Beitrag

Verwertbarkeit der durch Auswertung von EncroChat gewonnenen Erkenntnisse

1. Die Erkenntnisse aus der Auswertung von EncroChat rechtfertigen die Annahme eines dringenden Tatverdachts.

2. Der Schutz der Privatsphäre im Rahmen von Intimgesprächen gegenüber konspirativen Gesprächsinhalten ist bei der Auswertung des Chats zu beachten.

3. Ein bedeutender Verfahrensverstoß kann in der unterlassenen Unterrichtung nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41/EU liegen.

4. Es ist zwischen dem Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen Strafverfolgung und dem Interesse des Betroffenen an Einhaltung von Verfahrensvorschriften abzuwägen. (Leitsätze des Verfassers)

OLG Schleswig, Beschl. v. 29.4.2021 – 2 Ws 47/21

I. Sachverhalt

Der Beschuldigte ist wegen eines Verbrechenstatbestandes in Untersuchungshaft genommen worden. Der dringende Tatverdacht ergibt sich ausschließlich aus der Auswertung der Kommunikationsdaten des EncroChat-Mobiltelefons. Bei dem genutzten Endgerät handelt es sich um ein sogenanntes Krypto-Handy, welches aufgrund einer besonderen Verschlüsselungssoftware als abhörsicher galt, einen hohen Anschaffungspreis hatte und dessen Nutzungsgebühren sich auf bis mehrere tausend EUR jährlich beliefen. Der Erwerb war ausschließlich von anonym agierenden „Resellern“ – nicht aber im Direkterwerb – möglich. Zudem waren weder Verantwortliche noch ein Firmensitz des Anbieters EncroChat bekannt, weshalb Strafverfolgungsbehörden länderübergreifend davon ausgingen und ausgehen, dass diese Telefone überwiegend von Beteiligten krimineller Handlungen – so auch zur kommunikationssicheren Abwicklung von Drogengeschäften – verwendet wurden.

Der Angeklagte hat gegen den Haftbefehl Haftbeschwerde eingelegt, die zurückgewiesen worden ist. Die Kammer nimmt sowohl den dringenden Tatverdacht als auch einen Haftgrund im Sinne von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO an. Dabei ist sie davon ausgegangen, dass dem dringenden Tatverdacht ein von der Verteidigung umfassend begründetes Beweisverwertungsverbot nicht entgegenstehe. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit erneut erhobener Beschwerde, weil er der Auffassung ist, die in Frankreich gewonnenen und nach Deutschland übermittelten Erkenntnisse seien in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren nicht verwertbar. Das OLG hat die Beschwerde zurückgewiesen. Insoweit – insbesondere zu den Inhalten der bisher ergangenen ablehnenden Beschlüsse der OLG – wird auf den Aufsatz von Stehr/Rakow (StRR 4/2021, 5 ff.) verwiesen, da die Argumente im hiesigen Beschluss aus den vorherigen Entscheidungen, insbesondere aus der des Hanseatischen OLG, übernommen und im Aufsatz in StRR 4/2021, 5 ff. bereits aufgearbeitet wurden. Der Beschluss des OLG Schleswig enthält jedoch neben dem bereits Bekannten zwei bemerkenswerte neue Aussagen.

II. Entscheidung

Ein Beweisverwertungsverbot folgt nach Auffassung des OLG zunächst nicht aus einem etwaigen Beweiserhebungsverbot der französischen Strafverfolgungsbehörden. Insoweit sei schon überhaupt nicht ersichtlich, dass der technisch mögliche Zugriff auf den EncroChat-Server in dem gegen dessen Betreiber gerichteten Verfahren in rechtlicher Hinsicht französischem Strafverfahrensrecht widersprach. Vielmehr stünde nach Aktenlage fest, dass die dortigen Maßnahmen in grundsätzlich rechtsstaatlicher Weise – insbesondere unter wiederholter, dem Fortgang der Ermittlungen Rechnung tragender Beteiligung einer Ermittlungsrichterin – angeordnet und überprüft worden sind.

In einem Europa der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts seien bei der justiziellen Zusammenarbeit zweifelsohne auch Regeln einzuhalten, die sich aus den Unionsakten ergeben, namentlich der erwähnten Richtlinie 2014/41/EU, dem erwähnten Rahmenbeschluss 2006/960/JI, aber auch den Kerngewährleistungen des Rechtsstaatsprinzips und des – auch europäischen – Grundrechtskatalogs. Auch insoweit sieht der Senat die zu beachtenden Anforderungen als im Ergebnis gewahrt an:

Insoweit war gerade vor dem Aspekt des Schutzes der Privatsphäre auch zu beachten, auf welche Inhalte die Daten über die Kommunikation mittels der Krypto-Telefone sich wirklich bezogen. Wichtig und richtig war es daher festzustellen, dass – wie das Landeskriminalamt in seinem Bericht vom 21.10.2020 mitgeteilt hat – „es in den Chats nur um Deliktisches“ gegangen sei – insbesondere um Drogengeschäfte – und „private Dinge so gut wie nicht besprochen“ worden seien. Wäre es anders gewesen, hätte ggf. der Datentransfer beendet werden müssen.

Weiter fern liegt auch die Annahme eines dahin gerichteten „Befugnis-Shoppings“, der Ermittlungsweg über französische Behörden sei bewusst gewählt worden, um die möglicherweise rigideren Vorschriften des deutschen Strafverfahrensrechts umgehen zu können. Zwar trifft es zu, dass im Falle etwa einer nach Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41/EU möglichen Überwachung des Telekommunikationsverkehrs mit technischer Hilfe eines anderen Mitgliedsstaates gemäß Art. 6 Abs. 1 lit b) die strengen Voraussetzungen der §§ 100a f. StPO zu beachten gewesen wären. Jedoch liegt ein solcher Fall nicht vor, weil sich die französischen Ermittlungen zunächst gegen die mutmaßlich in Frankreich ansässigen Betreiber der Plattform EncroChat richteten, die Ermittlungen also dort aus tatsächlichen und nicht nur aus taktischen Gründen ihren Ursprung hatten. Ein kollusives Zusammenwirken deutscher und französischer Behörden ist damit nicht zu erkennen.

Somit verbleibt allein, dass entgegen Art. 31 Abs. 1 lit b) der Richtlinie 2014/41/EU Frankreich als überwachender Mitgliedstaat die zuständigen Behörden in Deutschland nicht förmlich von der Überwachung unterrichtet hatte, nachdem die französischen Behörden Kenntnis vom Aufenthalt von Zielpersonen in Deutschland erhalten hatten. Dies betrifft zwar nicht den Beginn der Ermittlungen, da – wie erwähnt – Zielpersonen zunächst die Betreiber von EncroChat selbst waren. Je mehr aber die Nutzer in den Fokus rückten, hätte sich eine Unterrichtung angeboten, um eine Überprüfung nach den §§ 91b Abs. 1 Nr. 1 bzw. 59 Abs. 3 IRG mit § 100a ff. StPO zu ermöglichen (ebenso OLG Bremen, Beschl. v. 18.12.2020 – 1 Ws 166/20; OLG Hamburg, Beschl. v. 29.1.2021 – 1 Ws 2/21). Allerdings sieht das europäische Recht für einen derartigen Fall schon kein Verwertungsverbot vor. Insbesondere aber haben die deutschen Behörden die Daten verwendet, was – aus der Perspektive des europäischen Rechts – einer Heilung des europarechtlichen Verfahrensverstoßes gleichkommt.

Mit dem Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG Hamburg a.a.O.) ist der Senat vielmehr der Auffassung, dass auch Zufallsfunde verwendet werden dürfen, wenn sie – was insbesondere die Deliktsschwere des Tatverdachts anbelangt – die Anordnung entsprechender Maßnahmen erlauben „könnten“. Hierfür streitet nicht nur – wie gezeigt – der Normwortlaut, sondern auch der in § 108 Abs. 1 S. 2 StPO zum Ausdruck kommende Grundgedanke der Berücksichtigungsfähigkeit von Zufallsfunden und die Notwendigkeit eines grundrechtskonformen Ausgleichs zwischen einer effektiven Strafrechtspflege einerseits und dem Schutz des Einzelnen vor rechtsstaatlich nicht mehr tolerierbaren Grundrechtseingriffen andererseits.

Sinn und Zweck des § 100e Abs. 6 StPO ist es nämlich nicht, eine Verwertung solcher über den grenzübergreifenden Datenaustausch gewonnener Zufallsfunde generell zu verhindern, wohl aber, sie im Sinne einer Abwehr einer uferlosen Weiterverwertung zu beschränken. Eine andere Betrachtungsweise liefe einer effektiven Strafrechtspflege zuwider, die nur dann gewährleistet ist, wenn Straftaten grundsätzlich auch grenzüberschreitend verfolgt werden können. Ein rechtsstaatswidriger Missbrauch wird durch die Regelungen des IRG, die europarechtlichen Vorschriften und Abkommen und das förmlich ausgestaltete Rechtshilfeverfahren verhindert, deren auf eine gemeinsame Strafverfolgung und wechselseitige Unterstützung der Beitrittsstaaten ausgerichtete Regelungen auch die Beachtung der Individualrechte gewährleisten. Diese zwischenstaatlichen Vereinbarungen liefen aber ins Leere, würde ein Staat allein auf Zufallsfunde innerhalb seiner eigenen Strafverfahren beschränkt werden.

Ebenso berührt es die Anwendung von § 100e Abs. 6 StPO nicht, dass nach derzeitiger Sachlage nicht genau feststeht, mit welchen technischen Maßnahmen die französischen Behörden genau gearbeitet haben, ob also Telekommunikationsüberwachungen nach § 100a StPO, eine Online-Durchsuchung nach § 100b StPO, eine Kombination beider Maßnahmen oder eine Maßnahme eigener Art vorgenommen worden ist. Denn der Grundrechtsschutz wird dadurch am besten gewahrt, wenn die Regelungen für den potentiell intensivsten Eingriff angewandt werden, dies ist die in § 100e Abs. 6 StPO gerade auch erwähnte Online-Überwachung.

Die Voraussetzungen des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO seien – so das OLG – auch erfüllt. Zunächst liegt der Verwendung der Daten der Verdacht eines unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf Fällen gemäß §§ 29a Abs. 1 Nr. 2, 53 BtMG zugrunde. Es handelt sich dabei um Katalogtaten nach § 100b Abs. 2 Nr. 4 lit b) StPO.

Auch von einer hinreichend konkreten Verdachtslage ist auszugehen. Zwar bestimmen sich die Anforderungen insoweit insbesondere nach § 100b Abs. 1 Nr. 1 StPO, welcher Vorschrift zufolge nur „bestimmte Tatsachen“ den Verdacht der Täterschaft oder Teilnahme an einer in Abs. 2 angeführten Katalogtat begründen können. Dafür notwendig, aber auch ausreichend ist ein „qualifizierter Tatverdacht“, der bereits ein gewisses Maß an Konkretisierung erreicht haben muss und nicht nur unerheblich sein darf (Gercke, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2019, § 100b m.w.N.). Vage Anhaltspunkte oder gar bloße Vermutungen reichen nicht (BVerfG NJW 2007, 2752 f.; BGH StV 2017, 434; Kinzig, StV 2004, 663). Diese Anforderungen seien spätestens durch die aus dem Datenbestand ausgelesenen Textnachrichten gewahrt. Dass diese erst durch die Durchsuchungsmaßnahmen gewonnen wurden, ändere hieran nichts. Denn im Rahmen einer Anwendung des § 100e Abs. 6 StPO geht es allein um die Verwendung anderweitig gewonnener Erkenntnisse, so dass es auf eine hinreichende Konkretisierung zu diesem und nicht zu einem früheren Zeitpunkt ankommt. Weiter wurde die Subsidiaritätsklausel der § 100b Abs. 1 Nr. 3 StPO beachtet. Die Erforschung des Sachverhaltes war erkennbar nur durch die gewählte Art der Durchsuchung möglich. Schließlich wäre eine Maßnahme gemäß § 100b Abs. 1 StPO auch nicht unverhältnismäßig gewesen. Hierbei ist nicht auf die Gesamtmaßnahme, also die Überwachung sämtlicher EncroChat-Mobiltelefone, abzustellen. Vielmehr kommt es allein darauf an, ob unter Berücksichtigung der gegebenen Verdachtslage eine Einzelmaßnahme gegen den jeweiligen Nutzer möglich ist.

Soweit über die Erfüllung der Voraussetzungen des § 100e Abs. 6 StPO hinaus noch Verwertungsverbote zu diskutieren wären, liegen diese – wie bereits gezeigt worden ist – schon der Sache nach weit überwiegend nicht vor. Einzig in der unterlassenen Unterrichtung nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41/EU könnte ein auch für das nationale Recht bedeutsamer Verfahrensverstoß liegen. Insoweit maßgeblich ist aber eine Abwägung zwischen dem Interesse eines Betroffenen an der Einhaltung von Verfahrensvorschriften und dem Interesse der Allgemeinheit an der wirksamen Strafverfolgung der dem Angeklagten vorgeworfenen Delikte (vgl. BGH, Urt. v. 17.2. 2016 – 2 StR 25/15, StRR 6/2016, 11). Angesichts des Vorwurfs gravierender Betäubungsmitteldelikte scheidet aber auch nach Auffassung des Senats die Annahme eines Verwertungsverbots aus.

III. Bedeutung für die Praxis

Alles wie immer: Ein OLG hält zum anderen und sieht naturgemäß keine Verstöße hinsichtlich der Beschaffung der EncroChat-Verläufe. Allerdings setzt sich nun zum ersten Mal ein OLG auch mit Verfahrensverstößen im Sinne der Beschuldigten auseinander. Das ist erfreulich, hörte man doch bisher nur Ablehnung, gar Verständnislosigkeit über die von der Verteidigung behaupteten Verfahrensfehler, die zu einer Nichtverwertbarkeit führen. Auch wenn nicht unerwartet die geöffnete Lücke gleich wieder mit der Verhältnismäßigkeit und dem Glauben an eine effektive Strafverfolgung geschlossen wird, so scheint doch langsam der stete Tropfen der Verteidigung dazu zu führen, dass die Verwertung nun nicht mehr völlig unkritisch gesehen wird. Vielleicht bedeutet daher der Beschluss des OLG eine erste Kerbe, die geschlagen wurde. Ein leichter Hoffnungsschimmer für die Verteidigung, dass sie auf dem richtigen Weg ist.

Rechtsanwalt/FAStR Harald Stehr, Göppingen

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