Zur nachträglichen Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Einstellung des Verfahrens, wenn dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger (nach neuem Recht) hätte bestellt werden müssen. (Leitsatz des Verfassers)
LG Bonn,Beschl.v.28.4.2020–1 Qs 25/20
LG Passau,Beschl.v.15.4.2020–1 Qs 38/20
I. Sachverhalt
In beiden Fällen haben sich die Beschuldigten in Haft befunden. In beiden Fällen haben die Beschuldigten beantragt, ihnen einen Pflichtverteidiger zu bestellen. In beiden Fällen sind die Verfahren gem. § 154 Abs. 1 StPO eingestellt worden, bevor über die Bestellungsanträge der Beschuldigten entschieden worden ist. Die AG haben die Bestellung der Pflichtverteidiger abgelehnt. Die sofortigen Beschwerden der Beschuldigten hatten Erfolg.
II. Entscheidung
Beide LG gehen davon aus, dass unverzüglich nach Antragstellung ein Pflichtverteidiger zu bestellen gewesen wäre (§ 141 Abs. 1 Satz 1 StPO). Ein Fall der notwendigen Verteidigung habe gem. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorgelegen, da sich die Beschuldigten in Strafhaft befunden hätten. Ihre Bestellungsanträge seien rechtzeitig vor der Einstellung der Verfahren gem. § 154 Abs. 1 StPO gestellt worden.
Die Bestellung eines Pflichtverteidigers kann in dieser Konstellation auch rückwirkend erfolgen. Dabei beziehen sich beide LG auf die Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung durch das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens v. 10.12.2019“ (BGBl I, S. 2121). Eine rückwirkende Beiordnung des Pflichtverteidigers sei auf Grundlage der seit dem 13.12.2019 geltenden Rechtslage zumindest dann zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt wurde, bereits zuvor von Amts wegen eine Bestellung hätte erfolgen müssen und trotzdem vor der Verfahrenseinstellung die Bestellung eines Pflichtverteidigers unterblieb. Zwar sei eine rückwirkende Beiordnung nach auf der früheren Rechtslage beruhender höchstrichterlicher und weit überwiegender obergerichtlicher Rechtsprechung auch in diesen Fällen unzulässig und unwirksam. Jedoch sei jedenfalls in der vorliegenden Konstellation die rückwirkende Beiordnung als zulässig anzusehen. Grundsätzlich folge aus der Notwendigkeit der Verteidigung (§ 140 StPO) nicht unmittelbar die Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung; den Zeitpunkt der Bestellung regeln §§ 141, 141a StPO. Das eigene Antragsrecht des Beschuldigten nach § 141 Abs. 1 StPO diene dazu, in zeitlicher Hinsicht die Phase des Strafverfahrens abzudecken, in der § 140 StPO die Verteidigung bereits für notwendig erachtet, aber noch keine Pflicht zur Beiordnung eines Verteidigers von Amts wegen bestehe (dazuBöß, NStZ 2020, 185, 188). Wenn die (engen) Voraussetzungen des § 141 Abs. 2 StPO vorliegen, bedürfe es keiner Mitwirkungshandlung des Beschuldigten. In den Sonderkonstellationen des § 141 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 StPO, die dadurch geprägt seien, dass der Beschuldigte in seiner Verteidigungsfähigkeit in besonderem Maße eingeschränkt sei, bedürfe dieser bereits im Ermittlungsverfahren eines erhöhten verfahrensrechtlichen Schutzes. Ein Ausschluss der rückwirkenden Bestellung sei in den Fällen der Verletzung dieser Schutzposition nicht sachgerecht, zumal die rechtzeitig von Amts wegen zu treffende Entscheidung über die Beiordnung durch das zuständige Gericht allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben sei.
III. Bedeutung für die Praxis
1. Die Entscheidungen sind zutreffend (vgl. auch noch AG Amberg, Beschl. v. 9.4.2020 – 6 Gs 591/20 ; LG Detmold/LG Nürnberg-Fürth StRR 6/2020, 16). Das LG Passau weist zudem darauf hin, dass eine Beiordnung des Pflichtverteidigers im Übrigen auch nicht nur wegen des Vorliegens der Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO hätte erfolgen müssen, sondern auch nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO. Im vom LG Passau entschiedenen Fall war der Beschuldigte in der JVA polizeilich vernommen worden. Es ist zu hoffen, dass sich die derzeit in der Rechtsprechung für die Beschuldigten erkennbare positive Tendenz fortsetzt.
2. Es gibt aber auch LG, die das immer noch anders sehen (vgl. z.B. LG Essen, Beschl. v. 5.3.2020 – 57 Qs 39/20). Allerdings: Es ist nicht nachvollziehbar, wenn an den alten Zöpfen festgehalten wird, ohne die gesetzlichen Änderungen in den §§ 140 ff. StPO überhaupt anzusprechen (so das LG Essen). Mit solchen Entscheidungen kann man wenig anfangen. Sie führen zudem zu der Frage, ob man beim entscheidenden Gericht die Neuregelung überhaupt registriert hat. Wenn man das zugunsten des Gerichts unterstellt, erschließt sich nicht, warum man sich dann nicht mit der Neuregelung auseinandersetzt.
RADetlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg