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Prüfung eines Totalschadens

1. Übersteigen die Bruttoreparaturkosten zuzüglich Minderwert zwar den Wiederbeschaffungsaufwand, erreichen jedoch nicht den Wiederbeschaffungswert, erhält der Geschädigte im Rahmen einer fiktiven Abrechnung die Reparaturkosten nur unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass er das Kfz 6 Monate weiter benutzt.

2. Bei dem ansonsten alleine zu erstattenden Wiederbeschaffungswert abzüglich Restwert ist der konkrete Fahrzeugschaden jedoch nicht bestimmbar, wenn es an ausreichenden Angaben zu wertbestimmenden Vorschäden und der tatsächlichen Laufleistung des Fahrzeuges als Grundlagen für die Bestimmung des Wiederbeschaffungswertes fehlt.

3. Dies gilt erst Recht, wenn der Geschädigte als Anspruchsteller in der I. Instanz hierzu sogar unzutreffende Angaben getätigt hat.

4. Wenn ein erstattungsfähiger Fahrzeugschaden nicht festgestellt werden kann, sind auch alle Folgeansprüche wie eine Unkostenpauschale, Gutachterkosten oder Rechtsanwaltskosten nicht zu erstatten. (Leitsätze des Verfassers)

OLG Hamm, Urt. v. 15.12.2022I 7 U 74/22

I. Sachverhalt

Vorschaden kann zu Totalschaden führen

Der Kläger begehrte Schadensersatz nach einem von ihm behaupteten Verkehrsunfall und verlangt im Rahmen einer fiktiven Abrechnung eine Erstattung der Reparaturkosten zuzüglich merkantilem Minderwert. Zusammen haben die Bruttoreparaturkosten mit dem Minderwert 6.104,00 EUR betragen und lagen damit unterhalb des Wiederbeschaffungswertes von 6.600,00 EUR, haben allerdings den Wiederbeschaffungsaufwand nach Abzug des Restwertes von 5.400,00 EUR überschritten. Von der Beklagtenseite wurde vor diesem Hintergrund eingewandt, dass es sich um einen Totalschaden handeln würde und der Wert des Fahrzeuges nicht bestimmt werden könnte, da die Klägerseite zu wertbestimmenden Vorschäden keine ausreichenden Angaben tätigen würde und auch die angegebene Kilometerleistung nicht zutreffen würde.

Täuschungsversuch des Klägers über Vorschaden und Laufleistung

In der I. Instanz hatte der Kläger für wertbestimmende Vorschäden im Wesentlichen keine Angaben getätigt, sondern erst in der II. Instanz ein entsprechendes Gutachten zu einem Schaden aus dem Jahr 2016 vorgelegt. Aus diesem ergaben sich eine Vielzahl an Schadenspositionen im Bereich der Motorhaube, den Kotflügeln, Scheinwerfer und Stoßfängerabdeckung sowie den Schlossträgern und diversen weiteren Beschädigungen rund herum um das Fahrzeug. Konkrete Angaben, wie diese Schäden beseitigt worden sein sollen, erfolgten im Laufe des Prozesses nicht. Im Übrigen ergab sich aus dem Gutachten aus dem Jahr 2016 eine annähernd gleichhohe Laufleistung wie zwei Jahre später bei dem weiteren Schadensgutachten aus dem Jahr 2018, wobei bei diesem Gutachten die Kilometerangabe lediglich auf den Angaben des Klägers beruhte und durch den Gutachter nicht verifiziert werden konnte. Zur zutreffenden Laufleistung erfolgten im Laufe des Prozesses auch keine weiteren Angaben durch die Klägerseite.

II. Entscheidung:

Abgrenzung zu Totalschaden im 100 % Fall

Vor diesem Hintergrund hat das Oberlandesgericht Hamm ebenso wie das Landgericht Essen zuvor die Klage im vollen Umfang abgewiesen. Entgegen der Auffassung des Klägers würde es sich vorliegend um einen wirtschaftlichen Totalschaden handeln, da die Bruttoreparaturkosten zwischen Wiederbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert liegen würden. In einem solchen Fall wäre eine fiktive Abrechnung der Reparaturkosten zuzüglich Minderwert nur gestattet, wenn das Fahrzeug für einen Zeitraum von 6 Monaten genutzt werden würde und dies war nach den eigenen Angaben des Klägers nicht der Fall, der das Fahrzeug bereits 10 Tage nach der Erstellung des Gutachtens weiterveräußert hat.

Keine ausreichenden Angaben zur Qualität der Reparaturarbeiten

Für die Bestimmung des sodann allein erstattungsfähigen Wiederbeschaffungswertes würde es aber an ausreichenden Angaben des Klägers fehlen, der schon in der I. Instanz umfassend zum Umfang eines Vorschadens, der nach dem Gutachten geschuldeten Art der Reparatur und letztendlich der tatsächlich durchgeführten Reparatur hätten vortragen müssen. Ein solcher Vortrag wäre in der I. Instanz nicht erfolgt, jetzt in der II. Instanz verspätet und selbst dort nicht mehr ausreichend, da die notwendigen Angaben zur Qualität und dem Umfang der durchgeführten Reparaturarbeiten weiter fehlen würden.

Keine Fahrzeugbewertung bei unzutreffender Laufleistung möglich

Letztendlich könne dies auch dahinstehen, da die tatsächliche Laufleistung des Fahrzeuges zum Unfallzeitpunkt auch unklar geblieben wäre – es würde jedenfalls auf der Hand liegen, dass die Kilometerlaufleistung bei der vom Kläger behaupteten weiteren Nutzung über zwei Jahre nicht in der gleichen Höhe bestehen könnte, wie schon bei dem Vorschadengutachten aus dem Jahr 2016 und auch hier drängte sich der Verdacht auf, dass der Kläger erst einmal versucht hat, den Zeitwert seines Fahrzeuges deutlich höher bewerten zu lassen, indem er die deutlich höhere Laufleistung nicht zutreffend bei der Erstellung des Gutachtens aus dem Jahr 2018 gegenüber dem von ihm eingeschalteten Sachverständigen angegeben hat und auch im Prozess dazu keine weiteren wahrheitsgemäßen Angaben im Detail tätigen wollte.

III. Bedeutung für die Praxis

Rechtsprechung zur Vortragslast bei Vorschäden und Kilometermanipulation

Dass auch für die Bestimmung des Wiederbeschaffungswertes je nach den Umständen des Einzelfalls ein ausreichender Vortrag zu dem Umfang eines Vorschadens und seiner Reparatur notwendig sein kann, sollte in der Praxis bereits hinreichend bekannt sein. Dies ist vom Kläger allerdings hier nicht im ausreichenden Umfang berücksichtigt worden, der zudem auch noch einen Täuschungsversuch begangen hat (zu den Anforderungen vgl. die Übersicht bei Böhm/Nugel VRR 8/2017, 4 ff.; zu erleichterten Voraussetzungen bei der Vortragslast vgl. auch OLG Bremen, Urt. v. 30.6.2001 – 1 U 90/19, VRR 11/2021, 13; zu einer strengeren Ansicht zur Vortragslast OLG Koblenz, Urt. v. 28.7.2021 – 12 U 353/21, VRR 11/2021, 14.

Ebenso ist allerdings zu beachten, dass ein Wiederbeschaffungswert naturgemäß auch nicht sicher bestimmt werden kann, wenn die tatsächliche Laufleistung des Fahrzeuges unklar bleibt. Auch insoweit verbleibt die Darlegungs- und Beweislast beim Geschädigten und verbleibende Zweifel gehen zu seinen Lasten. Erfolgt hier kein ausreichender Vortrag, kann die Klage auch alleine schon deshalb abweisungsreif sein (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 29.5.2020 – 9 U 61/20; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.7.2015 – I1 U 164/14) – erst Recht, wenn sich der Verdacht aufdrängt, dass der Anspruchsteller selbst den Kilometerstand zumindest zu täuschen versucht hat. Im Übrigen gilt es zu beachten, dass auch ein vermeintlich klarer Reparaturfall sich unter Berücksichtigung einer Vorschadenproblematik schnell zu einem wirtschaftlichen Totalschaden entwickeln kann und dann nicht nur zu deckungsgleichen, sondern zu Vorschäden insgesamt am Fahrzeug ein weiterer Tatsachenvortrag erforderlich sein kann.

RA Dr. Michael Nugel, FA für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht, Essen

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