Werden einem Rechtsanwalt die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt, hat er den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen eigenverantwortlich zu prüfen. (Leitsatz des Gerichts)
I. Sachverhalt
Versäumung der Beschwerdefrist
Gestritten wird um Wiedereinsetzung gegen die Versäumung einer Beschwerdebegründungsfrist. Das AG hatte den Antragsgegner in einem Verfahren nach § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG (sonstige Familiensache) verpflichtet, an die Antragstellerin, seine von ihm getrennt lebende Ehefrau, einen Betrag von 293.000 EUR nebst Zinsen zu zahlen. Gegen den seinem Verfahrensbevollmächtigten am 25.7.2023 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 24.8.2023 beim AG Beschwerde eingelegt und diese am 2.10.2023 begründet. Das AG hat den mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehenen Schriftsatz am 4.10.2023 auf elektronischem Wege an das OLG weitergeleitet. Durch Beschluss vom selben Tag hat das OLG darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, die Beschwerde des Antragsgegners als unzulässig zu verwerfen, weil eine Rechtsmittelbegründung nicht innerhalb der Frist des § 117 Abs. 1 Satz 3 FamFG eingegangen sei. Dieser Hinweis ist dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners am 6.10.2023 zugegangen.
Wiedereinsetzungsbegründung
Am 11.10.2023 hat der Antragsgegner beim OLG Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdebegründungsfrist beantragt. Zur Begründung hat er unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der Mitarbeiterin Frau E. seines Verfahrensbevollmächtigten ausgeführt, diese sei in der Kanzlei für die Fristenverwaltung zuständig. In den mehr als 20 Jahren ihrer Beschäftigung sei ihr bislang kein Fehler im Fristenkalender unterlaufen. Nach der Organisation des Büros werde zunächst eine Vorfrist von einer Woche eingetragen, wobei die Fristen sowohl in einem gesonderten Fristenkalender als auch digital in der Anwaltssoftware notiert würden. Neben der Vorfrist gebe es ferner die sogenannte Notfrist. Der Verfahrensbevollmächtigte kontrolliere regelmäßig die Einhaltung der Fristen. Sämtliche Mitarbeiter seien bei Aufnahme ihrer Tätigkeit über die Regelungen für die Fristenkontrolle und deren Bedeutung belehrt worden. Diese Belehrungen würden auch regelmäßig wiederholt, zuletzt am 4.8.2023. Der Verfahrensbevollmächtigte habe beim Diktat der Beschwerdeschrift explizit erklärt, dass die Frist für die Beschwerdebegründung einen Monat betrage und diese allerspätestens am 25.9.2023 beim OLG, hilfsweise beim Familiengericht, einzugehen habe. Er habe ferner diktiert, dass ihm die Akte zur Vorfrist am 18.9.2023 vorgelegt werden solle, damit ausreichend Zeit für die Rechtsmittelbegründung verbleibe. Tatsächlich habe Frau E. die Vorfrist aber versehentlich für den 18.10.2023 und die Notfrist für den 25.10.2023 eingetragen. Dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners sei dies nicht aufgefallen, da er auf die ordnungsgemäße Einhaltung und Beachtung der Fristen vertraut habe und aufgrund seiner Arbeitsbelastung eine Kontrolle nicht erfolgt sei. Erst durch den Hinweis des OLG vom 4.10.2023 habe er den Fehler bemerkt und nach seiner urlaubsbedingten Abwesenheit vom 3. bis zum 10.10.2023 den Wiedereinsetzungsantrag gestellt.
Das OLG hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unbegründet zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners, die keinen Erfolg hatte.
II. Entscheidung
Keine Verschärfung der Sorgfaltspflichten, aber …
Das OLG hatte zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass der Verfahrensbevollmächtigte des Antragsgegners durch seine Büroorganisation grundsätzlich ausreichende Vorkehrungen zur Vermeidung von Fristversäumnissen getroffen habe. Soweit er sich darauf stütze, dass die Kontrolle aufgrund der – allerdings nicht näher dargelegten – anwaltlichen Arbeitsbelastung unterlassen worden sei, könne dies den Antragsgegner allerdings nicht entlasten. Dazu meint der BGH, dass diese Ausführungen des OLG nicht tragfähig seien. So führe die Gewohnheit eines Rechtsanwalts, in seinem Kanzleibetrieb über das gebotene Maß hinaus weitere Vorkehrungen zur Vermeidung von Fristversäumnissen zu treffen, nicht zu einer Verschärfung seiner Sorgfaltspflichten (vgl. BGH, Urt. v. 19.12.1991 – VII ZR 155/91, NJW 1992, 1047 m.w.N.), weshalb dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners u.a. auch nicht zum Vorwurf gemacht werden könne, dass er die Fristen entgegen seiner sonst üblichen Büroorganisation nicht nach deren Eintragung im Fristenkalender anlasslos kontrolliert habe.
… anderer Grund trägt OLG-Entscheidung
Letztlich hat der BGH die Frage aber offen gelassen. Denn die angefochtene Entscheidung erweise sich im Ergebnis gleichwohl als zutreffend, weil die Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist aus anderen Gründen auf einem Verschulden des Verfahrensbevollmächtigten beruhe, das sich der Antragsgegner nach § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsse. Der Wiedereinsetzungsantrag des Antragsgegners und die eidesstattliche Versicherung der Mitarbeiterin enthielten nämlich, so der BGH, keine hinreichende Schilderung der tatsächlichen Abläufe, die nach den Maßstäben der Rechtsprechung zur Wiedereinsetzung ein fehlendes Verschulden seines Verfahrensbevollmächtigten annehmen ließe.
Führung des Fristenkalenders und eigenverantwortliche Prüfung
Zu den die Führung des Fristenkalenders betreffenden Aufgaben, die delegiert werden dürfen, gehöre auch die Notierung von Vor- und Hauptfristen (vgl. etwa BGH, Beschl. v. 26.1.2022 – VII ZB 2/21, NJOZ 2022, 1043 m.w.N. und v. 13.9.2018 – V ZB 227/17, NJW-RR 2018, 1451 m.w.N.). Allerdings müsse ein Rechtsanwalt alles ihm Zumutbare tun, um die Wahrung von Fristen zu gewährleisten. So habe er durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden (vgl. BGH, Beschl. v. 19.10.2022 – XII ZB 113/21, NJW-RR 2023, 136 m.w.N.; Beschl. v. 29.6.2022 – XII ZB 9/22 – FamRZ 2022, 1633 9 m.w.N.). Darüber hinaus hat ein Rechtsanwalt den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen immer dann eigenverantwortlich zu prüfen, wenn ihm die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung, insbesondere zu deren Bearbeitung, vorgelegt werden. In diesem Fall muss der Rechtsanwalt stets auch alle unerledigten Fristen einschließlich ihrer Notierung in den Handakten prüfen (vgl. BGH, Beschl. v. 1.3.2023 – XII ZB 483/21 – NJW¬RR 2023, 698 m.w.N. und BGH, Beschl. v. 23.11.2000 – IX ZB 83/00, NJW 2001, 1578, 1579 m.w.N.). Dies gelte unabhängig davon, ob die Handakten des Rechtsanwalts in herkömmlicher Form als Papierakten oder als elektronische Akten geführt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 1.3.2023 – XII ZB 483/21, NJW-RR 2023, 698 m.w.N.). Die anwaltliche Prüfungspflicht bestehe auch dann, wenn die Handakte nicht zugleich zur Bearbeitung mit vorgelegt worden ist, so dass der Rechtsanwalt in diesen Fällen die Vorlage der Handakte zur Fristenkontrolle zu veranlassen habe (BGH, Beschl. v. 19.10.2022 – XII ZB 113/21, NJW-RR 2023, 136 m.w.N.). Der Rechtsanwalt müsse die erforderliche Einsicht in die Handakte nehmen, indem er sich entweder die Papierakte vorlegen lasse oder das digitale Aktenstück am Bildschirm einsehe (BGH, Beschl. v. 9.7.2014 – XII ZB 709/13, FamRZ 2014, 1624).
Verschulden nicht ausgeschlossen
Gemessen hieran konnte der BGH die Möglichkeit, dass die Fristversäumung vom Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers verschuldet war, nicht ausschließen.
Reihenfolge der Fristnotierung
Nach dem Vortrag des Antragsgegners habe sein Verfahrensbevollmächtigter beim Diktat der Beschwerdeschrift explizit auch erklärt, dass die Beschwerdebegründungsfrist bis zum 25.9.2023 laufe und ihm die Akte zur Vorfrist am 18.9.2023 vorgelegt werden solle, damit ausreichend Zeit für die Rechtsmittelbegründung verbleibe. Die bis dahin zuverlässige Mitarbeiterin habe aber versehentlich die Vorfrist für den 18.10.2023 und die Notfrist für den 25.10.2023 eingetragen. Mit dem Diktat der Beschwerdeschrift sei diese fristgebundene Verfahrenshandlung indes nicht abgeschlossen gewesen. Vielmehr habe der Verfahrensbevollmächtigte noch die Endkontrolle des nach seinem Diktat gefertigten Schriftsatzes vornehmen, für diesen – hier in Form einer qualifizierten elektronischen Signatur – die Verantwortung übernehmen und die Versendung des Schriftsatzes an das Amtsgericht veranlassen müssen. Da zu einer ordnungsgemäßen Büroorganisation gehöre, dass stets und unter allen Umständen zuerst die Fristen im Kalender eingetragen werden und erst danach ein entsprechender Vermerk in der Handakte erfolgt, hätten die Fristen anlässlich der Erledigung des Diktats der Beschwerdeschrift zuerst im Kalender notiert und sodann ein Vermerk in den Handakten angebracht werden müssen. Zu dem Zeitpunkt, als der Verfahrensbevollmächtigte des Antragsgegners mit der Endkontrolle der Beschwerdeschrift befasst war, hätte im Falle einer ordnungsgemäßen Büroorganisation die Handakte also durch entsprechende Erledigungsvermerke oder auf sonstige Weise erkennen lassen müssen, dass die Vorfrist und die Notfrist in den Fristenkalender eingetragen worden sind. Es sei allerdings nicht dargelegt, dass in der Handakte die korrekten Fristen notiert wurden, weshalb nicht ausgeschlossen werden könne, dass dort dieselben falschen Fristen wie im Fristenkalender eingetragen worden seien. Dies hätte dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners anlässlich der Endkontrolle des Beschwerdeschriftsatzes auffallen müssen.
Akte ggf. bereits eher wieder gesehen
Ebenso wenig sei dargelegt, wann der Verfahrensbevollmächtigte des Antragsgegners die Akten zur Erstellung der Beschwerdebegründung vorgelegt bekommen haben oder wann er sie sich selbst zur Bearbeitung gezogen habe. Angesichts des Umstands, dass er am 2.10.2023 den fehlerhaft an das AG adressierten Begründungsschriftsatz elektronisch signiert hat, müssen ihm die Akten – aus welchem Grund auch immer – vor der im Fristenkalender für den 18.10.2023 eingetragenen Vorfrist vorgelegen haben. Bei diesem Geschehensablauf sei die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass er die Akten auch schon so rechtzeitig zur Bearbeitung vorliegen hatte, dass er die Beschwerdebegründung noch fristwahrend hätte fertigen oder zumindest eine (erstmalige) Fristverlängerung hätte beantragen können. Es sei somit nicht auszuschließen, dass die fehlerhafte Eintragung der Fristen im Fristenkalender nicht kausal für die Fristversäumung war, sondern der Verfahrensbevollmächtigte, dem auch am 2.10.2023 die bereits abgelaufene Beschwerdebegründungsfrist nicht aufgefallen ist, diese Frist durch ein eigenes Verschulden versäumt hat.
III. Bedeutung für die Praxis
Fortschreibung der ständigen Rechtsprechung
Die Hürden für eine Wiedereinsetzung sind, was die vorliegende Entscheidung mal wieder beweist, hoch und es gibt viele Stellen, an denen ein Wiedereinsetzungsantrag scheitern kann. Andererseits überrascht die Entscheidung nicht. Denn der BGH hatte schon im BGH, Beschl. v. 1.3.2023 (XII ZB 483/21, NJW-RR 2023, 698) ausgeführt, dass dann, wenn einem Rechtsanwalt die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt werden, er den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen eigenverantwortlich zu prüfen hat (so auch schon im Beschl. v. 29.6.2022 – XII ZB 9/22, FamRZ 2022, 1633). Dies gelte unabhängig davon, ob die Handakten des Rechtsanwalts in herkömmlicher Form als Papierakten oder ggf. als elektronische Akten geführt werden. Daran hält er ausdrücklich fest. Der Rechtsanwalt muss also darauf achten, dass er eigenverantwortlich prüft und ggf. dazu dann auch (ausreichend) vortragen.