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Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge nach Drogenfahrt mit E-Scooter

§ 3 FeV verstößt gegen die aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 bis 3, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) abgeleiteten Gebote der hinreichenden Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit rechtlicher Regelungen und ist daher keine Grundlage für die Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge (etwa E-Scooter oder Fahrräder; Anschluss an VGH München, Urt. v. 17.4.2023 – 11 BV 22.1234). (Leitsatz des Verfassers)

VGH München, Beschl. v. 12.7.202311 CS 23.551

I. Sachverhalt

Führen fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge untersagt

Nach einer Trunkenheits- und Drogenfahrt mit einem Kfz wurde dem Antragsteller 2018 strafrechtlich die Fahrerlaubnis entzogen. Nach einer weiteren Trunkenheitsfahrt (AAK 0,25 mg/l) mit einem E-Scooter forderte die Verwaltungsbehörde den Antragsteller gestützt auf § 13 Satz 1 Nr. 2b FeV auf, ein MPU-Gutachten zu seinem Trennvermögen hinsichtlich fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge beizubringen. Nachdem der Antragsteller kein Gutachten beigebracht hatte, wurde ihm das Führen fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge untersagt und die sofortige Vollziehung des Beschieds angeordnet. Der Antragsteller hat beim VG die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der zugleich erhobenen Klage beantragt. Das VG hat den Antrag als unbegründet abgelehnt. Auf die Beschwerde des Antragstellers hat der VGH die aufschiebende Wirkung der Klage wiederhergestellt.

II. Entscheidung

§ 3 FeV ist nicht hinreichend bestimmt

Die Beschwerde sei begründet. Der angefochtene Bescheid sei bereits deshalb offensichtlich rechtswidrig, weil die Rechtsgrundlage, auf die er gestützt ist, § 3 FeV, nicht dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht. Damit werde die Klage gegen die Untersagung, fahrerlaubnisfreie Fahrzeuge im öffentlichen Straßenverkehr zu führen, voraussichtlich Erfolg haben. Bei der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO sei eine Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs vorzunehmen. Erweist sich wie hier der angefochtene Verwaltungsakt im Rahmen einer summarischen Prüfung als rechtswidrig, sei das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts i.d.R. zu verneinen.

Voraussetzungen für Eingriff nur lückenhaft

In seiner Entscheidung vom 17.4.2023 (11 BV 22.1234 Rn 30 ff.) habe der Senat näher ausgeführt, dass und aus welchen Gründen § 3 FeV gegen die aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 bis 3, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) abgeleiteten Gebote der hinreichenden Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit rechtlicher Regelungen verstößt. Dabei sei einerseits maßgebend, dass § 3 Abs. 1 Satz 1 FeV die Fahrerlaubnisbehörde zu schwerwiegenden Eingriffen in die durch die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) geschützte Mobilität) des Betroffenen ermächtigt. Die Teilnahme am Straßenverkehr mit fahrerlaubnisfreien Fahrzeugen, insbesondere mit dem Fahrrad, könne für die private Lebensgestaltung des Einzelnen, einschließlich der Ausbildung und Berufsausübung, von erheblicher Bedeutung sein (BVerwGE 171, 17 = NJW 2021, 1970). Was die Festlegung von Anlass, Zweck und Grenzen des Eingriffs durch den Normgeber betrifft, sei andererseits festzustellen, dass die materiellen Voraussetzungen, unter denen ein Eingriff nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FeV erfolgen darf, nur sehr lückenhaft geregelt sind. Insbesondere sei nicht ausreichend klar geregelt, in welchen Fällen sich der Führer fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge als ungeeignet bzw. nur noch bedingt geeignet erweist und wann Eignungszweifel im Sinne von § 3 Abs. 2 FeV gerechtfertigt sind.

Kriterien für Eignungszweifel fehlen

Soweit die amtliche Begründung zu § 3 FeV (BR-Drucks 443/98, S. 237) hierzu auf § 2 Abs. 4 StVG („wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder nicht wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat“) verweist, beziehe sich diese Begriffsdefinition ausdrücklich nur auf die Kraftfahreignung. Ein den Anlagen 4 bis 6 zur FeV vergleichbares Regelwerk, das zur Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe der körperlichen und geistigen Anforderungen diejenigen Erkrankungen und Mängel aufführt, die die Eignung zum Führen von Kfz im Regelfall längere Zeit beeinträchtigen oder aufheben können, fehle für Fahrzeuge, die keine Kfz sind. Auch aus § 3 Abs. 2 FeV, wonach die Vorschriften der §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung finden, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Führer eines Fahrzeugs oder Tieres zum Führen ungeeignet oder nur noch bedingt geeignet ist, lasse sich kein hinreichend bestimmter Anhalt für spezifische Eignungszweifel gewinnen. Wegen der Unterschiede zwischen Kfz und sonstigen Fahrzeugen in Größe und Gewicht, den Fahreigenschaften, der erreichbaren Fahrgeschwindigkeit, in Bedienung und Art der Benutzung und in ihrem Gefahrenpotenzial wäre es jedenfalls rechtlich unzulässig, identische physische und psychische Anforderungen an das Führen von fahrerlaubnispflichtigen und -freien Fahrzeugen zu stellen. Soweit §§ 11 bis 14 FeV nur dann entsprechend angewendet werden sollen, als nach ihrem Inhalt nicht das Führen fahrerlaubnispflichtiger Fahrzeuge vorausgesetzt ist, würden damit die Fragen, welche – vor allem auf physiologische bzw. pathologische und psychologische Eigenschaften des Fahrers zurückzuführenden – Mängel im Einzelfall relevant sind und unter welchen konkreten Voraussetzungen die in den §§ 11 bis 14 FeV vorgesehenen Gefahrerforschungsmaßnahmen getroffen werden dürfen, nicht geklärt. Den Fahrerlaubnisbehörden stünden auch keine den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (vom 27.1.2014 [VkBl S. 110] in der Fassung vom 17.2.2021 [VkBl S. 198]) vergleichbaren verkehrsmedizinischen antizipierten Sachverständigengutachten zur Verfügung, die den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zu Eignungsmängeln beim Führen fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge wiedergeben würden, oder entsprechend entwickelte Beurteilungskriterien der Deutschen Gesellschaften für Verkehrspsychologie und Verkehrsmedizin, aus denen sich die in Nr. 1 Buchst. c der Anlage 4a zur FeV der Fahreignungsbegutachtung zugrunde zu legenden anerkannten wissenschaftlichen Grundsätze ergeben). Rechtsprechung liege fast ausschließlich zu Trunkenheitsfahrten, kaum zu Fahrten unter Drogeneinfluss vor. Entscheidungen zu Eignungsmängeln aufgrund pathologischer Zustände oder charakterlicher Mängel sind nicht ersichtlich. In Anbetracht dessen, dass die Beurteilung von Eignungsmängeln häufig medizinisch-psychologischen Sachverstand erfordert, bestünden daher erhebliche Zweifel daran, dass die Fahrerlaubnisbehörden in der Lage sind, ihr Auswahlermessen auf der Grundlage allgemeiner Lebenserfahrung auszuüben. Das werde allenfalls bei schweren Erkrankungen oder Behinderungen möglich sein.

Erforderliche Maßnahmen unklar

Daher sei weiter davon auszugehen, dass die entsprechende Anwendung dieser Vorschriften auch nicht erforderliche sowie unangemessene Maßnahmen beinhaltet und damit nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt. Es wäre geboten, an die Eignung zum Führen fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge weniger hohe Anforderungen zu stellen als an die Eignung zum Führen fahrerlaubnispflichtiger Kraftfahrzeuge und ggf. zwischen fahrerlaubnisfreien Kfz und sonstigen Fahrzeugen, darunter insbesondere dem Fahrrad, zu differenzieren.

III. Bedeutung für die Praxis

Gesetzgeber muss tätig werden

Schon seit einiger Zeit ist zu dieser Frage ein immer lauter werdendes Donnergrollen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu vernehmen. Das BVerwG (BVerwGE 171, 1 Rn 39 = NJW 2021, 1970) hat sich dahingehend geäußert, die vorhandenen Regelungen würden eine Reihe von Auslegungsfragen, auch solche des Verfassungsrechts, aufwerfen. Nachdem der VGH München (VRR 4/2022, 30 [Burhoff]) trotz Zweifeln die Untersagung des Führens fahrerlaubnisfreier Kfz nach einer Drogenfahrt mit einem E-Scooter für zulässig erachtet, hat er nunmehr die Ermächtigungsgrundlage zur Untersagung des Führens von fahrerlaubnisfreien Fahrzeugen in § 3 FeV mit eingehender Begründung überzeugend als nicht hinreichend bestimmt angesehen, die Revision zum BVerwG aber zugelassen (Urt. v. 17.4.2023 – 11 BV 22.1234, SVR 2023, 274 [Koehl]). Das bekräftigt der VGH München in dem vorliegenden Beschluss zu § 80 Abs. 5 VwGO. Hier wird der Gesetzgeber in dem vom Gericht aufgezeigten Sinn tätig werden müssen (ebenso die Empfehlung des AK V des VGT 2023, NZV 2023, 76; eingehend Borgmann NZV 2023, 300; zum aktuellen Stand bei E-Scootern Deutscher VRR 2023, 5).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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