1. Das Vorschriftszeichen 220 in Verbindung mit § 41 Abs. 1 StVO gebietet, dass die Einbahnstraße nur in vorgeschriebener Fahrtrichtung befahren werden darf. Verboten ist auch das Rückwärtsfahren entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung. Lediglich (unmittelbares) Rückwärtseinparken („Rangieren“) ist – ebenso wie Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück auf die Straße – kein unzulässiges Rückwärtsfahren auf Richtungsfahrbahnen gegen die Fahrtrichtung.
2. Zur Anwendung des Anscheinsbeweises bei einem Verkehrsunfall (hier: Zusammenstoß eines aus einer Grundstückszufahrt auf eine Einbahnstraße einfahrenden Fahrzeugs mit einem auf der Einbahnstraße unzulässig rückwärts fahrenden Fahrzeug). (Leitsätze des Gerichts)
I. Sachverhalt
Kollision nach Rückwärtsfahrt in Einbahnstraße
Der Kläger nimmt die Beklagten nach einem Verkehrsunfall auf Ersatz weiteren materiellen Schadens in Anspruch. Der Kläger stellt sein Fahrzeug vorwärts in einer Grundstückszufahrt ab, die sich an einer Einbahnstraße rechtwinklig in Fahrtrichtung rechts befindet. Die Beklagte zu 1 war mit einem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Fahrzeug in Fahrtrichtung der Einbahnstraße an der Grundstückszufahrt vorbeigefahren. Sie hielt im Bereich einer gerade freiwerdenden Parklücke, die sich links parallel zur Fahrbahn befindet und etwa auf Höhe der Grundstückszufahrt beginnt, um in diese einzufahren. Die Fahrzeuge stießen zusammen, als der Kläger aus der Grundstückszufahrt rückwärts in einem Rechtsbogen auf die Einbahnstraße fuhr und die Beklagte zu 1 auf der Einbahnstraße einige Meter rückwärts fuhr, um dem aus der Parklücke herausfahrenden Fahrzeug Platz zu machen. Das Fahrzeug des Klägers wurde an der linken Seite beschädigt. Vorgerichtlich regulierte die Beklagte zu 2 auf der Grundlage einer Haftungsquote der Beklagten von 40 %. Mit seiner Klage macht der Kläger die restlichen 60 % geltend. Das AG hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das LG die Klage abgewiesen. Dieses Urteil hat der BGH auf die Revision aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
II. Entscheidung
Rückwärtsfahrt verboten
Die Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 BGB oder des § 17 StVG sei grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob der Tatrichter alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt hat. Die Abwägung sei aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie sei hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (BGH NJW 2023, 1361 Rn 29; NJW 2022, 1810 Rn 8 = VRR 10/2022, 10 [Nugel]). Bei der Abwägung hätte berücksichtigt werden müssen, dass die Beklagte zu 1 die Einbahnstraße in unzulässiger Weise rückwärts befuhr. Denn die Beklagte zu 1 habe gegen das durch das Vorschriftszeichen 220 in Verbindung mit § 41 Abs. 1 StVO angeordnete Gebot verstoßen. Das Vorschriftszeichen 220 gebiete, dass die Einbahnstraße nur in vorgeschriebener Fahrtrichtung befahren werden darf. In der Gegenrichtung stehe sie dem Fahrzeugverkehr auf der Fahrbahn grundsätzlich nicht zur Verfügung (BGH NJW 1982, 334, juris Rn 10). Auf die Stellung des Fahrzeugs im Verhältnis zur vorgeschriebenen Fahrtrichtung komme es nicht an. Verboten sei auch das Rückwärtsfahren entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung (OLG Düsseldorf, NJW-RR 2018, 657, 658, juris Rn 22; OLG Karlsruhe, DAR 1978, 171). Lediglich (unmittelbares) Rückwärtseinparken („Rangieren“) sei – ebenso wie Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück auf die Straße – kein unzulässiges Rückwärtsfahren auf Richtungsfahrbahnen gegen die Fahrtrichtung (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O., Rn 20). Demgegenüber sei Rückwärtsfahren auch dann unzulässig, wenn es dazu dient, erst zu einer (freien oder freiwerdenden) Parklücke zu gelangen (OLG Düsseldorf a.a.O., Rn 22; OLG Karlsruhe, a.a.O.; König, in: Hentschel/König/Dauer, StVR, 47. Aufl. 2023, § 9 StVO Rn 51, § 41 StVO Rn 248b; a.A. Burmann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht 27. Aufl., § 9 StVO Rn 67). Entsprechendes gelte, wenn das Rückwärtsfahren dazu dient, einem Fahrzeug die Ausfahrt aus einer Parklücke zu ermöglichen, um anschließend selbst in diese einfahren zu können. Nach den getroffenen Feststellungen fuhr die Beklagte zu 1 einige Meter rückwärts, um einem ausparkenden Fahrzeug Platz zu machen.
Kein Anscheinsbeweis gegen Unfallgegner
Der Senat führt weiter aus, dass hier kein Anscheinsbeweis für einen schuldhaften Verstoß des Klägers gegen § 9 Abs. 5, § 10 S. 1 StVO eingreife. Die Anwendung des Anscheinsbeweises setze auch bei Verkehrsunfällen einen Geschehensablauf voraus, bei dem sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat; es müsse sich um einen Sachverhalt handeln, für den nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist. Es reiche allerdings allein das „Kerngeschehen“ als solches dann als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Denn es müsse das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten im Rahmen des Unfallereignisses der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, könne nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden. Zudem sei bei der Anwendung des Anscheinsbeweises grundsätzlich Zurückhaltung geboten, weil er es erlaubt, bei typischen Geschehensabläufen aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt ist (BGH NJW 2016, 1098 Rn 14 = VRR 5/2016, 7 [Küppers]). Zwar könne bei einem Unfall im Zusammenhang mit dem Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück auf eine Straße grundsätzlich der erste Anschein dafür sprechen, dass der rückwärts Einfahrende seinen Sorgfaltspflichten nicht nachkam und den Unfall dadurch (mit)verursachte. Jedoch liege hier die für die Anwendung des Anscheinsbeweises erforderliche Typizität schon deshalb nicht vor, weil die Beklagte zu 1 die Einbahnstraße in unzulässiger Weise rückwärts befuhr. Es existiere kein Erfahrungssatz, wonach sich der Schluss aufdrängt, dass unter diesen Umständen den rückwärts aus der Grundstückszufahrt auf die Einbahnstraße einfahrenden Kläger ein Verschulden trifft (OLG Köln, VersR 1992, 332, 333; König, in: Hentschel/König/Dauer, § 10 StVO Rn 11 f.).
III. Bedeutung für die Praxis
Bestätigung der OLG-Rechtsprechung
Zum Verbot des Rückwärtsfahrens in Einbahnstraßen bestätigt der BGH die Linie der zitierten OLG. Dies gilt auch für das Rückwärtsfahren zum Einparken, soweit dies nicht auf unmittelbares Rangieren an der Parklücke beschränkt ist. Auch dieses verlangt aber ständige Rückwärtsbeobachtung bei sofortiger Anhaltebereitschaft (OLG Frankfurt/Main VersR 1973. 968). Die Entscheidung ist auch für das Bußgeldrecht von Bedeutung, da Sachverhalte wie der hier entschiedene durchaus öfter zu beobachten sind bei oftmals noch längeren Strecken des Rückwärtsfahrens (Ordnungswidrigkeit nach § 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO, Nr. 139 BKat). Zur Haftungsverteilung bei Parkplatzunfällen und zum Anscheinsbeweis zu Lasten eines Rückwärtsfahrenden BGH NJW 2017, 1175.