Ein Anscheinsbeweis, der beim Auffahrunfall für einen schuldhaften Verstoß des Hintermanns gegen § 4 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 Satz 4 oder § 1 Abs. 2 StVO spricht, kann auch dann eingreifen, wenn ein Motorradfahrer hinter einem stark abbremsenden Pkw ohne Berührung der Fahrzeuge stürzt und es nur durch Zufall nicht zu einer Kollision mit dem Vorausfahrenden kommt. (Leitsatz des Gerichts)
I. Sachverhalt
Motorradfahrer stürzt ohne Berührung mit gegnerischem Pkw
Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Beklagten zum Ersatz seines materiellen und immateriellen Schadens nach einem Verkehrsunfall verpflichtet sind. Der Kläger befuhr mit seinem Motorrad die B. Straße in Richtung H. Vor ihm fuhr ein Pkw. Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit betrug 70 km/h. Die Beklagte zu 1 fuhr mit ihrem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw auf der B. Straße in die Gegenrichtung. Ihre Fahrbahn war in einer leichten Rechtskurve durch ein Müllabfuhrfahrzeug blockiert, das gerade beladen wurde. Um an diesem Fahrzeug vorbeizufahren, wechselte die Beklagte zu 1 auf die Gegenfahrbahn. Der ihr dort entgegenkommende Pkw bremste stark ab, um eine Kollision mit der Beklagten zu 1 zu vermeiden. Auch der hinter diesem Pkw fahrende Kläger machte eine Vollbremsung. Sein Motorrad, das nicht über ein Anti-Blockier-System (ABS) verfügte, geriet dabei ins Rutschen. Der Kläger stürzte und zog sich erhebliche Verletzungen zu. Zu einer Kollision des Motorrads mit dem vorausfahrenden Pkw kam es nicht. Mit seiner vom LG abgewiesenen Klage hat der Kläger beantragt festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm sämtlichen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen materiellen und immateriellen Schaden aus dem Unfall auf der Grundlage einer 100 %-igen Haftungsquote zu ersetzen. Das OLG Celle (MDR 2024, 162) hat die begehrte Feststellung auf der Grundlage einer Haftungsquote von 40 % zulasten der Beklagten getroffen. Die weitergehende Berufung des Klägers hat es zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter. Die Beklagten begehren mit ihrer Anschlussrevision die Wiederherstellung des Urteils des Landgerichts. Der BGH hat dieses Urteil aufgehoben und die Sache an das OLG zurückverwiesen.
II. Entscheidung
Gefährdungshaftung bei berührungslosem Unfall
Die zulässige Revision habe Erfolg. Mit der Begründung des Berufungsgerichts könne ein über die zuerkannte Haftungsquote von 40 % zulasten der Beklagten hinausgehender Anspruch des Klägers auf Schadensersatz aus § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG nicht verneint werden. Der Schaden des Klägers sei bei dem Betrieb des Beklagtenfahrzeugs entstanden. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats sei ein Schaden bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kfz entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kfz ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, das heißt, wenn bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kfz (mit-)geprägt worden ist. Erforderlich sei aber stets, dass es sich bei dem Schaden, für den Ersatz verlangt wird, um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handelt, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos gehalten werden soll, d.h. die Schadensfolge muss in den Bereich der Gefahren fallen, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen worden ist. Für die Zurechnung der Betriebsgefahr komme es damit maßgeblich darauf an, dass die Schadensursache in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kfz steht (NJW 2024, 898 Rn 13 m.w.N. = VRR 4/2024, 12 [Nugel]). Die Haftung gem. § 7 Abs. 1 StVG hänge nicht davon abhängt, dass es zu einer Kollision der Fahrzeuge gekommen ist (BGH NJW 2017, 1173 Rn 12 m.w.N. = VRR 4/2017, 8 [Schulz-Merkel]). Allerdings reiche die bloße Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen Kfz an der Unfallstelle für eine Haftung nicht aus. Bei einem sogenannten „Unfall ohne Berührung“ sei Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs des Kfz zu einem schädigenden Ereignis, dass über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus das Fahrverhalten seines Fahrers in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners beeinflusst hat, also, dass das Kfz durch seine Fahrweise (oder sonstige Verkehrsbeeinflussung) zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat (BGH NJW 2017, 1173 Rn 14 = VRR 4/2017, 8 [Schulz-Merkel]; NJW 2005, 2081 m.w.N.). Das könne etwa der Fall sein, wenn der Geschädigte durch den Betrieb eines Kfz zu einer Reaktion wie z.B. zu einem Ausweichmanöver oder zum Abbremsen veranlasst wird und dadurch ein Schaden eintritt. In einem solchen Fall könne der für eine Haftung erforderliche Zurechnungszusammenhang je nach Lage des Falles zu bejahen sein (BGH NJW 2010, 3713 Rn 5 = VRR 2011, 62 [Zorn]). Auch ein Unfall infolge einer voreiligen – also objektiv nicht erforderlichen – Abwehr- oder Ausweichreaktion kann gegebenenfalls dem Betrieb des Kfz zugerechnet werden, das diese Reaktion ausgelöst hat (BGH a.a.O., Rn 6 m.w.N.). Hier bestehe bei dem berührungslosen Unfall des Klägers der erforderliche Zurechnungszusammenhang zu dem Betrieb des Beklagtenfahrzeugs (wird ausgeführt). Der Verkehrsunfall sei für den Kläger auch nicht unabwendbar i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG gewesen.
Grundlagen zum Anscheinsbeweis
Die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung gem. § 17 Abs. 1 und 2 StVG sei nicht frei von Rechtsfehlern. Das Berufungsgericht sei im Ausgangspunkt zwar zu Recht davon ausgegangen, dass ein Anscheinsbeweis, der für einen schuldhaften Verstoß des Hintermanns gegen § 4 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 Satz 4 oder § 1 Abs. 2 StVO spricht, auch dann eingreifen kann, wenn ein Motorradfahrer hinter einem stark abbremsenden Pkw ohne Berührung der Fahrzeuge stürzt und es nur durch Zufall nicht zu einer Kollision mit dem Vorausfahrenden kommt. Die Annahme des Berufungsgerichts, ein solcher Sachverhalt liege im Streitfall vor, hat der Kläger jedoch erfolgreich angegriffen. Nach ständiger Rechtsprechung greife der Beweis des ersten Anscheins bei typischen Geschehensabläufen ein, also in Fällen, in denen ein bestimmter Sachverhalt feststeht, der nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablauf als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolgs hinweist. Dabei bedeute Typizität nicht, dass die Ursächlichkeit einer Tatsache für den Erfolg bei allen Sachverhalten der Fallgruppe immer vorhanden sein muss, sie muss aber so häufig gegeben sein, dass die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Fall vor sich zu haben, sehr groß ist (BGH NJW 2024, 1037 Rn 19 m.w.N. = VRR 6/2024, 9 [Nugel]). In der höchstrichterlichen Rechtsprechung sei anerkannt, dass bei Auffahrunfällen der erste Anschein dafürsprechen kann, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft verursacht hat. Das Auffahren erlaube grundsätzlich eine alternative Schuldfeststellung dahin, dass der Auffahrende entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO; BGH NJW-RR 1987, 1235, 1236, juris Rn 12). Denn der Kraftfahrer sei verpflichtet, seine Fahrweise so einzurichten, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht (BGH NJW 2017, 1177 Rn 10 m.w.N.).
Anscheinsbeweis auch bei berührungslosem Unfall
Diesem Fall stehe der Fall gleich, in dem ein Motorradfahrer hinter einem stark abbremsenden Pkw ohne Berührung der Fahrzeuge stürzt und es nur durch Zufall nicht zu einer Kollision mit dem Vorausfahrenden gekommen ist. Steht ein solcher Sachverhalt fest, spreche der erste Anschein dafür, dass der stürzende Motorradfahrer den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO; vgl. OLG Schleswig SVR 2022, 302, 303 [Bachmor]; LG Wuppertal MDR 2020, 1056; LG Saarbrücken, NZV 2011, 188, 189; a.A. LG Hamburg, NZV 2018, 530 [Bachmor]). Das Berufungsgericht habe seine Annahme, im Streitfall spreche ein Anscheinsbeweis für einen schuldhaften Verstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 Satz 4 oder § 1 Abs. 2 StVO, damit begründet, dass es nur deshalb nicht zu einem Auffahrunfall gekommen sei, da der Kläger zuvor gestürzt und in Richtung Fahrbahnrand am vorausfahrenden Fahrzeug vorbeigerutscht sei. Eine Kollision mit dem vorausfahrenden Fahrzeug habe lediglich vom Zufall abgehangen. Die gegen diese Feststellungen vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen griffen durch. Soweit das Berufungsgericht festgestellt hat, dass der Kläger bei kontrolliertem – also nicht zu einem Sturz führenden – Bremsen mit seinem Motorrad auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgefahren wäre, rüge die Revision zu Recht, dass die dieser Feststellung zugrundeliegenden Ausführungen des Sachverständigen widersprüchlich sind (wird ausgeführt). Soweit das Berufungsgericht die den Anscheinsbeweis rechtfertigende alternative Schuldfeststellung auf einen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO gestützt hat, weil der Kläger sich jedenfalls verbremst habe, sei dies nicht frei von Rechtsfehlern. Denn ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO scheide aus, wenn ein Fahrzeugführer durch sein Verhalten nur das von ihm gesteuerte Fahrzeug oder sich selbst verletzt oder gefährdet (BGHSt 12, 282 ff. = NJW 1959, 637; König, in; Hentschel/König/Dauer, StVR, 47. Aufl., § 1 StVO Rn 33). Dies sei hier, da der Kläger die gegenteiligen Feststellungen des Berufungsgerichts mit Erfolg angegriffen hat, zu seinen Gunsten zu unterstellen.
Weiteres zur Haftungsverteilung
Allerdings liege nach den Feststellungen des Berufungsgerichts jedenfalls ein Fahrfehler des Klägers vor. Der Kläger hat auf das Abbremsen des vorausfahrenden Pkw falsch reagiert Ein solcher Fahrfehler sei in die nach § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG vorzunehmende Abwägung zulasten des Klägers einzustellen. Dabei sei zu berücksichtigten, dass ein Schadensbeitrag des Geschädigten, der sich zugleich als Verstoß gegen eine Rechtspflicht darstellt, für die Abwägung ein erhöhtes Gewicht hat (BGH NJW 1998, 1137, 1138, juris Rn 9). Im Umkehrschluss treffe den Geschädigten bei einem bloßen Fahrfehler, der sich nicht zugleich als Verstoß gegen eine Rechtspflicht darstellt, ein weniger gewichtiger Vorwurf. Das Berufungsgericht habe nicht deutlich gemacht, dass es diesen Unterschied in der Gewichtung bei der Abwägung berücksichtigt hat. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass das Ergebnis der Abwägung bei Berücksichtigung dieses Unterschieds anders ausfallen würde. Die Anschlussrevision sei ebenfalls begründet. Das Berufungsgericht sei verfahrensfehlerhaft zu der Überzeugung gelangt, es liege ein schuldhafter Verstoß der Beklagten zu 1 gegen § 6 Abs. 1 StVO vor (wird ausgeführt).
III. Bedeutung für die Praxis
Neuland
Die Darstellung zu den Grundsätzen der Betriebsgefahr bei berührungslosen Unfällen und zum Anscheinsbeweis fußt auf der einschlägigen Rechtsprechung der VI. Senats. Neuland betritt der Senat mit der Verknüpfung beider Institute, indem er höchstrichterlich den anerkannten Anscheinsbeweis bei Auffahrunfällen auf Fälle von berührungslosen Unfällen ausdehnt. Angesichts der Reichweite des Merkmals „bei dem Betrieb“ eines Kfz ist das nur konsequent.