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Kein Anspruch auf Überlassung der gesamten Messreihe des Tattages

1. Die Nichtherausgabe der Messreihe des Tattages verletzt den Betroffenen eines Bußgeldverfahrens nicht in seinem Recht auf ein faires Verfahren.

2. Die Einlassung des Betroffenen ist auch hinsichtlich der möglichen Rechtsfolgen wiederzugeben. (Leitsätze des Verfassers)

OLG Oldenburg, Beschl. v. 9.11.20232 ORbs 188/23

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 338 EUR verurteilt und ein Fahrverbot von einem Monat angeordnet. Die Verteidigung hatte u.a. die Überlassung der Falldatensätze der gesamten Messreihe des Tattags beantragt und zur Begründung ausgegeführt, dass der Tatvorwurf auf breiterer Grundlage geprüft und insbesondere nach etwaigen, allen Messungen anhaftenden, aber der Messung des Betroffenen nicht zu entnehmenden Fehlern gesucht werden sollte, die die Messbeständigkeit des Gerätes infrage stellen könnten, und nach denkbaren, auf einen Umbau oder eine ungewollte Neuausrichtung während des Messbetriebes hindeutenden Veränderungen der Bildausschnitte. Hierzu zählten weiterhin eine mögliche Veränderung der Fotoposition und/oder der Messgeometrie. Mit der Rechtsbeschwerde rügt die Verteidigung die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren und die unzulässige Beschränkung der Verteidigung.

II. Entscheidung

Der Senat (auf den die Entscheidung gem. § 80a Abs. 3 OWiG übertragen worden ist) hebt das Urteil im Rechtsfolgenausspruch mit den insoweit getroffenen Feststellungen auf und verwirft die Rechtsbeschwerde im Übrigen als unbegründet.

Frage zwischen den Oberlandesgerichten umstritten

Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren durch Nichtherausgabe der Messdaten des gesamten Tattages verneint das OLG. Die Frage ist in der Rspr. der Oberlandesgerichte umstritten. Während das OLG Jena (Beschl. v. 17.3.2021, 1 OLG 331 SsBs 23/20, VRR 5/2021, 19), das OLG Stuttgart (zfs 2021 647 und zfs 2021, 709) und das OLG Köln (VRR 10/2023, 25) einen Anspruch der Verteidigung auf Einsichtnahme auch hinsichtlich der gesamten Messreihe bejahen, verneinen das BayObLG (DAR 2021, 104 = VRR 1/2021, 14 = StRR 2/2021, 41), das OLG Zweibrücken (VRR 7/2021, 22) und das OLG Koblenz (DAR 2022, 218 = VRR 3/2022, 29) einen solchen Anspruch.

Keine Pflicht zur Divergenzvorlage an den BGH

Das OLG Oldenburg schließt sich der letztgenannten Auffassung an und verneint zunächst eine Pflicht zur Divergenzvorlage an den BGH (§§ 121 Abs. 2 GVG, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG). Der BGH hat Divergenzvorlagen der Oberlandesgerichte Koblenz und Zweibrücken jeweils als unzulässig zurückgewiesen und daher bisher in der Sache nicht entschieden (BGH NStZ 2023, 619 = VRR 7/2023, 26 und NStZ-RR 2022, 220 = VRR 5/2022, 22). Es liege keine rechtliche Divergenz vor. Bei der Frage der potenziellen Beweisbedeutung der Messdaten handele es sich vielmehr um eine tatsächliche Frage (Tatfrage), die einer Vorlegung nach den §§ 121 Abs. 2 GVG, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG nicht zugänglich sei.

Kein Einsichtnahmeanspruch

Zur Begründung, warum nach der Auffassung des OLG kein Anspruch auf Herausgabe der Messdaten des gesamten Tattages besteht, nimmt das OLG Bezug auf den Beschluss des OLG Koblenz v. 17.11.2020 – 1 OWi 6 SsRs 271/20 (NZV 2021, 201 ff.) und insbesondere auf die dort wiedergegebene Stellungnahme der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Das Vorbringen des Beschwerdeführers erschöpfe sich in der „Spekulation“, aus den Messreihenbildern könnten sich Anhaltspunkte dafür ergeben, die die Messbeständigkeit des Gerätes in Frage stellen könnten. Einer Einsichtnahme in andere, dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Messdaten bedürfe der Betroffene zur Überprüfung der von ihm genannten Gesichtspunkte nicht.

Urteilsaufhebung im Rechtsfolgenausspruch

Erfolg hatte die Rechtsbeschwerde lediglich hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs, weil das angefochtene Urteil nicht erkennen ließ, wie der Betroffene sich insoweit eingelassen hat. Aus den Protokollanlagen ergab sich, dass die Frage der Auswirkung eines Fahrverbotes auf ein Beschäftigungsverhältnis des Betroffenen problematisiert worden ist. Gleichwohl fand sich in den Entscheidungsgründen zu einer entsprechenden Einlassung des Betroffenen nichts. Damit vermochte das OLG nicht zu prüfen, ob die Anordnung des Fahrverbotes bzw. das Nichtabsehen von dessen Verhängung ausreichend begründet worden ist.

III. Bedeutung für die Praxis

Grundsätze über das standardisierte Messverfahren verkannt

Die Entscheidung des OLG vermag nicht zu überzeugen, insbesondere vor dem Hintergrund der Rspr. des BVerfG (BVerfG NJW 2021, 455 Rn 57; VRR 1/2021, 4). Nach den Grundsätzen über das standardisierte Messverfahren hat der Betroffene das Recht, zur Stellung eines Beweisantrags, dem das Gericht dann nachzugehen hat, konkrete Anhaltspunkte für eine unzutreffende Messung eigeninitiativ zu ermitteln und vorzutragen. Wie das BVerfG ausdrücklich ausgeführt hat, kann die Verteidigung „grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen“ (BVerfG NJW 2021, 455 Rn 57; VRR 1/2021, 4). Hingegen obliegt es weder den Gerichten noch sind sie dazu befugt, das Einsichtnahmerecht des Betroffenen mit der Begründung einzuschränken, dass das Gericht (oder gar die PTB) meint, dass der Betroffene der Einsichtnahme in die begehrten Unterlagen und Dateien nicht bedürfe, weil sich daraus – nach Auffassung des Gerichts – nichts Relevantes ergeben werde. Den Messdaten des gesamten Tattags wird man aus der maßgeblichen Sicht der Verteidigung die erforderliche mögliche Relevanz nicht absprechen können (zutr. OLG Köln VRR 10/2023, 25). Denn der vom Betroffenen zu beauftragende Sachverständige wird diese Daten etwa verwenden können (und dieser Daten gerade bedürfen), um die Richtigkeit der Messung des Betroffenen auf ihre Plausibilität überprüfen zu können oder aber gerade Zweifel daran zu belegen (vgl. bereits Cierniak zfs 2012, 664 ff. zu IV. 3. a) mit technischen Beispielen und nunmehr OLG Köln VRR 10/2023, 25; vgl. Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 7. Aufl., 2024, im Erscheinen).

Fazit

Nachdem der BGH eine Entscheidung in der Sache (im Rahmen des Verfahrens der Divergenzvorlage) nicht getroffen hat und auch das BVerfG zuletzt mit nicht überzeugenden Ausführungen zur vermeintlichen Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde (VRR 8/2023, 29; abl. Verf., DAR 2023, 446 ff.) eine Sachentscheidung nicht getroffen hat, hat sich die Hoffnung, dass in dem fortwährenden Streit um das Recht der Verteidigung auf Einsichtnahme in die Messunterlagen bundesweit akzeptierte Grundsätze auf der Grundlage der Vorgaben des BVerfG (NJW 2021, 455 Rn 57; VRR 1/2021, 4) durch die Rspr. entwickelt werden könnten, nicht realisiert – wie der vorliegende Beschluss des OLG Oldenburg erneut zeigt. Das ist in diesen für das Ordnungswidrigkeitenverfahren bedeutsamen Rechtsfragen nicht hinnehmbar (erst recht nicht als Dauerzustand). Namentlich in den Massenverfahren der Verkehrsordnungswidrigkeiten ist es nicht akzeptabel, dass je nach vermeintlichem Tatort eine staatliche Verfahrensweise einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren darstellt, in einem anderen OLG-Bezirk hingegen nicht. Es bedarf daher einer Regelung durch den Gesetzgeber – wie dies der 58. Verkehrsgerichtstag 2020 empfohlen hat. In einem Gesetzgebungsverfahren kann dann auch (unter Hinzuziehung von Sachverständigen) geklärt werden, ob und in welchen Fällen, etwa aus den Messdaten des gesamten Tattages relevante Schlussfolgerungen hinsichtlich der Richtigkeit der Messung gezogen werden können oder nicht.

RiLG Prof. Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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