1. Ein Verkehrssicherungspflichtiger hat in geeigneter und objektiv zumutbarer Weise grundsätzlich nur diejenigen Gefahren auszuräumen und erforderlichenfalls vor ihnen zu warnen, die für den Benutzer, der die erforderliche Sorgfalt walten lässt, nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag. Grundsätzlich muss der Straßenbenutzer sich den vorgefundenen Straßenverhältnissen anpassen.
2. Die Pflichtwidrigkeit von Schäden an Gehwegen und unterschiedlicher Höhenniveaus im Fußgängerbereich beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. (Leitsätze des Verfassers)
I. Sachverhalt
Der Kläger begehrt von der Beklagten Schadensersatz wegen eines Unfalls auf einem Gehweg. Der Kläger hatte am Nachmittag des 25.9.2021 in Begleitung seiner Ehefrau den Gehweg der Holstenstraße in Lübeck benutzt.
Streitiger Sachvortrag
Er behauptet, er sei aus der Innenstadt kommend dort an einer mittig auf dem Gehweg herausstehenden Kante einer Gehwegplatte mit dem linken Fuß hängen geblieben und gestürzt. Die Gehwegplatte, an der er hängen geblieben sei, habe einen Niveauunterschied zwischen 1,00 und 2,5 cm zu den umliegenden Gehwegplatten aufgewiesen. Diese Schwelle habe er nicht wahrnehmen und erwarten können. Der Kläger meint, die beklagte Stadt habe ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt. Insbesondere seien an den Bereich um den Unfallort hohe Anforderungen bezüglich der Verkehrssicherungspflicht zu stellen, weil dieser Bereich als Haupteinfallstor zum Innenstadtbereich der Stadt Lübeck stark frequentiert sei. Die Beklagte hebt widersprüchliche Angaben des Klägers hinsichtlich seiner Laufrichtung hervor und meint, aus dem klägerischen Sachvortrag ergebe sich nicht, dass die streitgegenständliche Gehwegplatte für den Sturz des Klägers ursächlich gewesen sei.
Das LG hat die Klage abgewiesen.
II. Entscheidung
Das LG verneint einen Schadensersatzanspruch aus § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB, Art. 34 Satz 1 GG i.V.m. § 10 Abs. 1 Satz 2, 3, Abs. 2, 4 des Straßen- und Wegegesetzes des Landes Schleswig-Holstein in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.11.2003 (StrWG-SH). Der von dem Kläger behauptete Unfall sei nämlich nicht auf eine der Beklagten zurechenbare Pflichtverletzung gegen § 10 Abs. 1, 2 StrWG-SH zurückzuführen.
Umfang der Verkehrssicherungspflicht
Gemäß § 10 Abs. 1 S. 2 StrWG-SH obliege den Trägern der Straßenbaulast nach ihrer Leistungsfähigkeit, die Straßen in einem dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis genügenden Zustand anzulegen, zu unterhalten, zu erweitern oder sonst zu verbessern. Soweit sie hierzu unter Berücksichtigung ihrer Leistungsfähigkeit außerstande sind, haben sie auf den nicht verkehrssicheren Zustand vorbehaltlich anderweitiger Anordnungen der Straßenverkehrsbehörden durch Warnzeichen hinzuweisen (Satz 3). Nach § 10 Abs. 2 StrWG-SH seien bei dem Bau und bei der Unterhaltung der Straßen die allgemein anerkannten Regeln der Baukunst und der Technik zu beachten. Den Bedürfnissen sehbehinderter Menschen solle durch entsprechende Orientierungshilfen, denjenigen mit beeinträchtigter Mobilität durch barrierefreie Gehwegübergänge Rechnung getragen werden; die Belange von älteren Menschen und Kindern sind zu berücksichtigen.
Das LG gelangte allerdings auf Grundlage des klägerischen Vortrags nicht zu dem Ergebnis, dass sich die Straße in einem gemessen an § 10 Abs. 1, 2 StrWG-SH pflichtwidrigen Zustand befunden hat. Dem Kläger sei es nicht gelungen, eine der Beklagten zurechenbare Verkehrssicherungspflichtverletzung darzulegen. § 10 Abs. 1 Satz 2 StrWG-SH verlange von dem Träger der Straßenbaulast, Straßen in einem dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis genügenden Zustand zu unterhalten, wobei nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Hs. 2 StrWG-SH bei der Unterhaltung die Belange von älteren Menschen zu berücksichtigen sind. Daraus folge, dass sich Straßen grundsätzlich nicht in einem einwandfreien Zustand befinden müssen und von ihnen mit Blick auf etwaige Unebenheiten eine Restgefahr ausgehen könne. Der Umfang der Sorge für die Verkehrssicherheit werde maßgeblich von der Art und der Häufigkeit der Benutzung des Verkehrswegs und seiner Bedeutung bestimmt (BGH, Urt. v. 21.6.1979 – III ZR 58/78). Ein Verkehrssicherungspflichtiger habe in geeigneter und objektiv zumutbarer Weise alle, aber auch nur diejenigen Gefahren ausräumen und erforderlichenfalls vor ihnen zu warnen, die für den Benutzer, der die erforderliche Sorgfalt walten lässt, nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar seien und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten könne (BGH, Urt. v. 5.7.2012 – III ZR 240/11). Grundsätzlich müsse der Straßenbenutzer sich den vorgefundenen Straßenverhältnissen anpassen (Reinert/Kümper, in: BeckOK BGB, 71. Ed. 1.8.2024, § 839 Rn 70 mit Nachw.). Weitergehende Sorgfaltsanforderungen folgen nach Auffassung des LG auch nicht daraus, dass § 10 Abs. 2 StrWG-SH anordnet, dass bei dem Bau und bei der Unterhaltung der Straßen die Belange von älteren Menschen zu berücksichtigen. Bei der Regelung handelt es sich um eine Orientierung für den Träger der Straßenbaulast und nicht um eine konkrete Qualitätsvorgabe mit Blick auf die Beschaffenheit von Gehwegen (so i.E. auch Röttger SchlHA 2018, 82, 85).
Vortrag des Klägers zur konkreten Beschaffenheit des Gehwegs divergent…
Die von dem Kläger beschriebene Situation des Gehwegs stelle an der konkreten Stelle keinen Zustand dar, der dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis nicht genügt. Dabei sei in Bezug auf die Frage, in welchem Umfang Fußgänger Unebenheiten und Niveauunterschiede auf Straßen, Plätzen und Gehwegen hinnehmen müssen, keine schematische Betrachtung unter Anwendung starrer Grenzen angezeigt, sondern es sei unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles zu prüfen, ob ein verkehrsunsicherer Zustand vorliegt (OLG Saarbrücken, Urt. v. 26.11.2015 – 4 U 110/14; Röttger SchlHA 2018, 82, 85 f.). Dem klägerischen Vortrag würden sich zu dem behaupteten Höhenunterschied der Gehwegplatten aber keine eindeutigen Angaben entnehmen lassen. Ursprünglich habet der Kläger vorgetragen, er sei aufgrund unebener Gehwegplatten ins Stolpern geraten. Aus diesem Vortrag habe sich kein konkreter Höhenunterschied ergeben. Im weiteren Verfahrensverlauf habe der Kläger vorgetragen, vor Ort seien Höhenunterschiede von 1,0 bis 1,5 cm festgestellt worden. Zuletzt habe der Kläger unter Verweis auf eine als Anlage überreichte Fotografie ausgeführt, er schätze einen Höhenunterschied von 2,0 bis 2,5 cm. Dieser Vortrag sei zu divergent und ungenau, als dass sich das Gericht auf dieser Grundlage eine Überzeugung von den Begebenheiten vor Ort verschaffen könnte.
… Selbst wenn
Aber selbst wenn man zugunsten des Klägers von einem Höhenunterschied der Gehwegplatten von bis zu 2,5 cm ausgehe, sei mit Blick auf die Gesamtumstände kein pflichtwidriger Zustand des Gehwegs festzustellen. Die Rechtsprechung beurteile die Pflichtwidrigkeit von Schäden an Gehwegen und unterschiedlicher Höhenniveaus im Fußgängerbereich mit Blick auf die konkreten Umstände des Einzelfalls. Für eine Fußgängerzone oder die nicht für den Kfz-Verkehr bestimmte Zuwegung zu einem Marktplatz sei ein Niveauunterschied unter 2,00 bis 2,5 cm als erheblich angesehen worden (OLG Hamm, Urt. v. 16.10.2020 – 11 U 72/19; OLG Oldenburg, Urt. v. 20.12.1985 – 6 U 72/85;), ebenso wie eine Asphaltkante von 3,00 cm, während mit absackenden Pflastersteinen eher zu rechnen sei (OLG Stuttgart, Urt. v. 26.11.2020 – 2 U 437/19). Auf Gehwegen im Allgemeinen werden Niveauunterschiede von ca. 2 bis 3 cm regelmäßig akzeptiert (OLG Koblenz, Urt. v. 26.7.2018 – 1 U 149/18; Urt. v. 23.6.2010 – 1 U 1526/09; OLG Frankfurt am Main, Urt. v. 10.2.2003 – 1 U 153/01). Entscheidend sei dabei jeweils, inwieweit Gehwegschäden für den Fußgängerverkehr mit Blick auf die örtlichen Begleitumstände erkennbar und ein Überqueren vermeidbar ist (vgl. auch BGH, Urt. v. 5.7.2012 – III ZR 240/11). Eine haftungsbegründende Verkehrssicherungspflichtverletzung kann erst angenommen werden, wenn auch für den aufmerksamen Verkehrsteilnehmer eine Gefahrenlage überraschend eintritt und nicht rechtzeitig erkennbar ist (OLG Saarbrücken, Urt. v. 26.11.2015 – 4 U 110/14).
Keine weitergehenden Anhaltspunkte
Sei ein Höhenunterschied von 2,5 cm auf einem Fußgängerweg damit im Ausgangspunkt noch hinnehmbar, habe es der Klägerseite oblegen, weitergehende Anhaltspunkte vorzubringen, aus denen sich ein Überraschungsmoment oder ein anderer Umstand für den Kläger ergeben habe, aufgrund dessen er den Niveauunterschied zwischen den Gehwegplatten bei Beachtung der gebotenen Sorgfalt nicht hätte feststellen können. Zwar habe der Kläger vorgetragen, bei der Holstenstraße handle es sich um das Haupteinfallstor vom Lübecker Bahnhof in die Altstadt. Die Straße sei hoch frequentiert. Daraus folgen aber nicht ohne Weiteres erhöhte Sorgfaltsanforderungen der Beklagten. Denn der Kläger habe daraus keine Ableitung für die Erkennbarkeit der Gehwegschäden gezogen. Sie habe insbesondere nicht vorgetragen, dass die Straße regelmäßig derart frequentiert sei, dass Fußgänger in einem gedrängten Verkehr den vor ihnen liegenden Gehweg nicht erkennen können (dahin OLG Schleswig, Urt. v. 11.11.1999 – 11 U 136/98). Ein regelmäßig derart gedrängter Fußgängerverkehr sei auch dem Gericht nicht bekannt. Die Holstenstraße sei im unteren Bereich auch nicht durch eine Vielzahl ansprechender Schaufenster geprägt, die zu einer Ablenkung von Fußgängern führen würden. Mit Ausnahme der Lichtverhältnisse habe der Kläger keine konkreten Umstände vorgetragen, die aus seiner Perspektive dazu hätten führen können, dass der Höhenunterschied zwischen den Gehwegplatten nicht erkennbar gewesen wäre. Es folge auch folgt allein aus dem Umstand, dass die Beklagte die Gehwegstelle nach dem behaupteten Unfallereignis instandgesetzt hat, nicht, dass sich die Stelle bis dahin in einem pflichtwidrigen Zustand befunden habe (OLG Koblenz, Urt. v. 26.7.2018 – 1 U 149/18). Die Instandsetzung von Gehwegplatten sei gerade Teil der Wahrnehmung und Erfüllung von Verkehrssicherungspflichten.
III. Bedeutung für die Praxis
Es bleiben Fragen
Auf den ersten Blick überzeugend, aber dann ergeben sich doch Fragen, die ggf. im Berufungsverfahren das OLG Schleswig beantworten wird/muss. Denn: Hat der Kläger wirklich nicht genügend vorgetragen? M.E. hat unstreitig ein Niveauunterschied von 2,5 cm vorgelegen. Muss dann der Kläger noch etwas zur Erkennbarkeit vortragen oder liegt die ggf. auf der Hand? Und ist nicht die Instandsetzung der Stelle durch die beklagte Stadt ein Indiz dafür, dass es sich die Stelle in einem „gefährlichen“ Zustand befand. Denn immerhin lag sie an einem doch recht stark frequentierten Zugang zur Lübecker Innenstadt.