In der Praxis gibt es immer wieder Fälle, in welchen ein Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt, der Arbeitgeber jedoch Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers hegt. Fragen hinsichtlich des Beweiswertes von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sind daher immer wieder Diskussionspunkt innerhalb der arbeitsrechtlichen Beratungspraxis und beschäftigen dementsprechend auch die Arbeitsgerichte. So wurden auch bereits im Rahmen dieses Infobriefes vermehrt Entscheidungen besprochen, welche sich mit dem Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen befasst haben – vgl. dazu Infobrief Arbeitsrecht 09/2023 und Infobrief Arbeitsrecht 10/2021. Gleichwohl ergeben sich bei der Beratung immer wieder neue Fragestellungen, weshalb an dieser Stelle eine kurze Zusammenfassung der Bedeutung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und ihres Beweiswerts erfolgen sowie auch auf die aktuellen dazu ergangenen Urteile des BAG (kurz) eingegangen werden soll.
Arbeitsunfähigkeit und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Allein bei reiner Geltung des im deutschen Arbeitsrecht geltenden Grundsatzes „Ohne Arbeit kein Lohn“ würde dem Arbeitnehmer, aufgrund des absoluten Fixschuldcharakters der Arbeitsleistung, bei Nichterbringung der Arbeitsleistung aufgrund von Arbeitsunfähigkeit kein Lohnanspruch zustehen. Hiervon macht jedoch § 3 EFZG dahingehend eine Ausnahme, dass dem Arbeitnehmer (für die Dauer von sechs Wochen) ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zusteht, insofern der Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft und die sonstigen Voraussetzungen des § 3 EFZG vorliegen. Entsprechend der allgemeinen Darlegungs- und Beweislastregelung, ist es jedoch Sache des Arbeitnehmers, die anspruchsbegründenden Tatsachen darzulegen und ggf. zu beweisen. Dies bedeutet, dass der Arbeitnehmer darlegen und beweisen muss, dass er arbeitsunfähig erkrankt ist. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung stellt dabei das zentrale Instrument zum Nachweis der Arbeitsunfähigkeit dar.
Auch nach Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung seit dem 1.1.2023 stellt die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – auch wenn der gesetzlich versicherte Arbeitnehmer nicht mehr dazu verpflichtet ist, diese in Papierform vorzulegen, sondern nur zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit und ihrer voraussichtlichen Dauer – eine für den Arbeitgeber wichtige Bescheinigung dar. Denn auch auf der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die der Arbeitgeber von den Krankenkassen erhält, sind Angaben zum Beginn der Arbeitsunfähigkeit, deren voraussichtliche Dauer zum Zeitpunkt der Arbeitsunfähigkeit sowie Angaben zur Erst- bzw. Folgebescheinigung usw. enthalten.
Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Obwohl die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (lediglich) eine Privaturkunde i.S.v. § 416 ZPO ist und für sie keine gesetzliche Vermutung i.S.v. § 292 ZPO streitet, hat die ordnungsgemäß ausgestellte ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (immer noch) einen (sehr) hohen Beweiswert (vgl. u.a. BAG, Urt. v. 19.2.2015 – 8 AZR 1007/13). Dieser hohe Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führt dazu, dass ein Tatrichter normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht sehen kann, wenn der Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt.
Diesen hohen Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung muss der Arbeitgeber erschüttern, d.h. nach der ständigen Rechtsprechung des BAG muss der Arbeitgeber tatsächliche Umstände darlegen, die begründete Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers aufkommen lassen und dazu führen, dass der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Ausreichend ist es dabei nicht, dass der Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers mit bloßem Nichtwissen bestreitet , vgl. § 138 Abs. 4 ZPO (vgl. u.a. BAG, Urt. v. 13.12.2023 – 5 AZR 137/23, mit Verweis auf BAG, Urt. v. .28.6.2023 – 5 AZR 335/22). Was unter „tatsächlichen Umständen“, die begründete Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers aufkommen lassen, genau zu verstehen ist, ist – wie so oft – nicht abschließend geklärt oder definiert, sondern einzelfallabhängig zu beantworten. Im Rahmen der Entscheidung v. 8.9.2021 – 5 AZR 149/21 weist das BAG in diesem Zusammenhang erfreulicherweise darauf hin, dass bei der näheren Bestimmung der Anforderungen der Darlegungslast der Parteien zu berücksichtigen sei, dass der Arbeitgeber in aller Regel keine Kenntnis von den Krankheitsursachen habe und nur in eingeschränktem Maße in der Lage sei, Umstände vorzutragen, die zur Erschütterung des Beweiswert führen.
Ausreichend dürfte es jedenfalls sein, wenn der Arbeitgeber solche Umstände vorträgt, die den in § 275 Abs. 1a SGB V Regelbeispielen entsprechen. § 275 Abs. 1a SGB V nennt hier:
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häufige oder auffällig häufige nur für kurze Dauer bestehende Arbeitsunfähigkeiten
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häufiger Beginn der Arbeitsunfähigkeit an einem Arbeitstag am Beginn oder am Ende der Woche
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Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit auffällig geworden ist.
Das BAG stellt jedoch in ständiger Rechtsprechung fest, dass der Arbeitgeber nicht auf die in § 275 Abs. 1a SGB V genannten Beispiele beschränkt ist. Tatsächliche Umstände, die zu berechtigten Zweifeln führen, können (!) sich u.a. auch
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aus dem eignen Sachvortrag des Arbeitnehmers ergeben (BAG, Urt. v. 26.10.2016 – 5 AZR 167/16)
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aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst ergeben (BAG, Urt. v. 8.9.2021 – 5 AZR 149/21)
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aus Verstößen des ausstellenden Arztes gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie ergeben, insofern es sich nicht um formale Vorgaben handelt, die nur für das kassenrechtliche Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse von Bedeutung sind (BAG, Urt. v. 28.6.2023 – 5 AZR 335/22, vgl. Infobrief 09-2023)
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daraus ergeben, dass der Arbeitnehmer, zu einem Zeitpunkt, zu dem feststeht, dass das Arbeitsverhältnis enden soll, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt, die passgenau eine Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses attestiert (BAG, Urt. v. 13.12.2023 – 5 AZR 137/23)
Gelingt dem Arbeitgeber die Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, ist es wiederum Sache des Arbeitnehmers, (weitere) konkrete Tatsachen substantiiert darzulegen und ggf. zu beweisen, die für eine bestehende Arbeitsunfähigkeit sprechen. Hierfür muss der Arbeitnehmer bspw. dazu vortragen, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche Einschränkungen bestanden haben oder welche Verhaltensmaßnahmen oder Medikamente hinsichtlich der Erkrankung ärztlich verordnet wurden (vgl. BAG, Urt. v. 13.12.2023 – 5 AZR 137/23, mit Verweis auf BAG, Urt. v. 8.9.2021 – 5 AZR 149/21).
Kann der Arbeitgeber hingegen den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht erschüttern, gilt der Vortrag des Arbeitnehmers gem. § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden.
Krankmeldung zwischen Kündigung bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses
Im Zusammenhang mit Fragestellungen hinsichtlich des Beweiswertes von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen hat insbesondere das bereits oben erwähnte Urteil des BAG v. 13.12.2023 – 5 AZR 137/23 für Aufmerksamkeit gesorgt, welches sich (erneut – nach BAG, Urt. v. 8.9.2021) mit der Frage zu beschäftigen hatte, ob und wann der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert ist, wenn eine zeitliche Koinzidenz zwischen Kündigung, Arbeitsunfähigkeit und Ende des Arbeitsverhältnisses vorliegt.
Im Rahmen des Falles stritten die Parteien über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Der Arbeitnehmer reichte am 2.5.2022 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den 2. bis zum 6.5.2022 ein. Am 2.5. kündigte der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zum 31.5.2022. Die Kündigung ging dem Arbeitnehmer am 3.5. zu. Durch Folgebescheinigungen vom 6. und vom 20.5. wurde die fortbestehende Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers bis zum 31.5.2022 attestiert.
Im Rahmen der Entscheidungsgründe stellte das BAG zunächst klar, dass für das Vorliegen von begründeten Zweifel im Rahmen der zeitlichen Koinzidenz nicht entscheidend sei, von wem die Kündigung ausgehe und ob eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen eingereicht werden. D.h. Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wegen zeitlicher Koinzidenz können sowohl bei einer Eigenkündigung als auch bei einer Arbeitgeberkündigung entstehen. Das BAG erachtete jedoch nur den Beweiswert hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 6.5. und 20.5. und nicht den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 2.5. als erschüttert an. Denn hinsichtlich der Vorlage der ersten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gäbe es keine zeitliche Koinzidenz zwischen der Kündigung und der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, sodass tatsächlich Zweifel an dem Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht bestehen könnten. Denn der Kläger habe, bei Vorlage der ersten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung am 2.5., keine Kenntnis von der Kündigung gehabt, da diese ihm erst am 3.5. zuging. Hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 6.5. und 20.5. läge der Fall jedoch anders. Hier habe der Arbeitnehmer passgenau Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen eingereicht, die die Dauer der Kündigungsfrist umfassten. Erschwerend kam für das BAG der Umstand hinzu, dass der Arbeitnehmer am 1.6.2022, unmittelbar nach Ende des Arbeitsverhältnisses, eine neue Beschäftigung aufgenommen habe.
Die Entscheidung des BAG ist in der Art zu werten, dass jedenfalls dann tatsächliche Umstände, die den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern können, vorliegen, wenn der Arbeitnehmer, in Kenntnis einer Kündigung, passgenau Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen einreicht, die die Dauer der Kündigungsfrist umfassen. Ausreichende Zweifel liegen hingegen nicht vor, wenn eine passgenaue Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Unkenntnis einer Kündigung eingereicht wird.