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Advent, Advent, die Akte brennt!

Stefan kam schon gegen 7 Uhr ins Büro. Er hatte zu kurz und definitiv zu schlecht geschlafen, musste aber dringend noch einen wichtigen Schriftsatz fertigstellen. Neben dem Fristablauf und einem Vorstellungsgespräch mit dem neuen Referendar stand auch noch die Kanzlei-Weihnachtsfeier auf dem Programm – besinnliche Vorweihnachtszeit.

Gegen 10 Uhr goß er sich die dritte Tasse seines extra starken Kaffees ein. Seine Wunderdroge für stressige Tage. Er griff auch immer öfter zu dem bunten Teller, den seine ReFa Johanna so verlockend auf seinem Schreibtisch arrangiert hatte: Mandarinen, Paranüsse, Marzipan, feine Schokolade und Spekulatius. Gewürzspekulatius. Besonders die Kekse hatten es ihm angetan und er redete sich ein, der Zucker würde sein Gehirn auf Trab halten.

Gegen 13.45 Uhr schaute Johanna zur Tür herein:

“Gleich ist das Gespräch mit dem neuen Referendar. Denken Sie dran?”

“Ja, danke!” rief Stefan kauend und schnipste dabei ein Stückchen Keks vom Papier. Er musste wirklich aufpassen, nicht die Unterlagen vollzukrümeln.

Das Vorstellungsgespräch mit Thomas, dem neuen Referendar in spe, verlief so nett, dass Stefan ihn spontan für den Abend zur Kanzlei-Weihnachtsfeier einlud. Und so kam der Referendar gegen 17 Uhr wieder und staunte nicht schlecht: das Marketing-Team hatte den Hinterhof der Kanzlei in ein hübsches, kleines Weihnachtsdorf verwandelt. Lichterketten in den Bäumen und stimmungsvoll beleuchtete Büdchen erzeugten eine heimelige Weihnachtsmarkt-Atmosphäre. Im Hintergrund erklang die sonore Stimme von Bing Cosby’s “White Christmas” und in einer Feuertonne knisterte das Holz. Je nachdem, wo man gerade vorbeiging, zog einem Bratwurst-, Glühwein- oder Reibekuchen-Duft in die Nase.

Am Anfang der Feier sprachen die bekannten Gesichter die obligatorischen warmen Worte, dann wurden die Schlipse gelockert. Die Kanzlei hatte allen Mitarbeitenden am Vortag einen PCR-Test spendiert, so dass auf Masken verzichtet wurde.

Die Stunden vergingen und die Stimmung war bestens. Der DJ war richtig gut und sorgte dafür, dass ein paar Feierfreudige sogar tanzten. Stefan sah mit Wohlwollen, dass Thomas offenbar ein kommunikativer Typ war und schon mit ein paar Kollegen Kontakt geknüpft hatte. Der neue Referendar stand nun Glühwein-trinkend an der Feuertonne, während Stefan mit seiner Kollegin Dörthe in einiger Entfernung die Feierei beobachtete. In glühweinseligem Übermut griff er plötzlich wortlos eine Mandarine von einem der Tische und warf sie quer über den Hinterhof. Mit einem Zischen landete sie vor Thomas in der Feuertonne. Der erschrak und schaute mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Erstaunen zu Stefan herüber, der ihm aus der Ferne zuwinkte.

“Na, Ihr habt ja eine tolle Art, miteinander zu kommunizieren!”, kommentierte Dörthe die Szene überrascht.

“Warum? Weil ich unserem lieben Referendar Mandarinen statt Worte an den Kopf werfe?”

Er zwinkerte ihr zu. “Nee, mal im Ernst: Wir sprachen vorhin über Sport und er glaubte mir nicht, dass ich jahrelang Basketball gespielt habe. Da war doch eine Kostprobe meines Könnens fällig!”

“Oh ja, unbedingt!” scherzte Dörthe.

In der Zwischenzeit kam Thomas zu ihnen rübergeschlendert. “Sportlicher Ausbilder!”, scherzte er und hob sein Glühweinglas in Stefans Richtung. Stefan nickte ihm grinsend zu.

“Hauptsache, Ihr zwei seid Euch einig”, sagte Dörthe lachend.

“Sind wir!” rief Thomas triumphierend. Er kam ins Plaudern. “Ich find’s super, dass Ihr jetzt Alles digitalisieren wollt. Homeoffice ist doch nur eine Zwischenstufe. In ein paar Jahren arbeiten alle nur noch remote; egal, von wo”, rief er einen Tick zu laut und gestikulierte dabei engagiert. “Da gibt es dann keinen Papierkram mehr! Dann….dann…. Moment!”

Er verschwand schnellen Schrittes im Büro und schien sich jetzt zusehends ins Thema reinzusteigern. Zu viele Glühwein.

Eine Minute später kam er wieder und hielt eine dicke Akte in der Hand. Stefan runzelte die Stirn.

“Hier!” Der Referendar hielt die schwere Akte in die Höhe. “Ich helfe Euch bei der Digitalisierung. Das wird super! Und dann gehört so ein Papierkram der Vergangenheit an! Ab in die Tonne damit!”

Was dann passierte, lief vor Stefans Auge wie in Zeitlupe ab. Kaum hatte Thomas den Satz beendet, warf er die dicke Akte in hohem Bogen in die Feuertonne. Die Funken sprühten hoch. Ein paar nahestehende Kollegen erschraken.

“Das glaub ich jetzt nicht!”, rief Stefan.

Ein Hund bellte. In diesem Moment wachte er auf. Sein Freund Karl stand mit seinem Labrador vor dem Schreibtisch. Stefan blinzelte und rieb sich die Augen.

“Na, war’s wieder ne kurze Nacht, Herr Kollege?”, feixte Karl lachend. “Komm, Mittagessen! Ich hab‘ übrigens meine neue Referendarin mitgebracht. Sie wartet unten. Du hattest auch lange keine neuen Referendare mehr, oder? Die sind prima. Bringen frischen Wind.”

“Ich komm ja schon”, sagte Stefan. Er griff seine Sonnenbrille und schaute auf die Temperatur-Anzeige: 25 Grad. Es war ein schöner Tag im August und nach einem neuen Referendar stand ihm gerade so gar nicht der Sinn.

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