Allgemeines
Der 62. Deutscher Verkehrsgerichtstag hat vom 24. bis 26.1.2024 in Goslar stattgefunden. Die Empfehlungen der acht Arbeitskreise kann man unter https://deutscher-verkehrsgerichtstag.de abrufen.
Ziehen: Rückwärtsfahren
Auch das Rückwärtsfahren mit einem Anhänger ist ein „Ziehen“ im Sinne von § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG.
BGH, Urt. v. 14.11.2023 – VI ZR 98/23
Betrieb eines Müllabfuhrfahrzeugs: Betriebsgefahr; Vorbeifahren
Die Gefahr, die von einer gerade entleerten Mülltonne auf der Straße für andere Verkehrsteilnehmer ausgeht, ist dem Betrieb des Müllabfuhrfahrzeugs zuzurechnen. Lässt sich beim Vorbeifahren an einem Müllabfuhrfahrzeug ein ausreichender Seitenabstand, durch den die Gefährdung eines plötzlich vor oder hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervortretenden Müllwerkers vermieden werden kann, nicht einhalten, so ist die Geschwindigkeit gemäß § 1, § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO so weit zu drosseln, dass der Verkehrsteilnehmer sein Fahrzeug notfalls sofort zum Stehen bringen kann.
BGH, Urt. v. 12.12.2023 – VI ZR 77/23
Unfallschadenregulierung: Werkstattrisiko I
Das Werkstattrisiko greift nicht nur für solche Rechnungspositionen greift, die ohne Schuld des Geschädigten etwa wegen unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Ansätze von Material oder Arbeitszeit überhöht sind. Ersatzfähig im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger sind vielmehr auch diejenigen Rechnungspositionen, die sich auf – für den Geschädigten nicht erkennbar – tatsächlich nicht durchgeführte einzelne Reparaturschritte und -maßnahmen beziehen. Denn auch insofern findet die Schadensbeseitigung in einer fremden, vom Geschädigten nicht kontrollierbaren Einflusssphäre statt.
BGH, Urt. v. 16.1.2024 – VI ZR 253/22
Unfallschadenregulierung: Werkstattrisiko II
Der Geschädigte darf bei Beauftragung einer Fachwerkstatt grundsätzlich darauf vertrauen, dass diese keinen unwirtschaftlichen Weg für die Schadensbeseitigung wählt. Er ist daher nicht gehalten, vor der Beauftragung der Fachwerkstatt zunächst ein Sachverständigengutachten einzuholen und den Reparaturauftrag auf dieser Grundlage zu erteilen. Aber auch wenn der Geschädigte ein Sachverständigengutachten einholt und die Auswahl des Sachverständigen der Werkstatt überlässt („Schadensservice aus einer Hand“), führt allein dies nicht zur Annahme eines Auswahl- oder Überwachungsverschuldens.
BGH, Urt. v. 16.1.2024 – VI ZR 51/23
Ersatz des Differenzschadens: Feststellungsinteresse
Macht der Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs gegen den Fahrzeughersteller einen deliktischen Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens geltend, besteht für einen Antrag auf Feststellung einer solchen Schadensersatzpflicht des Herstellers kein Feststellungsinteresse (Fortführung von BGH, Urt. v. 16.10.2023 – VIa ZR 37/21).
BGH, Urt. v. 18.12.2023 – VIa ZR 1083/22
Elektronisches Dokument: Einfache Signatur
Für die einfache Signatur eines Schriftsatzes gemäß § 130a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 ZPO genügt es, wenn am Ende des Schriftsatzes der Name des Verfassers maschinenschriftlich wiedergegeben ist (Anschluss an BGH, Beschl. v. 7.9.2022 – XII ZB 215/22, NJW 2022, 3512 Rn 10; BSG, NJW 2022, 1334; BAGE 172,186).
BGH, Beschl. v. 30.11.2023 – III ZB 4/23
Ersatzzustellung: Wirksamkeit
Eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten ist unwirksam, wenn auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks ein nicht eindeutig lesbares Datum vermerkt ist (§ 180 Satz 3 ZPO) und der Adressat deshalb den Zeitpunkt der Einlegung in den Briefkasten nicht ersehen kann.
OLG Koblenz, Urt. v. 13.12.2023 – 10 U 472/23
Nichteignung zur Bearbeitung des elektronischen Dokuments: Hinweis des Gerichts
Ist der gerichtliche Hinweis, dass ein elektronisches Dokument für das Gericht zur Bearbeitung nicht geeignet ist, möglicherweise nicht unverzüglich i.S.d. § 130a Abs. 6 Satz 1 ZPO erfolgt ist, gereicht dies der nachreichenden Partei nicht zum Nachteil, indem durch den verspäteten Hinweis die Heilungsmöglichkeiten entfielen.
OLG Düsseldorf. Urt. v. 30.11.2023 – 15 U 99/22
Entziehung der Fahrerlaubnis: Kenntnis vom bedeutenden Fremdschaden
Für die Annahme, dass dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis entzogen werden wird, § 111a StPO i.V.m. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB, muss sicher feststehen, dass der Beschuldigte wusste oder wissen konnte, dass ein bedeutender Fremdsachschaden durch ihn verursacht wurde.
AG Itzehoe, Beschl. v. 30.12.203 – 40 Gs 1774/23
Durchsuchung: Verhältnismäßigkeit
Eine Durchsuchung ist nicht bereits deshalb unzulässig, weil lediglich die Einkommensverhältnisse des Beschuldigten ermittelt werden sollen. Die Anordnung einer solchen Durchsuchung ist aber unzulässig, wenn naheliegende und grundrechtsschonende Ermittlungsmaßnahmen zur Verfügung gestanden haben, die ohne greifbare Gründe unterblieben sind. In Betracht kommen insoweit die Befragung des Beschuldigten über seinen Verteidiger zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen, bei Beamten ggf. eine Anfrage bei der Besoldungsstelle des Beschuldigten sowie darüber hinaus eine Anfrage bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin-Abfrage).
BVerfG, Beschl. v. 15.11.2023 – 1 BvR 52/23
Adhäsionsverfahren: Antragsberechtigung
Antragsberechtigt im Adhäsionsverfahren ist auch, wer einen fremden Anspruch im eigenen Namen im Wege sogenannter gewillkürter Prozessstandschaft geltend macht.
BGH, Beschl. v. 14.11.2023 – 6 StR 495/23
Terminsverlegung: Schlechtwetterwarnung
Öffentliche (Schlecht)Wetterwarnungen sind für die Frage einer Terminsverlegung nicht maßgeblich. Maßgeblich sind vielmehr die tatsächlich herrschenden Verhältnisse, wie sie am Verhandlungstag (nach eigener Wahrnehmung des Gerichts) einzuordnen sind.
AG Germersheim, Beschl. v. 16.1.2024 – 1 OWi 7282 Js 8075/23
Einstellung des Verfahrens: Bedienungsanleitung/Rohmessdaten
Werden dem Verteidiger Rohmessdaten und Bedienungsanleitung entgegen entsprechenden Antrags und auch entgegen der Anordnung des Gerichts vorenthalten, so ist das Verfahren nach § 47 OWiG einzustellen, wenn eine Durchsuchung des Polizeipräsidiums unverhältnismäßig erscheint.
AG Dortmund, Beschl. v. 14.12.2023 – 729 OWi-260 Js 2315/23-135/23
Messunterlagen: Messreihe und Token
Dem Verteidiger ist auf seinen Antrag die vollständige Messreihe zu einer Geschwindigkeitsmessung zur Verfügung zu stellen, das ohne die Herausgabe der entsprechenden Daten der Anspruch auf des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt würde. Die Herausgabe des (öffentlichen) Token kann hingegen nicht verlangt werden.
AG Köln, Beschl. v. 9.1.2024 – 811 225/23 (b)
Erkennungsdienstliche Maßnahme: Entziehung der Fahrerlaubnis/Sperrfrist
Die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB und die Anordnung einer Sperrfrist reichen nicht für die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Maßnahme nach § 81b Abs. 2 Nr. 2 StPO, da dieser voraussetzt, dass eine freiheitsentziehende Maßregel der. Besserung und Sicherung vorliegen muss.
AG Limburg, Beschl. v. 22.12.2023 – 56 Cs 6 Js 13372/22 (42/23)
beA: Wiedereinsetzung
Es stellt ein Verschulden i.S.v. § 60 Abs. 1 VwGO dar, die für das Erstellen des fristgebundenen Schriftsatzes notwendige Synchronisation zwischen dem lokalen PC des Anwalts und einem Arbeitssystem auf einem Server in einem weit entfernten Rechenzentrum erst fünf Minuten vor dem Ende der Rechtsmittelbegründungsfrist durchzuführen. Diese Synchronisation ist auf Leitungen außerhalb der Kanzlei und die Übermittlung über Internetverbindungen angewiesen. Daher müssen bei pflichtgemäßem Handeln ausreichende Zeitreserven für diese Synchronisation eingeplant werden.
VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 14.12.2023 – 1 S 1173/23
Rechtsverteidigungskosten: Verfristete Berufungsbegründung
Ist der Berufungskläger einem Hinweis des Berufungsgerichts, wegen Nichtwahrung der Frist zur Berufungsbegründung sei beabsichtigt, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen, schriftsätzlich entgegengetreten, sind die durch einen Antrag auf Berufungszurückweisung entstandenen Kosten auch dann erstattungsfähig im Sinne von § 91 Abs. 2 S. 1 ZPO, wenn der Berufungskläger seine Berufung später zurücknimmt. (Orientierungssätze des Gerichts)
BAG, Beschl. v. 15.12.2023 – 9 AZB 13/23
Festsetzung des Gegenstandswertes: Vorschuss
Der Antrag auf (vorläufige) Festsetzung des Gegenstandswerts gemäß § 33 Abs. 1 RVG kann nicht auf das Recht auf Vorschuss gemäß § 9 RVG gestützt werden.
BFH, Beschl. v. 30.10.2023 – IV S 26/23