1. Jeder Fahrgast ist grundsätzlich dafür selbst verantwortlich, dass er nicht zu erwartende Bewegung eines Busses nicht zu Fall kommt und muss mit plötzlichen Bremsmanövern rechnen.
2. Bei einem Sturz des Fahrgastes verdrängt daher sein eigenes Verschulden, wenn er sich nicht ordnungsgemäß festgehalten hat, grundsätzlich die Gefährdungshaftung aus der einfachen Betriebsgefahr.
3. Hat jedoch auch der Busfahrer eine entscheidende Ursache durch eine schuldhaft vorgenommene Notbremsung gesetzt. Kann eine Haftungsteilung mit jeweils 50 % geboten sein. (Leitsätze des Verfassers)
I. Sachverhalt
Sturz der Klägerin als Fahrgast
Die zum Unfallzeitpunkt 82 Jahre alte Klägerin fuhr als Passagierin in einem Linienbus, als der Busführer auf einmal während des Abbiegevorganges eine Fußgängerin nicht rechtzeitig bemerkt und deswegen eine Vollbremsung durchgeführt hat. Durch diese plötzliche Bremsung stürzte die Klägerin, der es nicht gelungen war, sich an einer Haltestange festzuhalten und verletzte sich. Die Klägerin machte nunmehr im erheblichen Umfang materiellere und immaterielle Schadensersatzansprüche geltend.
II. Entscheidung
Fahrer nimmt schuldhaft eine Notbremsung vor
Das OLG ist nach der durchgeführten Beweisaufnahme und der Sichtung einer Videoaufzeichnung aus dem Bus davon ausgegangen, dass es sich keine übliche Betriebsbremsung im Straßenverkehr durch den Busführer gehandelt, sondern in der Tat eine starke Notbremsung vorgelegen hat. Dies hat darauf beruht, dass der Busfahrer nicht die gebotene Sorgfalt beachtet hat. Zu seinen Lasten wäre dazu berücksichtigen, dass er dabei schuldhaft eine Notbremsung vorgenommen hat, die vermeidbar gewesen wäre.
Mitverschulden da Klägerin, da kein fester Halt
Allerdings müsse sich die Klägerin sich auch ein Mitverschulden gem. § 9 StVG, 254 BGB entgegenhalten lassen. Zwar wäre zu ihren Lasten nicht von einem Beweis des ersten Anscheins für ein von ihr selber verursachten Sturz auszugehen, da hier mit der starken Notbremsung des Busses ein außergewöhnliches Fahrereignis vorliegen würde, bei dem der Anwendungsbereich eines Anscheinsbeweises nicht eröffnet wäre. Dessen ungeachtet wäre jedoch zu beachten, dass jeder Fahrgast grundsätzlich selber dafür verantwortlich ist, dass er durch typische oder zu erwartende Bewegung eines Busses nicht zu Fall kommt. Gerade bei einem wie hier fortgeschrittenen Alter der Klägerin als Fahrgast wäre es erforderlich gewesen, sich sicher mit beiden Händen an der Haltestange festzuhalten. Diesem war die Klägerin offenkundig nicht nachgekommen, da sie sich nur einhändig festgehalten und bereits ihren sicheren Sitzplatz verlassen hätte, obwohl der Bus noch lange nicht im Bereich einer Haltebucht angekommen war.
Haftungsquote mit Verschulden von jeweils 50 %
Grundsätzlich würde zwar das Eigenverschulden des Fahrgastes die einfache Betriebsgefahr des betroffenen Busses verdrängen. Da hier aber auch ein erhebliches Verschulden des Busführers vorliegen würde wäre eine entsprechende Haftungsteilung geboten, sodass die Klägerin sich eine Mithaftung in Höhe von 50 % entgegenhalten lassen müsste.
III. Bedeutung für die Praxis
Fahrgast muss sich festen Halt verschaffen
Das OLG Schleswig hatte über eine Situation zu entscheiden, die bei mit dem Sturz vom Businsassen als Ausgangsposition häufig auftritt: Insoweit ist zu beachten, dass jeder Fahrgast grundsätzlich in der Tat selber dafür verantwortlich ist, dass er eine entsprechende Bewegung eines Busses berücksichtigt und nicht zu Fall kommt (vgl. KG, Urt. v. 7.5.2012 – 22 O 251/11). Hierzu gehört es auch, sich mit beiden Händen je nach Umstand des Einzelfalls an einer Haltestange festzuhalten, um sich einen sicheren Stand und Halt zu verschaffen (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.2.2015 – I U 71/14).
Anscheinsbeweis kann zu Lasten des Fahrgasts eingreifen
Unter Umständen kann hier auch der Anscheinsbeweis zulasten des Fahrgastes eingreifen: Stürzt der Fahrgast jedenfalls im Bus während der Fahrt, spricht gegen ihn typischerweise der Beweis des ersten Anscheins (OLG Oldenburg, Urt. v. 6.7.1999 – 5 U 62/99) und es ist grundsätzlich erst einmal von einem Alleinverschulden des Fahrgastes auszugehen (OLG Bremen, Urt. v. 19.9.2007 – 1 U 44/07). Als Fahrgast muss er jedenfalls damit rechnen, dass – außerhalb von Fahrfehlern – bei der Fahrt ruckartige Bewegungen des Verkehrsmittels auftreten können, die seine Standsicherheit beeinträchtigen. Er ist daher selbst dafür verantwortlich, dass er durch typische und zu erwartende Bewegungen einer Straßenbahn oder eines Linienbusses nicht zu Fall kommt und muss sich einen Halt auch gegen unvorhersehbare Bewegungen verschaffen und jederzeit mit einem scharfen Bremsen des Verkehrsmittels rechnen (KG, Beschl. v. 1.3.2010 – 12 U 95/09).
Mithaftung des Halters & Busfahrers nur bei bewiesenem Verschulden
Üblicherweise führt eine solche Konstellation dazu, dass erst einmal den Fahrgastinsassen ein eigenes erhebliches Verschulden trifft und dahinter im Regelfall auch die einfache Betriebsgefahr des betroffenen Transportmittels, hier in Form eines Busses, im vollen Umfang zurücktritt. Dies kann sich allerdings dann ändern, wenn auch den Fahrzeugführer ein Verstoß gegen die StVO entgegengehalten werden kann (vgl. zu Haftung OLG Hamm, Urt. v. 29.4.2022 – 11 U 198/21). Macht der Insasse aber als Fahrgast eines Linienbusses einen Fahrfehler des Busfahrers als Ursache für seinen Sturz im Bus geltend, so hat er diesen darzulegen und zu beweisen; allein aus dem Umstand, dass der Insasse zu Fall gekommen ist, ergibt sich kein Anzeichens- oder Anscheinsbeweis für eine sorgfaltswidrige Fahrweise des Busfahrers (KG, Beschl. v. 28.10.2010 – 12 U 62/10).
Dieser Nachweis ist vorliegend jedoch geglückt: Hier war zulasten des Busfahrers insbesondere zu berücksichtigen, dass er nach § 3 StVO auch zu Fuß gehende andere Verkehrsteilnehmer besondere Rücksicht nehmen musste. Bei diesem konkreten Fall während des Abbiegens erst im letzten Moment mit einer Notbremsung zu reagieren, verstößt gegen diese zentrale Vorschrift der StVO. Unter Anrechnung der ebenfalls mit in die Haftungsabwägung einzustellenden Betriebsgefahr des Busses ist eine 50 % Mithaftung in jeden Fall gut vertretbar.