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Corona: Verlassen der Wohnung ohne triftigen Grund

1. Von der bußgeldbewehrten Ausgangsbeschränkung nach § 4 Abs. 2 der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung – BayIfSMV vom 27.3.2020 (BayMBl 2020 Nr. 158) in der Fassung der Verordnung zur Änderung der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 31.3.2020 (BayMBl 2020 Nr. 162) war nur das Verlassen der Wohnung ohne triftigen Grund erfasst.

2. Als „Versorgungsgang für Gegenstände des täglichen Bedarfs“, der nach § 4 Abs. 3 Nr. 3 BayIfSMV einen triftigen Grund für das Verlassen der Wohnung darstellte, ist allein der „Gang“ zum Geschäft und zurück zur Wohnung anzuerkennen, nicht aber, wenn darüber hinaus bereits beim Verlassen der Wohnung weitere Betätigungen beabsichtigt waren, die ihrerseits keinen triftigen Grund darstellten, nicht in zwingendem Zusammenhang mit dem Versorgungsgang standen und den Aufenthalt außerhalb der Wohnung über das für die Beschaffung erforderliche Maß hinaus ausdehnten. (Leitsätze des Gerichts)

BayObLG, Beschl. v. 24.6.2021 – 202 ObOWi 660/21

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen von dem gegen ihn mit Bußgeldbescheid erhobenen Tatvorwurf, vorsätzlich gegen die vorläufige Ausgangsbeschränkung nach § 5 Nr. 9 i.V.m. § 4 Abs. 2 BayIfSMV vom 27.3.2020 (BayMBl 2020 Nr. 158 vom 27.3.2020) in der ab 1.4.2020 gültigen Fassung (BayMBl 2020 Nr. 162 vom 31.3.2020) verstoßen zu haben, aus rechtlichen Gründen freigesprochen. Ihm lag zur Last, seine Wohnung am 13.4.2020 ohne triftigen Grund verlassen, sich zusammen mit zwei anderen Personen auf einem Parkplatz eines Schnellimbissrestaurants aufgehalten und dabei einen Mindestabstand von 1,5 m nicht eingehalten zu haben. Die Rechtsbeschwerde der StA war erfolgreich.

II. Entscheidung

Bei der Beurteilung, ob der Betroffene durch sein Verhalten gegen die zum Tatzeitpunkt geltende Ausgangsbeschränkung verstoßen hat, könne nicht außer Betracht gelassen werden, ob der Betroffene über das beabsichtigte Einkaufen von Speisen hinaus mit dem Weggang aus der Wohnung noch weitere Ziele verfolgte. Nach § 4 Abs. 2 BayIfSMV in der zur Tatzeit geltenden Fassung war das Verlassen der eigenen Wohnung nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt. Gem. § 5 Nr. 9 BayIfSMV war eine vorsätzliche oder fahrlässige Zuwiderhandlung bußgeldbewehrt i.S.d. § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG. Aufgrund des Wortlauts der Normen komme es allein darauf an, ob im Zeitpunkt des Verlassens der Wohnung triftige Gründe vorlagen oder nicht. Hätte sich der Betroffene deshalb mit triftigem Grund aus der Wohnung entfernt, wäre ein nachträglicher Motivwechsel nicht von der Bußgeldvorschrift erfasst. Die gegenteilige Auffassung der Rechtsbeschwerde, wonach „nicht nur das bloße Verlassen der Wohnung sanktioniert ist, sondern jeder Aufenthalt im öffentlichen Raum ohne triftigen Grund“, sei mit dem Wortlaut der Regelungen zur Ausgangsbeschränkung nicht in Einklang zu bringen. Dem dort zum Ausdruck kommenden Koinzidenzprinzip in Bezug auf das Verlassen der Wohnung einerseits und das Vorliegen triftiger Gründe andererseits trage jene „Auslegung“ der eindeutigen und damit schon deswegen keiner Interpretation zugänglichen Norm nicht Rechnung. Eine zwar auch im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht prinzipiell zulässige und unter Umständen sogar gebotene Auslegung finde indes wegen des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG, § 3 OWiG) ihre Grenze im möglichen Wortsinn der Vorschriften, die bei einer Gleichsetzung von Verweilen im öffentlichen Raum mit dem Verlassen einer Wohnung ohne triftigen Grund zweifelsfrei überschritten wäre. Dies würde eine unzulässige Analogie in Form einer teleologischen Extension zulasten des Betroffenen darstellen. Dass aufgrund der Beachtung des Wortsinns gegebenenfalls Ahndungslücken entstehen, müsse demgegenüber hingenommen werden. Die Bußgeldnorm umschreibe zudem ein aktives Tun, nämlich das Verlassen der Wohnung, während das bloße Verweilen außerhalb der Wohnung de jure lediglich als Unterlassen gewertet werden kann, was gem. § 8 OWiG nur dann relevant wäre, wenn eine Garantenpflicht bestünde. Für eine solche Rechtspflicht zum Handeln bestünden aber im Falle einer rechtmäßigen, weil mit triftigem Grund erfolgten Entfernung aus der Wohnung keine Anhaltspunkte. Für eine Garantenposition aus Ingerenz fehle es an einem pflichtwidrigen Vorverhalten.

Die Annahme des AG, die mit dem Verlassen der Wohnung verbundene Absicht, Nahrungsmittel zu beschaffen, stelle in jedem Fall einen triftigen Grund dar und es komme deshalb nicht darauf an, ob der Betroffene daneben weitere Zwecke verfolgt habe, treffe indessen nicht zu. Das AG verkenne insoweit Bedeutung und Reichweite des Merkmals des „triftigen Grunds“. Die Bestimmung des § 4 Abs. 3 BayIfSMV habe eine exemplarische Aufzählung der anerkennenswerten Gründe enthalten, wobei in § 4 Abs. 3 Nr. 3 BayIfSMV „Versorgungsgänge für Gegenstände des täglichen Bedarfs“ genannt sind. Hierzu gehöre die Besorgung von Nahrungsmitteln. Weil die Bußgeldbestimmung des § 5 Nr. 9 BayIfSMV nur das Verlassen „ohne triftigen Grund“ erfasst, schlussfolgere das AG im Ergebnis zu Unrecht, dass weitere Motive ohne Bedeutung seien. Es spalte ein einheitliches Geschehen in rechtlich anerkennenswerte Beweggründe einerseits und sonstige Motive des Normadressaten andererseits auf, ohne eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, und verstelle sich so den Blick auf eine am Wortlaut des § 4 Abs. 3 Nr. 3 BayIfSMV, der Normsystematik und vor allem an der ratio legis orientierte Auslegung. Schon die die exemplarische Aufzählung der vom Normgeber insbesondere anerkannten triftigen Gründe in § 4 Abs. 3 BayIfSMV deute auf ein eher enges Verständnis hin. Bei einer Gesamtbetrachtung der dort umschriebenen Konstellationen zeige sich, dass es sich jeweils um wichtige Angelegenheiten handelt, die in aller Regel keinen Aufschub dulden und denen aus der Sicht des Normgebers Vorrang vor einer etwaigen Gefährdung durch eine potenzielle Verbreitung des Corona-Virus zukommen sollte. Dem Normgeber sei es darauf angekommen, das Verlassen der Wohnung eben nur zu dem Zweck der Beschaffung entsprechender Güter zu gestatten. Dies gebiete insbesondere der mit den Infektionsschutzmaßnahmen verbundene Zweck, Kontakte, welche die Gefahr der Ausbreitung des Corona-Virus begünstigen, weitestgehend zu untersagen und diese nur dann zuzulassen, wenn das beabsichtigte Verlassen der Wohnung insgesamt von triftigen Gründen getragen war.

III. Bedeutung für die Praxis

Der Beschluss ist zu beiden Punkten überzeugend. Es liegt auf der Hand, dass das Verhindern des Verweilens in der Öffentlichkeit zwar Zweck der Norm, Tathandlung der Bußgeldvorschrift aber das Verlassen der Wohnung ist. Nur der Zeitpunkt dieses Verhaltens ist maßgeblicher Aufhänger für die Prüfung des Vorliegens eines triftigen Grundes. Diese Ausrichtung auf die Vorstellung des Betroffenen zum Zweck des Verlassens eröffnet zwar die Möglichkeit von Schutzbehauptungen und Ahndnungslücken, die aber hinzunehmen sind. Zudem kann für die Feststellung der Motivation des Betroffenen beim Verlassen der Wohnung auf späteres Verhalten (hier: Besuch eines Schnellimbisses mit anderen Personen, keine Durchführung von Einkäufen) als Indiz zurückgegriffen werden. Der Normzweck gebietet es zudem, wie das BayObLG ausführt, dass ein Motivbündel aus triftigen und nicht triftigen Gründen der Ahndung nicht entgegensteht (a.A. die Vorinstanz AG Straubing COVuR 2021, 250). Da es sich um ein Zeitgesetz gem. § 4 Abs. 4 S. 1 OWiG handelt, bleibt die Ahndung auch nach Aufhebung der Ausgangsbeschränkung möglich (OLG Hamburg COVuR 2021, 244; Rechtsprechungsübersicht zur Corona-Pandemie im Straf- und Bußgeldrecht bei Deutscher, StRR 6/2021, 5).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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