1. Fehlt es an der medizinischen Indikation für ärztlich verordnetes Medizinalcanabis, führt dies in der Regel zum Verlust der Fahreignung wegen regelmäßigen Konsums nach Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV.
2. Das ist der Fall, wenn die Verordnung gegen das Ultima-Ratio-Prinzip verstößt, wobei es für die Beurteilung der Fahreignung nur auf die objektive Sachlage und nicht auf die Kenntnis des Betroffenen ankommt.
3. Die Wiedererlangung der Fahrerlaubnis setzt in der Regel einen Mindestabstinenzzeitraum von einem Jahr voraus, der im Einzelfall auch kürzer ausfallen kann. (Leitsätze des Verfassers)
I. Sachverhalt
Medizinalcannabis ohne Indikation verordnet
Im Herbst 2022 war die Antragstellerin wiederholt vorläufig in einem Krankenhaus untergebracht, nachdem sie in einem psychischen Ausnahmezustand angetroffen worden war. Auf Anforderung der Fahrerlaubnisbehörde übersandte die Antragstellerin ein ärztliches Gutachten des TÜV Süd. Dieses kommt zu dem Ergebnis, die Antragstellerin sei trotz des Vorliegens einer affektiven Psychose wieder in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kfz gerecht zu werden. Sie sei im Oktober 2022 an einer akuten Psychose erkrankt, die im Rahmen einer bipolaren Störung (manische Episode mit psychotischen Symptomen) oder einer Schizophrenie zu sehen sei. Zwischenzeitlich habe sie sich jedoch wieder stabilisiert. Ihr sei von November 2019 bis Oktober 2022 medizinisches Cannabis verordnet worden. Nach dem psychischen Zusammenbruch im Oktober 2022 habe sie das Cannabis abgesetzt. Mit Blick auf diese Dauerbehandlung mit Cannabis forderte die Behörde die Antragstellerin auf, ein weiteres ärztliches Gutachten u.a. dazu beizubringen, ob bei ihr eine Grunderkrankung gegeben war, die die Verordnung von Medizinalcannabis gerechtfertigt habe. Das daraufhin erstellte ärztliche Gutachten des TÜV Süd verneint diese Frage. Es fehle an einer Indikation. Daraufhin entzog die Fahrerlaubnisbehörde der Antragstellerin die Fahrerlaubnis. Hiergegen erhob die Antragstellerin Klage und stellte zugleich einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, den das VG abgelehnt hat. Dagegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin, die erfolglos geblieben ist.
II. Entscheidung
Fahreignung bei Konsum von Medizinalcannabis
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG habe die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kfz erweist. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gelte dies insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde. Die Eignung zum Führen von Kfz bei ärztlich verordneter Einnahme von Medizinalcannabis richte sich nach Nr. 9 der Anlage 4 zur FeV. Danach entfalle bei Einnahme von ärztlich verordnetem Cannabis die Fahreignung grundsätzlich nicht schon wegen regelmäßigen Cannabiskonsums (Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV), wenn es sich um die bestimmungsgemäße Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels im Sinne von Nr. 3.14.2 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27.1.2014 (Vkbl S. 110). Insoweit definierten Nr. 9.4 und Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV speziellere Anforderungen für Eignungsmängel, die aus dem Gebrauch psychoaktiver Arzneimittel resultieren (VGH München zfs 2019, 414). Soll eine Dauerbehandlung mit Medizinalcannabis nicht zum Verlust der Fahreignung führen, setze dies voraus, dass die Einnahme von Cannabis indiziert und ärztlich verordnet ist, das medizinische Cannabis zuverlässig nur nach der ärztlichen Verordnung eingenommen wird, keine dauerhaften Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit festzustellen sind, die Grunderkrankung bzw. die vorliegende Symptomatik keine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung aufweist, die eine sichere Verkehrsteilnahme beeinträchtigt, und nicht zu erwarten ist, dass der Betroffene in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankung oder der Medikation beeinträchtigt ist, am Straßenverkehr teilnehmen wird (VGH Mannheim NJW 2023, 861; OVG Saarlouis zfs 2022, 57; Dauer in Hentschel/König/Dauer, StVR, 47. Aufl. 2023, § 2 StVG Rn 62a). Fehlt es bereits an der medizinischen Indikation, führe dies in der Regel zum Verlust der Fahreignung wegen regelmäßigen Konsums nach Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV. Davon ausgehend greife der Einwand der Antragstellerin, sie habe das medizinische Cannabis allein auf ärztlichen Rat konsumiert und könne nichts dafür, dass dies wohl nicht die ultima ratio gewesen sei, nicht durch. Wann die Verschreibung von Cannabis, das nach Anlage III zu § 1 Abs. 1 BtMG zu den verkehrs- und verschreibungsfähigen Betäubungsmitteln gehört, zu medizinischen Zwecken indiziert ist, ergebe sich u.a. aus § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 BtMG. Kommen andere Maßnahmen in Betracht, die zur Erreichung des Ziels geeignet sind, wie eine Änderung der Lebensweise, physiotherapeutische Behandlungen, eine Psycho- oder Verhaltenstherapie oder die Anwendung nicht den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes unterliegender Arzneimittel, sei diesen gem. § 13 Abs. 1 Satz 2 BtMG der Vorrang zu geben. Hier sei nicht erkennbar, dass die Behandlung der Antragstellerin mit Medizinalcannabis dem Ultima-Ratio-Grundsatz entsprochen hätte. Es komme auch nicht darauf an, ob sie auf die Ordnungsgemäßheit der ärztlichen Verordnung vertrauen durfte. Das Privileg, trotz regelmäßigen Konsums von (Medizinal-)Cannabis und sogar unter dessen Einfluss ein Kfz führen zu dürfen, sei auch dann, wenn der Betroffene verantwortungsvoll damit umgeht, mit einer Erhöhung der Gefahr im Straßenverkehr verbunden (AG Trier Blutalkohol 59 (2022), 149 = NZV 2022, 254 [Balschun]). Dies rechtfertigte es, die Privilegierung jedenfalls in dem der Gefahrenabwehr dienenden Fahrerlaubnisrecht allein von der objektiven Erfüllung der vorgenannten Voraussetzungen abhängig zu machen.
Voraussetzungen für Wiedererlangung
Im Hauptsacheverfahren werde die Frage der Wiedererlangung der Fahreignung allerdings voraussichtlich der weiteren Vertiefung bedürfen nach der Aufgabe des Drogenkonsums durch die Antragstellerin. In seiner älteren Rechtsprechung habe der Senat zwar angenommen, die Wiedererlangung der Fahreignung nach Aufgabe eines Drogenkonsums setze auch ohne Abhängigkeit – vorbehaltlich atypischer Fallgestaltungen – einen Mindestabstinenzzeitraum von einem Jahr voraus. Denn die Regelung in Nr. 9.5 der Anlage 4 zur FeV sei insoweit jedenfalls entsprechend anwendbar (VGH München VRS 109, 64). In seiner jüngeren Rechtsprechung habe der Senat jedoch entschieden, dass dem „Wiedererlangungseinwand“ unter Umständen auch schon vor Ablauf eines Jahres Bedeutung zukommen kann. Die Fahrerlaubnisbehörde dürfe danach zwar in der Regel einer notwendigen Mindestabstinenz von einem Jahr ausgehen. Die Länge der Mindestabstinenz bemesse sich aber nach fachlichen Kriterien bemisst und dazu auch die für die Begutachtungsstellen entwickelten Beurteilungskriterien mit in den Blick zu nehmen sind. Ergibt sich daraus ohne Weiteres ein Abstinenzerfordernis von weniger als einem Jahr, habe die Fahrerlaubnisbehörde der Frage der Wiedererlangung der Fahreignung daher auch schon vor Ablauf eines Jahres nach Aufgabe des Konsums nachzugehen (VGH München, Beschl. v. 5.10.2023 – 11 CS 23.1413). Dies werde auch mit Blick auf einen früheren illegalen Konsum von Cannabisnäher zu prüfen sein (wird näher ausgeführt).
III. Bedeutung für die Praxis
Fortführung der strengen Rechtsprechung
Der VGH München führt die strengen Anforderungen an das Vorliegen der Fahreignung beim Konsum von ärztlich verschriebenem Medizinalcannabis fort (näher zu Medizinalcannabis im Straßenverkehr Deutscher VRR 3/2024,5). Daran wird auch die geplante Legalisierung des Besitzes kleineren Mengen Cannabis nichts ändern (Deutscher a.a.O.). Von Bedeutung ist der Umstand, dass der VGH für die Wiedererlangung der Fahrerlaubnis von der strikten Mindestabstinenzzeitraum von einem Jahr abrückt hin zu einer stärker einzelfallbezogenen Beurteilung (ergänzend hierzu auch VGH München, Beschl. v. 9.1.2024 – 11 CS 23.2041).