Erfordernis der Zustimmung des Integrationsamtes
Nach § 178 SGB IX bedarf die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen oder eines gleichgestellten Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber zu ihrer Wirksamkeit der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts. Eine ohne die Zustimmung ausgesprochene Kündigung ist gemäß § 134 BGB i.V.m. § 168 SGB IX nichtig.
Schwerbehinderte Arbeitnehmer
Der Sonderkündigungsschutz gilt für alle schwerbehinderten Arbeitnehmer und Heimarbeiter. Voraussetzung ist, dass der zu kündigende Arbeitnehmer im Zeitpunkt des Kündigungszugangs objektiv schwerbehindert ist oder einem schwerbehinderten Arbeitnehmer gleichgestellt ist. Eine Schwerbehinderung, die den Kündigungsschutz auslöst, liegt gemäß § 2 Abs. 2 SGB IX bei einem Grad der Behinderung von zumindest 50 vor. Eine Gleichstellung setzt einen Grad der Behinderung von zumindest 30 und einen konstitutiv wirkenden Gleichstellungsbescheid der Agentur für Arbeit voraus, § 2 Abs. 3 SGB IX.
Weitere Voraussetzung für das Eingreifen des Sonderkündigungsschutzes ist, dass die Schwerbehinderung nachgewiesen wird. Nach § 173 Abs. 3 SGB IX findet der Sonderkündigungsschutz nämlich keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 152 Abs. 1 Satz 3 SGB IX eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte. Der Nachweis wird durch behördlichen Bescheid über die Anerkennung der Schwerbehinderung geführt. Eines solchen Nachweises bedarf es lediglich dann nicht, wenn die Schwerbehinderung offenkundig ist (BAG, Urt. v. 24.11.2005 – 2 AZR 514/04). Bei zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs gestellten aber noch nicht beschiedenen Anträgen auf Anerkennung der Schwerbehinderung oder Gleichstellung bedarf es der Zustimmung des Integrationsamts, wenn die Behörde dem Antrag rückwirkend stattgibt, der Arbeitnehmer den Antrag zumindest drei Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt und das Verfahren nicht durch mangelnde Mitwirkung verzögert hat (BAG, Urt. v. 29.11.2007 – 2 AZR 613/06).
Der Sonderkündigungsschutz für Schwerbehinderte greift unabhängig davon ein, ob der Arbeitgeber Kenntnis von der Schwerbehinderung hat oder nicht. Ist dem Arbeitgeber die Schwerbehinderung oder die Gleichstellung nicht bekannt, muss der Arbeitnehmer nach Zugang der Kündigung innerhalb einer angemessenen Frist den Arbeitgeber über seine Schwerbehinderung, die Gleichstellung oder den entsprechenden Antrag informieren. Andernfalls verwirkt das Recht, sich auf den Sonderkündigungsschutz zu berufen. Als angemessen wird in Anlehnung an § 4 Satz 1 KSchG eine Frist von 3 Wochen angesehen. Hinzugerechnet wird eine Zeitspanne von einigen Tagen, um den Zugang der Mitteilung an den Arbeitgeber zu bewirken (BAG, Urt. v. 22.9.2016 – 2 AZR 700/15). § 167 ZPO ist nicht anzuwenden. Es genügt daher nicht, wenn der Arbeitnehmer den Sonderkündigungsschutz nur in der Kündigungsschutzklage erwähnt.
Der Sonderkündigungsschutz der §§ 168 ff. SGB III ist gemäß § 173 SGB IX nicht anwendbar, wenn
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das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung ohne Unterbrechung noch nicht länger als sechs Monate besteht oder
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der schwerbehinderte Mensch auf Stellen im Sinne des § 156 Abs. 2 Nr. 2–5 SGB IX beschäftigt wird oder
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für Schwerbehinderte, deren Arbeitsverhältnis durch Kündigung beendet wird, sofern sie das 58. Lebensjahr vollendet haben und Anspruch auf eine Abfindung, Entschädigung oder ähnliche Leistung aufgrund eines Sozialplanes, wenn diese erst nach Ablauf der Frist dem Arbeitgeber zugestellt wird, haben oder
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Anspruch auf Knappschaftsausgleichsleistungen nach dem SGB VI oder Anpassungsgeld für entlassene Arbeitnehmer des Bergbaus haben, wenn der Arbeitgeber ihnen die Kündigungsabsicht rechtzeitig mitgeteilt hat und sie der beabsichtigten Kündigung bis zu deren Ausspruch nicht widersprechen.
Für die Berechnung der Wartezeit im Sinne des § 173 Abs. 1 SGB IX können die zu § 1 KSchG entwickelten Parameter herangezogen werden (vgl. dazu nur APS-Vossen, § 1 KSchG, Rn 30 ff.).
Der Europäische Gerichtshof hat jüngst in einer Entscheidung zu einem belgischen Sachverhalt ausgeführt, dass die Schwerbehinderung eines Arbeitnehmers auch während der Probezeit zu berücksichtigen sei (EuGH, Urt. v. 10.2.2022 – C-485/20). In dem Urteil heißt es u.a. wörtlich:
„Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“ im Sinne dieses Artikels impliziert, dass ein Arbeitnehmer – und zwar auch derjenige, der nach seiner Einstellung eine Probezeit absolviert –, der aufgrund seiner Behinderung für ungeeignet erklärt wurde, die wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle zu erfüllen, auf einer anderen Stelle einzusetzen ist, für die er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist, sofern der Arbeitgeber durch diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig belastet wird […]“
Diese Entscheidung ist nicht dahingehend in das deutsche SGB IX zu transponieren, dass das Zustimmungserfordernis des § 168 SGB IX auch auf Arbeitnehmer innerhalb der ersten sechs Monate ihrer Beschäftigungszeit zu erstrecken ist. Eine derartige Annahme verstieße gegen den ausdrücklichen Wortlaut des § 173 Abs. 1 Ziffer 1 SGB IX.
Ob Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 einen „Kündigungsschutz zweiter Klasse“ für Schwerbehinderte in der Probezeit schafft, ist ebenfalls fraglich. Art. 5 Satz 1 der Richtlinie 2000/78/EG hebt nämlich ausdrücklich hervor, dass die Richtlinie die Gleichbehandlung von schwerbehinderten mit nicht schwerbehinderten Arbeitnehmern absichern soll. Stellt man auf den Gleichbehandlungsgrundsatz ab, so ist im deutschen Recht zu konzedieren, dass auch nicht behinderte Arbeitnehmer in den ersten sechs Monaten keinen Kündigungsschutz genießen. Jedenfalls aber darf die Weiterbeschäftigung des in der Probezeit befindlichen Arbeitnehmers nicht dazu führen, dass der Arbeitgeber durch die Maßnahme (Angebot eines anderen Arbeitsplatzes) unverhältnismäßig belastet wird. Von einer derartigen unverhältnismäßigen Belastung wird man jedenfalls dann ausgehen müssen, wenn bei dem Arbeitgeber kein geeigneter freier Arbeitsplatz vorhanden ist. Ein Arbeitgeber ist nicht verpflichtet in der Probezeit einen zusätzlichen Schonarbeitsplatz zu schaffen. Darauf weist Benkert in seinem Beitrag NJW-Spezial 2022/146 zu Recht ausdrücklich hin. Letzteres gilt im Übrigen auch für schwerbehinderte Arbeitnehmer, die länger als sechs Monate beschäftigt sind (vgl. nur BVerwG, Urt. v. 2.6.1999 – 5 B 130.99).
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass Arbeitgeber bei Probezeitkündigungen von Schwerbehinderten derzeit gut beraten sind, ausdrücklich zu dokumentieren, dass kein anderer weiterer geeigneter Arbeitsplatz vorhanden ist. Die Arbeitgeber sollten zudem die Anzeigepflicht nach § 173 Abs. 4 SGB IX erfüllen. Die Versäumung der Anzeigefrist von vier Tagen führt allerdings nicht dazu, dass die Kündigung unwirksam ist (vgl. dazu nur zur Vorgängervorschrift BAG, Urt. v. 31.3.1980 – 7 AZR 314/78).
Das Verfahren vor dem Integrationsamt
Das Integrationsamt wird auf Antrag des Arbeitgebers tätig. Der Antrag ist schriftlich bei dem für den Sitz bzw. der Dienststelle zuständigen Integrationsamt zu stellen. Es empfiehlt sich, die Formulare der Integrationsämter zur Beschleunigung des Verfahrens zu nutzen.
Das Integrationsamt ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen und fällt seine Entscheidung, ob es dem Antrag des Arbeitgebers stattgibt oder nicht, nach pflichtgemäßem Ermessen. Hierbei wird es zunächst die Einschränkungen des Ermessens des § 172 SGB IX berücksichtigen. Liegt kein Fall des § 172 SGB IX vor, lässt sich das Integrationsamt vom Zweck des SGB IX, behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen, leiten (BVerwG, Urt. v. 2.7.1992 – 5 C 31/91).
Die Interessen des schwerbehinderten Arbeitnehmers sind im Rahmen der Interessenabwägung umso gewichtiger, je mehr der Kündigungsgrund mit der Behinderung im Zusammenhang steht (BVerwG, Urt. v. 19.10.1995 – 5 C 24/93). Stehe der Kündigungsgrund – so lautet es in dem Urteil – mit der Schwerbehinderung nicht im Zusammenhang, verlieren die Interessen des Schwerbehinderten an Gewicht.
Bei der Ermessensausübung des Integrationsamtes ist ferner zu berücksichtigen, dass der besondere Kündigungsschutz der §§ 168 ff. SGB IX neben dem allgemeinen Kündigungsschutz durch das Kündigungsschutzgesetz tritt. Im Ergebnis hat das Integrationsamt deshalb nicht zu prüfen, ob die Kündigung im Übrigen einer arbeitsgerichtlichen Inhaltskontrolle standhält (BVerwG, Urt. v. 19.10.1995 – 5 C 24/93). Allenfalls bei offenkundiger Unwirksamkeit der beabsichtigten Kündigung darf die Zustimmung verweigert werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.11.1999 – 5 C 23.99).
Bei einer personenbedingten Kündigung, die sich auf wiederholte Kurzerkrankungen oder eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers stützt, darf die Zustimmung im Ergebnis nur erteilt werden, wenn infolge von hohen Fehlzeiten in den vergangenen Jahren die Prognose gerechtfertigt ist, dass mit einer sinnvollen Arbeitsleistung des Arbeitnehmers nicht mehr gerechnet werden kann (vgl. OVG NRW, Urt. v. 27.2.1998 – 24 A 6870/95). Die Zustimmung des Integrationsamts zu einer krankheitsbedingten Kündigung begründet nicht die Vermutung, dass ein (unterbliebenes) betriebliches Eingliederungsmanagement die Kündigung nicht hätte verhindern können (BAG, Urt. v. 15.12.2022 – 2 AZR 162/22), vgl. dazu ausführlich die unten stehende Urteilsbesprechung.
Bei einer verhaltensbedingten Kündigung wird im Regelfall geprüft, ob und inwieweit die Pflichtverletzung auf der Behinderung beruht. Ist dies nicht der Fall, wird die Zustimmung im Regelfall zu erteilen sein (vgl. dazu ErfK-Rolfs, § 172 SGB IX Rn 9).
Im Falle einer betriebsbedingten Kündigung hat der behinderte Arbeitnehmer die unternehmerische Entscheidung hinzunehmen (OVG Minden, Urt. v. 27.5.2002 – 7 K 851/02). Das Integrationsamt hat gleichwohl zu prüfen, ob eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers, gegebenenfalls auf einem Schonarbeitsplatz möglich ist (vgl. ErfK-Rolfs, § 172 Rn 3).
Erklärungsfrist
Erteilt das Integrationsamt die Zustimmung zur Kündigung, kann der Arbeitgeber die Kündigung nur innerhalb eines Monats nach Zustellung des Bescheides aussprechen.
Besonderheiten bei der außerordentlichen Kündigung
Die Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung muss innerhalb von zwei Wochen ab Kenntnis der für die Kündigung maßgebenden Tatsachen beantragt werden, § 174 Abs. 2 SGB IX. Es gelten hierbei die gleichen Maßstäbe, die für die Wahrung der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB gelten. Das Integrationsamt muss seine Entscheidung innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrags treffen. Andernfalls gilt die Zustimmung als erteilt, § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX.
Nach § 174 Abs. 5 SGB IX kann der Arbeitgeber die Kündigung auch nach Ablauf der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB aussprechen, wenn dies unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung geschieht. An die Unverzüglichkeit werden strenge Anforderungen gestellt. Eine Untätigkeit von nur drei Tagen nach Vorliegen der Zustimmung wurde bereits als zu lang angesehen (LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 5.10.2005 – 10 TaBV 22/05). Gerade in den Fällen des Eintritts der Fiktion sollte deshalb unverzüglich gehandelt werden. Anderenfalls droht der Kündigungsgrund nach § 626 Abs. 2 bzw. § 174 Abs. 5 SGB IX zu verwirken.
Rechtsschutz gegen die Zustimmung bzw. Ablehnung
Gegen die Zustimmung bzw. Ablehnung der Zustimmung des Integrationsamts sind Widerspruch und Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsklage vor dem Verwaltungsgericht statthaft. Gegen die Kündigung selbst muss der Arbeitnehmer Klage vor dem Arbeitsgericht erheben. Liegt die Zustimmung des Integrationsamts im Zeitpunkt der Kündigung vor, ist für das arbeitsgerichtliche Verfahren zunächst einmal von deren Wirksamkeit auszugehen, auch wenn der Zustimmungsbescheid noch nicht bestandskräftig ist. Widerspruch und Anfechtungsklage haben keine aufschiebende Wirkung, § 171 Abs. 4 SGB IX. Erst wenn das Verwaltungsgericht der Anfechtungsklage endgültig stattgibt, steht fest, dass die Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamtes erfolgt ist. Das Arbeitsgericht kann den Rechtsstreit gemäß § 148 ZPO bis zum rechtskräftigen Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aussetzen. Es kann allerdings auch aufgrund des Beschleunigungsgebotes in Bestandsschutzangelegenheiten gemäß § 9 ArbGG sich gegen die Aussetzung entscheiden und die Kündigungsschutzklage „durchentscheiden“. Wird die Kündigungsschutzklage rechtskräftig abgewiesen, die Zustimmung des Integrationsamtes aber später im Verwaltungsrechtsweg aufgehoben, kann der Arbeitnehmer gegen das arbeitsgerichtliche Urteil eine Restitutionsklage in analoger Anwendung des § 580 Nr. 6 bzw. Nr. 7b ZPO erheben.