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Kritik an Soll-Vorschrift zur europaweiten Fahndung

Kritik an Soll-Vorschrift zur europaweiten Fahndung

Im Rahmen der derzeitigen Bestrebungen des Bundesjustizministeriums (BMJV) zur weiteren Reform des Strafprozesses ist der Vorschlag aufgekommen, bei einer Fahndung immer auch einen Europäischen Haftbefehl zu beantragen, sobald dessen Voraussetzungen vorliegen. Begründet wird der Vorschlag insb. damit, dass derzeit nur knapp 4 % der nationalen Ausschreibungen zur Festnahme auch schengenweit ausgeschrieben würden.

Eine zunächst vom Ministerium in Erwägung gezogene Änderung von Nr. 41 Abs. 2 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) wurde zwischenzeitlich wieder verworfen. Sie sei nicht ebenso effektiv wie eine gesetzliche Ausgestaltung, hieß es. Stattdessen wird jetzt vorgeschlagen, § 131 Abs. 1 StPO um den folgenden Satz oder eine ähnliche Formulierung zu ergänzen: „Liegen die Voraussetzungen eines Europäischen Haftbefehls vor, soll dieser erlassen und gleichzeitig mit Einleitung der nationalen Fahndung zur Festnahme einer Person auch in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und den Schengen-assoziierten Staaten gefahndet werden, es sei denn, eine entsprechende Fahndung ist unverhältnismäßig.“

Gegen dieses Vorhaben hat sich bereits vehement der Deutsche Anwaltverein (DAV) ausgesprochen. Er bringt mehrere Gründe gegen eine solche Soll-Vorschrift zu einer europaweiten Fahndung vor: Zum ersten fehle es schon an einer praktischen Notwendigkeit für eine derartige Regelung. Kein anderes europäisches Land stelle so viele Europäische Haftbefehle aus wie Deutschland. Nach einer Erhebung der EU-Kommission aus 2018 habe Deutschland mit 3783 mehr Europäische Haftbefehle als alle anderen EU-Mitgliedstaaten ausgestellt (mit großem Abstand folgt von Polen mit 2394 EU-Haftbefehlen). Zum zweiten gehe der Gesetzesentwurf von einer falschen Prämisse aus, wenn er den Europäischen Haftbefehl als bloßes Fahndungsinstrument einordne und damit bei § 131 StPO verorte. Wie spätestens mit der Rechtsprechung des EuGH aus dem Jahr 2019 deutlich geworden sei, sei der Haftbefehl mehr als nur eine Fahndungsmaßnahme; er sei zugleich schon selbst ein Ersuchen um Fahndung, Festnahme und Überstellung des Verfolgten und impliziert damit (auch) eine Entscheidung über die Freiheitsentziehung des Betroffenen, die weit über die mit einem nationalen Haftbefehl verbundene Freiheitsbeschränkung hinausgehe. Gerade deshalb fordere der EuGH eine eigene richterliche Entscheidung über diese zweite Freiheitsentziehung.

Eine solche Freiheitsentziehung könne im Vollstreckungsstaat von erheblicher Dauer (bis zu 120 Tage) sein. Hierzu gesellten sich erhebliche Rechtsschutzdefizite im Vollstreckungsverfahren. Zum einen seien die Gerichte des Vollstreckungsstaats wegen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung an einer inhaltlichen Überprüfung des Haftbefehls weitgehend gehindert. Zum anderen führe jede Inanspruchnahme von Rechtsmitteln im Vollstreckungsstaat im Zweifelsfall zu einer Verlängerung der Auslieferungshaft. Nicht zu unterschätzen seien schließlich die weiteren erheblichen praktischen Rechtsbeschränkungen, denen der Verfolgte während der Überstellung, nämlich vom Vollstreckungsstaat in den Ausstellungsstaat, oftmals für mehrere Tage oder in Einzelfällen gar Wochen ausgesetzt sei, und während derer praktisch kein Zugang zum Rechtsbeistand bestehe. Von einer „unverzüglichen“ Vorführung zum Richter könne in diesen Fällen keine Rede sein.

Nicht zuletzt sei die geplante Soll-Regelung auch unverhältnismäßig, so der DAV. Der Mehraufwand für alle beteiligten Behörden in Fällen, in denen sich der Verfolgte aller Voraussicht nach evident nicht im (europäischen oder Schengen-)Ausland, sondern in der Bundesrepublik befinde, sei offenkundig. Daneben werde mit der Formulierung, wie sie jetzt vorgeschlagen worden sei („es sei denn, eine entsprechende Fahndung ist unverhältnismäßig“), das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip, welches als Grundmaxime allen strafprozessualen Maßnahmen innewohne, zu einer Ausnahme degradiert.

Der DAV lehnt die vorgeschlagene Regelung daher kategorisch ab. Stattdessen fordert er – wie auch schon in der Literatur mehrfach vorgeschlagen – die Schaffung einer klaren gesetzlichen Grundlage für eine richterliche Ausstellung des Europäischen Haftbefehls in Deutschland. Statt die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft bezüglich Entscheidungen nach dem Achten bis Elften und Dreizehnten Teil des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) abzuschaffen (vgl. dazu zuletzt ZAP 5/2021, S. 216 f.), bedürfe es einer Rechtsgrundlage im IRG, aus der rechtssicher hervorgehe, welches Gericht in welchen Fällen für die Ausstellung von Europäischen Haftbefehlen zuständig sei.

[Quelle: DAV]

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