Ergebnis spreche auch, dass nach der Systematik des AÜG regelmäßig nicht die vertragliche, sondern die tatsächliche Überlassung die beabsichtigten Rechtsfolgen auslöse. Hierdurch solle die praktische Wirksamkeit des durch das AÜG vermittelten Schutzes gewährleistet werden.
verbleibender Anwendungsbereich
Auch bei einem solchen Verständnis bliebe für das Konzernprivileg ein eigener Anwendungsbereich. Die Überlassung von Arbeitnehmern im Konzern dürfe nur nicht auf Dauer angelegt sein. Das Konzernprivileg greife daher, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung „normalerweise“ gegenüber seinem Vertragsarbeitgeber erbringe und lediglich „anlassbezogen“ einer anderen Konzerngesellschaft überlassen werde. Die Absicht und grundsätzliche Möglichkeit einer Beschäftigung beim Vertragsarbeitgeber müsse weiterhin gegeben sein. Hieran fehle es dann, wenn der Vertragsarbeitgeber keine eigene Betriebsstruktur und damit keine Beschäftigungsmöglichkeit für den überlassenen Arbeitnehmer mehr vorhalte. Das Vorliegen einer Einstellung und/oder Beschäftigung zum Zwecke der Überlassung sei anhand einer Gesamtbetrachtung festzustellen. Ein Indiz hierfür sei auch dann gegeben, wenn der Arbeitnehmer regelmäßig oder für einen außergewöhnlich langen Zeitraum an ein anderes Konzernunternehmen überlassen werde. Dies bestimme sich nach dem Unternehmenszweck des Vertragsarbeitgebers, der Dauer und Häufigkeit der Überlassung, aber auch nach Häufigkeit und Dauer der Unterbrechungen sowie dem Anlass der Überlassung. Feste Zeitgrenzen bestünden hierbei jedoch nicht, insbesondere könne nicht auf die Höchstüberlassungsdauer gemäß § 1 Abs. 1b AÜG zurückgegriffen werden.
Abgrenzung Werkvertrag und Arbeitnehmerüberlassung
Das BAG wies darauf hin, dass das Berufungsgericht prüfen müsse, ob der Einsatz des Klägers auf werkvertraglicher Basis oder im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung erfolgt sei. Bei seiner Beurteilung habe das Landesarbeitsgericht zu berücksichtigen, dass die arbeitsrechtliche Weisungsbefugnis von der projektbezogenen werkvertraglichen Anweisung im Sinne von § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB zu unterscheiden sei. Die werkvertragliche Anweisung sei sachbezogen und ergebnisorientiert, die arbeitsrechtliche Anweisung hingegen personenbezogen und ablauforientiert. Soweit sich der Kläger darauf berufen habe, im Zusammenhang mit der Nachbesserung fehlerhafter Sitze Weisungen durch Mitarbeitende der Beklagten erhalten zu haben, könne hierin auch eine werkvertragliche Weisung bzw. Aufforderung zur Nachbesserung im Rahmen eines Werkvertrages zu sehen sein. Diese seien abzugrenzen von etwaigen arbeitsrechtlichen Weisungen.
Vereinbarkeit mit Unionsrecht
Ob das Konzernprivileg im Einklang mit Unionsrecht stehe, könne aktuell dahinstehen, da derzeit noch nicht feststehe, ob diese Frage überhaupt entscheidungserheblich sei.
III. Der Praxistipp
Risiken bei der Konzernüberlassung
Konzernüberlassungen sind in der Praxis weit verbreitet. Die vorliegende Entscheidung des BAG hat daher enorme praktische Auswirkungen. Leider vermittelt die vorliegende Entscheidung wenig Rechtssicherheit. Die Abgrenzungskriterien zwischen dauerhafter und lediglich vorübergehender Überlassung lassen erhebliche Spielräume zu. Problematisch sind insbesondere Fallgestaltungen, in denen eine von den Beteiligten zunächst als vorübergehend intendierte Überlassung schleichend in eine dauerhafte Überlassung „umschlägt“. Es darf hierbei nicht verkannt werden, dass eine Konzernüberlassung häufig auch im Interesse der betroffenen Arbeitnehmer erfolgt. So verspüren etwa langjährige Beschäftigte einer Konzernmuttergesellschaft, gesegnet mit einer großzügigen Altersversorgung, im Regelfall wenig Neigung, diesen Besitzstand aufzugeben, um zu einer Konzerntochter zu wechseln, von der nicht sicher ist, ob sie dauerhaft im Konzern verbleibt. Diese Fallgestaltung ist insofern jedoch weniger risikobehaftet, da sich insbesondere keine Haftungsrisiken aufgrund des Equal Pay-Prinzips ergeben und zudem derartige Fälle kaum streitig werden. Problematischer sind jedoch Fallgestaltungen wie der hier entschiedene, in denen offenbar nicht die Interessen des betroffenen Arbeitnehmers, sondern eher die Einsparung von Personalkosten im Vordergrund stand.
Alternative: Ruhensvereinbarungen
Trotzdem sollten Konzernüberlassungen insgesamt auf den Prüfstand gestellt werden. Häufig lässt sich das gewünschte Ergebnis auch dadurch erreichen, dass ein neues, ggf. befristetes Arbeitsverhältnis zur Konzerngesellschaft begründet wird und das bestehende Arbeitsverhältnis ruhend gestellt wird.
Ulrich Kortmann, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln, kortmann@michelspmks.de