In den letzten zwei Jahren wurde die Arbeit aus dem “Homeoffice” salonfähig. Mandantengespräche, Gerichtsverhandlungen, Jobinterviews und Meetings wurden vom Bildschirm am heimischen Esstisch aus geführt. Diese Umgebung schien das Informelle quasi einzuladen und hat strenge Dresscodes – quasi über Nacht – gelockert.
Es gab die ganze Bandbreite: Einige Menschen behielten eine gewisse Arbeitsroutine bei. Sie standen früh auf, machten sich frisch und zogen sich so an, als würden sie ins Büro gehen. Das würde ihrem Tag Struktur verleihen, sagten sie. Dann gab es da die Witze über Anwälte, die im Video-Call zwar ein frisch gebügeltes Hemd trugen, untenrum aber nur Shorts. Und schließlich waren da noch jene, die im Homeoffice stets in derselben Jogginghose rumliefen. Erinnerungen an Karl Lagerfeld wurden wach, der überzeugt war: Wer Jogginghosen trägt, habe die Kontrolle über sein Leben verloren.
Einige Richter beschwerten sich schon über die lax gewordene Kleidermoral der Anwälte in Verhandlungen per Video-Call. Mal sähe man das ungemachte Ehebett im Hintergrund, mal sei der Anwalt ungekämmt im T-Shirt aufgetreten und dann war da noch eine Anwältin, die sich schlecht fühlte, den Termin aber nicht absagen wollte und das Gespräch von ihrer Couch aus führte. Unter der Wolldecke.
Wenn Chefs zwischendurch mal “im Büro vorbeischauten”, um die Post durchzusehen, war auch eher Polohemd als Oberhemd angesagt. Einerseits waren sie alle vom ständigen Homeoffice geprägt, andererseits war auch das Büro teils monatelang fast wie ausgestorben. Da war es dann irgendwie egal, oder…?
Casual ist nicht gleich casual
Und jetzt? Vor Corona gab es den “Casual Friday”. Gelten dessen Regeln jetzt täglich? Und wie werden sie de facto gelebt? Business casual, business comfort, weekend casual, smart casual, informal, … – um all die Begriffe und ungeschriebenen Codes rund um die Kleidungs-Etikette zu dechiffrieren, braucht man fast ein extra Webinar!
Eines ist jedenfalls offensichtlich: Wir befinden uns in einer Phase des ständigen Wandels. Kaum etwas ist noch so, wie es vor Corona war. Viele arbeiten wieder im Büro, einige weiterhin zuhause und dritte hybrid. Einen kompletten backlash dahingehend, dass die inzwischen gelockerte Dresscode-Policy in alter Form zurückkehrt, wird es nicht geben. Warum auch? Jetzt, wo man voneinander die Kücheneinrichtungen kennt und sich an durch’s Bild springende Katzen oder aufmerksamkeitsfordernde Kinder gewöhnt hat? Zu spät! Der Produktivität dürfte die gelockerte Kleidung jedenfalls nicht im Wege stehen, eher im Gegenteil.
Wie locker das zukünftig gehandhabt wird, hängt natürlich sehr vom vorherigen Dresscode, der Unternehmens- oder Kanzleikultur, der jeweiligen Situation und dem Mindset der Beteiligten ab. Dresscodes boten bislang eine gewisse Orientierung, die z.B. Berufseinsteigern jetzt fehlt. Zudem drückt angemessene Kleidung einen gewissen Respekt aus.
Der Anzug hat ausgedient
Doch der Respekt voreinander hat auch während der Pandemie nicht gelitten. Anzüge zu tragen, das mag in der Kanzleiwelt noch verbreitet sein, wird aber in einigen Branchen und von jüngeren Arbeitnehmern im Jahre 2022 eher mit Konservatismus gleichgesetzt. Vorbei ist die Zeit, wo man es nötig hatte, durch edlen Zwirn Respekt zu gewinnen. Hierarchien werden flacher und das Bild von Erfolg ändert sich. Während in den 80er Jahren ein Michael Douglas in Wall Street ohne Anzug noch undenkbar war, tragen die jungen Milliardäre in Silicon Valley oder San Francisco heutzutage lieber Hoodie und Sneakers.
Viele Angestellte lieben es, in bequemer Kleidung am häuslichen Schreibtisch arbeiten zu können. Verständlich. Wer hat nicht schon mal davon geträumt, im Schlafanzug Geld zu verdienen?
Ein Hauch von Freiheit umweht die Angestellten. Wieder ein Stück mehr Selbstbestimmung.
Der Anzug wurde in den Vorruhestand geschickt und die Krawatte endgültig beerdigt.
Die Motten freuen sich schon.