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Grenze für die Berechnung des „bedeutenden Fremdschadens“

Ob ein bedeutender Schaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB vorliegt, ist nach den objektiven wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu beurteilen, um den das Vermögen des Geschädigten als unmittelbare Folge des Unfalls gemindert wird. Angemessen erscheint als Untergrenze für das Vorliegen eines bedeutenden Schadens im Sinne von § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ein Betrag von 1.750 EUR. (Leitsatz des Verfassers)

LG Bochum, Beschl. v. 6.12.20221 Qs 59/22

I. Sachverhalt

Verkehrsunfall mit Kfz-Schaden

Der Beschuldigten wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, sich am 4.1.2022 gegen 17:37 Uhr nach einem Verkehrsunfall in Bochum unerlaubt vom Unfallort entfernt zu haben (§ 142 StGB). Das Fahrzeug der anderen Unfallbeteiligten wurde zwischenzeitlich repariert. Von der Kfz-Werkstatt ist ein Brutto-Betrag von 1.493,01 EUR in Rechnung gestellt. Diese Reparaturkosten sowie eine merkantile Wertminderung in Höhe von 250 EUR, ein Nutzungsausfall in Höhe von 172 EUR und eine Kostenpauschale von 25 EUR wurden seitens der Kfz-Versicherung der Beschuldigten ausgeglichen.

AG lehnt vorläufige Entziehung ab: Beschuldigte hat den Unfall nicht bemerkt

Die Beschuldigte hat sich dahin eingelassen, dass sie den Anstoß an dem anderen Fahrzeug nicht bemerkt habe. Die Staatsanwaltschaft hat beim AG beantragt, der Beschuldigten gemäß § 111a StPO die Fahrerlaubnis vorläufig zu entziehen und die Beschlagnahme des Führerscheins anzuordnen. Das AG hat den Antrag abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschuldigte die Kollision bemerkt habe. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft hatte keinen Erfolg.

II. Entscheidung

Unfallereignis ja, aber kein bedeutender Schaden

Das LG bestätigt die Entscheidung des AG, der Beschuldigten die Fahrerlaubnis nicht gem. § 111a StPO vorläufig zu entziehen. Anders als das AG geht das LG allerdings davon aus, dass die Umstände durchaus für ein durch die Beschuldigte herbeigeführtes Unfallereignis im Sinne des § 142 Abs. 1 StGB sprechen. Gleichwohl komme die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis– zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt – letztlich nicht in Betracht, da sich aus dem bisherigen Akteninhalt ein entstandener bedeutender Schaden an dem Fahrzeug der anderen Unfallbeteiligten im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB nicht ergebe.

Bisher Grenze der Kammer bei 1.300 EUR

In dem Zusammenhang verweist die Kammer auf ihre bisherige Rechtsprechung, die auf dem OLG Hamm, Beschl. v. 6.11.2014 – 5 RVs 98/14 basiert, wonach ein bedeutender Fremdschaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ab 1.300 EUR angenommen worden sei. Infolge der zwischenzeitlichen Preisentwicklung sei die Rechtsprechung zu der Frage, wann ein bedeutender Schaden vorliege, zunehmend unübersichtlich geworden. Die Untergrenze des Schadens werde teilweise nach wie vor bei 1.300 EUR angesetzt. Andere Gerichte setzen die Grenze bei 1.500 EUR (vgl. u.a. LG Magdeburg, Beschl. v. 19.6.2019 – 26 Qs 15/19; LG Dresden, Beschl. v. 7.5.2019 – 3 Qs 29/19), bei 2.000 EUR (vgl. u.a. LG Darmstadt, Beschl. v. 1.2.2018 – 3 Qs 27/18) oder gar bei 2.500 EUR (vgl. u.a. LG Nürnberg, Beschl. v. 15.1.2020 – 5 Qs 4/20) fest. In diesem Licht stehe auch die zuletzt geänderte Rechtsprechung des OLG Hamm. Mit Beschl. v. 5.4.2022 (5 RVs 31/22, StRR 7/2022, 24 = VRR 9/2022, 17) habe das OLG Hamm – auf einen bestimmten Einzelfall bezogen – bekräftigt, dass die Wertgrenze für einen bedeutenden Schaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB im Hinblick auf die allgemeine Preissteigerung nunmehr jedenfalls nicht unter 1.500 EUR liegt. Aus dieser Formulierung werde deutlich, dass der unterste Rahmen nicht zwingend bei 1.500 EUR liege, sondern lediglich unterhalb dessen liegende Schadensbeträge jedenfalls keinen bedeutenden Schaden darstellen.

1.300 EUR-Grenze bedarf Anpassung

Auch die Kammer sei der die Ansicht, dass die bis zuletzt gezogene Wertgrenze von 1.300 EUR aufgrund der allgemeinen Preisentwicklung nunmehr einer Anpassung bedürfe. Eine solche Anpassung sei grundsätzlich zulässig, da es sich bei der Wertgrenze um eine veränderliche Größe handelt, die maßgeblich von der Entwicklung der Preise und Einkommen abhängig ist (vgl. BGH, Beschl. vom 28.9.2010 – 4 StR 245/10, VRR 2011, 70 = StRR 2011, 112). Bei der Frage, nach welchen Kriterien eine Anpassung der Wertgrenze vorzunehmen sei, habe sich die Kammer auch an dem jährlich vom Statistischen Bundesamt berechneten und veröffentlichten Verbraucherindex orientiert, der die durchschnittliche Preisentwicklung aller Waren und Dienstleistungen bemisst. Der Verbraucherindex weise in der aktuell geltenden Fassung mit dem Basisjahr 2015 (2015 = 100) im Oktober 2022 einen Wert von 122,2 aus. Im Jahr 2002 habe dieser Wert noch bei 82,6 gelegen. Dies ergebe für den Zeitraum der letzten zwanzig Jahre eine Preissteigerung von 47,94 Prozent (122,2/82,6 x 100 – 100 = 47,94). Im Vergleich zum Indexjahr 2015 seien die Verbraucherpreise allein um 22,2 Prozent gestiegen. Seit April 2022 (Entscheidung des OLG Hamm vom 5.4.2022 – 5 RVs 31/22, a.a.O.) habe sich der Verbraucherindex um sechs Punkte, von 116,2 auf 122,2, gesteigert.

Anhebung auf 1.750 EUR

Unter Zugrundelegung dieser Zahlen erschien es der Kammer daher als erforderlich, die Wertgrenze für die Annahme eines bedeutenden Schadens angemessen anzuheben. Dabei hat die Kammer berücksichtigt, dass auch die Einkommen im fraglichen Zeitraum einer Veränderung unterworfen waren. Angemessen erschien der Kammer vor diesem Hintergrund eine Anhebung von 1.300 EUR auf 1.750 EUR als Untergrenze für das Vorliegen eines bedeutenden Schadens im Sinne von § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB.

(Neuer) Grenzwert hier nicht erreicht

Im vorliegenden Fall werde dieser Grenzwert – so das LG – nicht erreicht. Ob ein bedeutender Schaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB vorliegt, ist nach den objektiven wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu beurteilen, um den das Vermögen des Geschädigten als unmittelbare Folge des Unfalls gemindert wird (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 6.11.2014 – 5 RVs 98/14, a.a.O.). Abzustellen sei dabei auf den Geldbetrag, der erforderlich ist, um den Geschädigten wirtschaftlich so zu stellen, als wäre das schädigende Ereignis nicht eingetreten. Zu berücksichtigen seien namentlich Reparaturkosten, Abschlepp- und Bergungskosten sowie ein etwaiger merkantiler Minderwert (vgl. BGH, Beschl. v. 28.9.2010 – 4 StR 245/10, a.a.O.). Der Brutto-Reparaturpreis habe im vorliegenden Fall laut Rechnung der Reparaturwerkstatt bei 1.493,01 EUR gelegen. Hinzu komme ein merkantiler Minderwert von rund 250 EUR. Die Nutzungsausfallentschädigung und die Kostenpauschale bleiben bei der Schadensberechnung hingegen unberücksichtigt (vgl. Fischer, StGB, 69. Auflage 2022, § 69 Rn 28). Mithin ergebe sich ein im Rahmen von § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB zu berücksichtigender Gesamtbetrag von 1.743,01 EUR, der den (aktualisierten) Grenzwert nicht erreiche.

III. Bedeutung für die Praxis

Überfällig

1. M.E. zutreffend und im Grunde genommen längst überfällig. Denn mit einem Schadensbetrag von (nur) 1.300 EUR kann man im Bereich des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB nicht mehr operieren. Dazu sind die Preise in den letzten Jahren zu stark gestiegen, was letztlich auch das OLG Hamm in seiner 1.500-EUR-Entscheidung bestätigt hat. Im Grunde müssten die Gerichte im Hinblick auf die Preissteigerungen viel häufiger „Anpassungen“ vornehmen, was – auch welchen Gründen auch immer – leider nicht geschieht.

Letztlich entscheidet OLG Hamm

2. Eins darf man natürlich nicht übersehen und darauf weist das LG auch ausdrücklich hin: Eine letztverbindliche Entscheidung über eine endgültige Fahrerlaubnisentziehung bleibt einer etwaigen Hauptverhandlung vorbehalten. Das letzte Wort hat eben nicht die Beschwerdekammer, sondern das AG in der Hauptverhandlung und dann ggf. die Berufungskammer und letztlich dann das OLG. Wir werden weiter berichten.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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