1. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt für den Beschwerdeführer grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen, wie namentlich den Rohmessdaten der Geschwindigkeitsmessung, den Wartungs- und Reparaturunterlagen des verwendeten Messgeräts sowie den digitalen Falldaten der Messreihe aller Fahrspuren mit Statistikdatei. Dieser Anspruch verpflichtet nicht etwa das Gericht, die geforderten Unterlagen aufgrund seiner Aufklärungspflicht beizuziehen und zu prüfen, sondern entspringt allein dem Recht des Betroffenen, die Grundlagen des gegen ihn erhobenen Vorwurfs einzusehen und selbst zu prüfen.
2. Unerheblich ist hierbei ggf., wenn sich den Akten keine Hinweise auf das Vorhandensein der von dem Betroffenen begehrten Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen entnehmen lassen und laut dem Messprotokoll an dem Messgerät seit der letzten Eichung keine Reparaturen oder Wartungsarbeiten durchgeführt worden sind.
3. Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen. (Leitsätze des Verfassers)
I. Sachverhalt
Die Betroffenen wurden in den drei Bußgeldverfahren, die den Urteilen des VerfGH Baden-Württemberg zugrunde lagen, jeweils wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen verurteilt. Die Messungen erfolgten mit unterschiedlichen Messgeräten (Poliscan Speed, TraffiStar S330, ESO ES 3.0). Die Verteidigung hatte jeweils bereits vor der Hauptverhandlung Einsicht in die Messunterlagen (u.a. digitale Falldatensätze der gesamten Messreihe, Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen des Messgerätes) beantragt.
In dem Fall 1 VB 173/21 erhielt die Verteidigung – auf ihren Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG) gegen die zunächst erfolgte Verweigerung der Zurverfügungstellung der Daten – die Falldaten der gesamten Messreihe mit Statistikdatei. Der sodann beauftrage private Sachverständige teilte aber mit, dass die Daten unvollständig seien. In der Hauptverhandlung beantragte der Verteidiger sodann die Zurverfügungstellung der fehlenden Messunterlagen und Messdaten sowie die Aussetzung des Verfahrens, bis die Verteidigung die Unterlagen erhalten habe diese durch einen technischen Sachverständigen habe überprüfen können. Das AG lehnte die Anträge ab und verurteilte den Betroffenen zu einer Geldbuße von 120 EUR. Das OLG Stuttgart verwarf den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde.
Im Fall 1 VB 11/23 lehnte die Bußgeldbehörde die Zurverfügungstellung von Messunterlagen ab. Der dagegen gestellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung wurde von der Bußgeldbehörde dem AG nicht vorgelegt. Den in der Hauptverhandlung erneut gestellten Einsichtnahmeantrag – verbunden mit einem Aussetzungsantrag – lehnte das AG ab und verurteilte den Betroffenen zu einem Bußgeld von 320 EUR nebst Fahrverbot. Das OLG Stuttgart verwarf die Rechtsbeschwerde als unbegründet.
Im Fall 1 VB 36/22 hatte das OLG Stuttgart im 1. Rechtsdurchgang die Sache bereits einmal an das AG zurückverwiesen, weil der aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgende Anspruch auf Zurverfügungstellung der Daten der gesamten Messreihe verletzt worden war (VRR 9/2021, 25 = NStZ-RR 2022, 60). Im 2. Rechtsdurchgang erhielt die Verteidigung nunmehr zwar die Daten der gesamten Messreihe, nicht aber die Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen. Eine „Lebensakte“ des Gerätes gebe es nicht. Reparaturen seien laut Stellungnahme des Polizeipräsidiums und des Messbeamten nicht erfolgt. Der Betroffene wurde zu einer Geldbuße von 80 EUR verurteilt. Das OLG Stuttgart verwarf den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, weil der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht verletzt sei und eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren keinen Zulassungsgrund bilde.
Die Verteidigung widersprach zudem der Verwertung der Messergebnisse, weil die Messgeräte die Rohmessdaten zum Teil nicht gespeichert hätten.
Zur Begründung der jeweils eingelegten Verfassungsbeschwerden rügte die Verteidigung die Verletzung der Rechte auf ein faires Verfahren, auf rechtlichtes Gehör, auf effektiven Rechtsschutz und auf den gesetzlichen Richter.
II. Entscheidungen
Der VerfGH hebt in allen drei Verfahren die Urteile wegen Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren auf und verweist die Sache zur erneuten Entscheidung an das jeweilige AG. Im Fall 1 VB 173/21 hatte das AG dem Anspruch auf Überlassung der vollständigen Daten der gesamten Messreihe nicht genügt. Im Fall 1 VB 11/23 bestätigt der VerfGH seine Rechtsprechung, wonach vom Einsichtsrecht alle Wartungsunterlagen erfasst sind, die den Zeitraum ab der letzten Eichung vor dem Tattag bis zum Ende der Eichfrist erfasst sind, so dass auch Unterlagen solcher Wartungen erfasst sind, die nach der verfahrensgegenständlichen Messung, aber vor dem Ende der Eichfrist vorgenommen worden sind (VerfGH Baden-Württemberg VRR 4/2023, 24). Über diesen Zeitraum verhielten sich die vorgelegten Messprotokolle und Erklärungen der Behörde aber nicht (vollständig). Im Fall 1 VB 36/22 führt der VerfGH aus, dass es für das Einsichtsrecht nicht maßgeblich ist, ob eine „Lebensakte“ geführt wird. Auch hier ist dem Anspruch des Betroffenen auf Einsichtnahme in die Unterlagen, die den maßgeblichen Zeitraum (s.o.) betreffen, nicht vollständig genügt worden.
Einsichtsrecht in die Messunterlagen entsprechend dem Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18
Nach dem Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 (2 BvR 1616/18, VRR 1/2021, 4) hat der Betroffene im Fall der Verwendung standardisierter Messverfahren einen aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) hergeleiteten Anspruch auf Zurverfügungstellung bzw. Einsicht auch in nicht bei den Akten befindliche Messunterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt (vgl. Niehaus in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 7. Aufl., 2024, Rn 198 ff.). Dieser Anspruch erstreckt sich nach zutreffender Auffassung auch auf die Daten der gesamten Messreihe (über die Daten der Einzelmessung des konkreten Betroffenen hinaus), Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 209 m.w.N.
Perspektive der Verteidigung maßgeblich; keine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht
Für die Frage, welche Unterlagen die Verteidigung benötigt, ist die Perspektive der Verteidigung entscheidend, nicht diejenige der Bußgeldbehörde oder des Gerichts (BVerfG, a.a.O.; Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 207). Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder (auch bloß theoretischen) Aufklärungschance nachgehen. Mit Recht betont der VerfGH zudem, dass es bei der Frage des Einsichtsrechts nicht um die Aufklärungspflicht des Gerichts geht, sondern um das Recht des Betroffenen, eigeninitiativ die Grundlagen der Beweisführung zu überprüfen (Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541, 542; dies. NStZ 2014, 527).
Einsichtsrecht auch in die „Lebensakte“
Das Einsichtsrecht erstreckt sich auf die Reparatur- und Wartungsunterlagen (vgl. auch § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG), u.z. nach der Auffassung des VerfGH hinsichtlich eines Zeitraums, der sich auch auf Wartungen erstreckt, die nach der verfahrensgegenständlichen Messung, aber vor Ende der Eichfrist vorgenommen worden sein könnten. Dass eine „Lebensakte“ nicht geführt oder als solche bezeichnet wird, entbindet nicht von der Vorlage der vorhandenen Wartungs- und Reparaturdokumentationen (Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 2779).
III. Bedeutung für die Praxis
Bestätigung des Anspruchs auf ein faires Verfahren
Die Urteile des VerfGH bestätigen die Rechtsprechung zum Umfang des Einsichtsrechts und zur Maßgeblichkeit der Perspektive der Verteidigung für die Verteidigungsrelevanz der Messunterlagen.
Frappierend ist allerdings das Ausmaß der offenbar vorhandenen „Beharrungskräfte“ auf Seiten der Behörden und der Fachgerichte, die in der Verfahrensgeschichte der drei Urteile zum Ausdruck kommen, und der daraus folgende außerordentliche Aufwand, dessen es seitens der Verteidigung bedurfte, um die Verfahrensrechte des Betroffenen (vorläufig) durchzusetzen.
Auch zeigt sich erneut, dass es in den Zulassungsfällen (§ 80 OWiG) der Erweiterung des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG auf Fälle des Verstoßes gegen das Recht auf ein faires Verfahren bedarf (vgl. Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541, 543 und DAR 2020, 69, 74), wie dies der 58. Verkehrsgerichtstag (2020, Arbeitskreis IV) empfohlen hat, da anderenfalls dem Betroffenen kein effektiver Rechtsschutz zur Verfügung steht, selbst wenn grundlegende Verfahrensrechte nicht beachtet worden sind.
Keine Festlegung im Streit über die Rechtsfolgen einer Nichtspeicherung von Rohmessdaten
Da die Verfassungsbeschwerden bereits mit Blick auf die zum Teil nicht gewährte Herausgabe von Messunterlagen Erfolg hatten, musste sich der VerfGH mit der weiteren von der Verteidigung aufgeworfenen Frage des Beweisverwertungsverbots in denjenigen Fällen, in denen die verwendeten Messgeräte die Rohmessdaten nicht speichern (vgl. Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 214 ff.), nicht befassen. Es darf aber zur Kenntnis genommen werden, dass der VerfGH diese Frage ausdrücklich offen lässt und damit die Frage durch den Nichtannahmebeschluss des BVerfG v. 20.6.2023 (VRR 8/2023, 29, mit abl. Anm. Niehaus, NJW 2023, 2937 und DAR 2023, 446) offenbar – zu Recht – als nicht geklärt ansieht.
Fazit
Die in Teilbereichen offenbar auch weiterhin fortdauernde Verweigerung der Einsichtnahme in Messunterlagen stößt vor dem VerfGH erneut an verfassungsrechtliche Grenzen. Die Diskussion dürfte sich zwischenzeitlich allerdings auf die Frage der Rechtsfolgen, wenn die Rohmessdaten nicht gespeichert werden, verlagert haben. Nachdem es der Rechtsprechung, wie die drei erfolgreichen Verfassungsbeschwerden erneut zeigen, auch weiterhin nicht gelungen ist, für die Praxis befriedigende und bundesweit akzeptierte Vorgaben zum für die Rechtsstellung des Betroffenen zentralen Einsichtsrecht zu entwickeln, ist hier eine Regelung zu Umfang – und gegebenfalls Grenzen – des Einsichtsrechts durch den Gesetzgeber sowie zur Rügefähigkeit im Rechtsmittelverfahren (etwa mit Blick auf § 80 OWiG) erforderlich und veranlasst – wie dies der 58. Verkehrsgerichtstag 2020 empfohlen hat.