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Dauer der Pflichtverteidigerbestellung im Strafbefehlsverfahren

Der Wortlaut des § 408b StPO enthält keine Beschränkung auf das schriftliche Strafbefehlsverfahren. (Leitsatz des Verfassers)

LG Karlsruhe, Beschl. v. 26.7.202216 Qs 59/22

I. Sachverhalt

Pflichtverteidiger im Strafbefehlsverfahren

Das AG hat gegen den Angeklagten am 26.4.2022 einen Strafbefehl wegen Bedrohung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, erlassen. Mit Beschl. v. 12.4.2022 war bereits „für das Strafbefehlsverfahren gem. § 408b StPO“ der Rechtsanwalt Pflichtverteidiger bestellt worden. Nach Einspruchseinlegung beantragte der Pflichtverteidiger seine Beiordnung auch für das Hauptverfahren. In der Hauptverhandlung vom 4.7.2022 wurde der Antrag abgelehnt. Der Angeklagte wurde wegen Bedrohung zu der Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 10,– EUR verurteilt. Der Verteidiger hat „Beschwerde“ gegen die Ablehnung seiner Beiordnung auch für das Hauptverfahren eingelegt. Die hatte beim LG Erfolg.

II. Entscheidung

Wortlaut des § 408b StPO

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 408b StPO sei – so das LG – nicht auf das schriftliche Verfahren bis zur Einlegung des Einspruchs gegen den Strafbefehl beschränkt, sondern gelte bis zur Einlegung des Rechtsmittels gegen das auf den Einspruch hin ergangene amtsgerichtliche Urteil fort (OLG Celle StraFo 2011, 291; OLG Oldenburg StV 2018, 152; OLG Köln NStZ-RR 2010, 30; LR-Gössel, StPO, § 408b Rn 12, 13; KK-StPO-Maur, StPO, § 408b Rn 8; a.A. KG, Beschl. v. 29.5.2012 – 1 Ws 30/12; OLG Düsseldorf NStZ 2002, 390; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 17.9.2014 – 1 Ws 126/14). Der Wortlaut des § 408b StPO enthalte keine Beschränkung auf das schriftliche Strafbefehlsverfahren. Die besondere prozessuale Situation, die durch die Beiordnung nach § 408b StPO kompensiert werden solle bestehe zudem in veränderter Form auch nach Erlass des Strafbefehls fort. Nach § 411 Abs. 2 Satz 2 StPO gelten für das weitere Verfahren die Regeln des § 420 StPO. Im beschleunigten Verfahren werden diese erleichterten Regeln der Beweisaufnahme dadurch ausgeglichen, dass nach § 418 Abs. 4 StPO dem Angeklagten, der eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten zu erwarten hat, ein Verteidiger beizuordnen sei. Die Parallele spreche in systematischer Hinsicht für eine Geltung der Pflichtverteidigerbeiordnung nach § 408b StPO auch für das Hauptverfahren (OLG Celle StraFo 2011, 291 m.w.N.).

Aufhebung der Bestellung

Wie sich aus § 143 Abs. 2 Satz 1 StPO ergebe, könne die Beiordnung allerdings aufgehoben werden. Das sei vorliegend geschehen. Die Aufhebungsmöglichkeit stehe im Ermessen des Gerichts. Allerdings seien insoweit Vertrauensgrundsätze zu beachten. Sei die Frage der Notwendigkeit der Verteidigung in irgendeinem Verfahrensstadium positiv beantwortet worden, gebiete der Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes grundsätzlich, hieran weiter festzuhalten (BeckOK StPO/Krawczyk StPO § 143 Rn 7, 8 m.w.N.). Eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung komme dann in Betracht, wenn das Gericht die Bestellung in grob fehlerhafter Verkennung der Voraussetzungen des § 140 StPO vorgenommen habe oder sich die für die Bestellung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben (BeckOK StPO/Krawczyk a.a.O.). Zwar weiche hier das Urteil hinsichtlich rechtlicher Würdigung und Rechtsfolgen von dem ursprünglichen Strafbefehl erheblich ab, es lasse sich aber weder den Urteilsgründen noch dem Hauptverhandlungsprotokoll entnehmen, dass bereits zum Zeitpunkt der Verkündung des angefochtenen Beschlusses eine solche wesentliche Änderung der Umstände vorgelegen habe. Der Übergang vom Strafbefehlsverfahren in das Hauptverfahren als solcher sei nach obigen Ausführungen kein solcher Umstand.“

III. Bedeutung für die Praxis

Zutreffend

1. Die vom LG entschiedene Frage war nach dem früheren Recht der Pflichtverteidigung streitig (vgl. die o.a. Nachweise), war aber schon „damals“ zutreffend dahin zu beantworten, dass die Bestellung über die Einlegung des Einspruchs hinaus andauert. Das gilt nach neuem Recht der Pflichtverteidigung erst recht (vgl. dazu auch Hillenbrand in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl., 2022, Rn 4204 ff. m.w.N. und in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl., 2022, Rn 2981 ff. m.w.N. – so hat es auch das LG Oldenburg gesehen. Und so sieht es jetzt auch die landgerichtliche Rechtsprechung (vgl. auch noch hier vorstelle LG Stade, Beschl. v. 5.8.2022 – 102 Qs 2575 Js 37782/21 (26/22) und in der Vergangenheit schon LG Oldenburg VRR 11/2021, 19 = StRR 12/2021, 2 [Ls.] = AGS 2022, 43). Allerdings sollte der Verteidiger – bis sich diese Auffassung in der Rechtsprechung durchgesetzt hat – beim AG auf Klarstellung drängen und die Bestätigung der Fortdauer seiner Bestellung beantragen. Der Pflichtverteidiger kann allerdings entpflichtet werden. Insoweit muss das AG aber sein Ermessen ordnungsgemäß ausüben (vgl. dazu auch OLG Oldenburg, a.a.O.).

Gebührenrecht

2. Von Bedeutung ist diese Ansicht vor allem auch im Hinblick auf die (gesetzlichen) Gebühren: Geht man nämlich davon aus, dass die Bestellung des Pflichtverteidigers automatisch mit der Einlegung des Einspruchs endet, kann er als gesetzliche Gebühren nur die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG, ggf. die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG und/oder die Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG – je nach Fallgestaltung – geltend machen. Endet die Pflichtverteidigerbestellung hingegen nicht automatisch kann der Pflichtverteidiger auch die Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG als gesetzliche Gebühren verlangen, wenn es zur Hauptverhandlung kommt und der Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger an ihr teilnimmt. Wird der Einspruch – ggf. nach Beratung mit dem Mandanten zurückgenommen – kann zudem die zusätzliche Verfahrensgebühr Nr. 4141 Anm. 1 Satz 1 Nr. 3 VV RVG angefallen sein (zu den Gebühren im Strafbefehlsverfahren Burhoff in. Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Teil A Rn 2047 ff. m.w.N.).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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