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Winterliche Räum- und Streupflicht bei ernsthafter lokaler Glättegefahr

1. Eine winterliche Räum- und Streupflicht kann nicht nur bei allgemeiner Glätte, sondern auch bei einer ernsthaften lokalen Glättegefahr bestehen.

2. Ob eine ernsthafte lokale Glättegefahr besteht, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Dabei kommt es stets auf den Pflichtenmaßstab an, der an den primär Verkehrssicherungspflichtigen zu stellen ist, der den Verkehr auf der in Rede stehenden Fläche eröffnet hat. Dieser Maßstab gilt auch für einen Dritten, auf den der primär Verkehrssicherungspflichtige die Räum- und Streupflicht übertragen hat. (Leitsätze des Gerichts)

KG, Urt. v. 6.12.202221 U 56/22

I. Sachverhalt

Sturz bei Glätte auf Klinikgelände

Die Klägerin erlitt am Samstag, den 19.12.2020, gegen 11.00 Uhr eine Quadrizepssehnenruptur am rechten Bein. Die Klägerin hatte sich an diesem Tag zur D-Klinik in der S-Straße in Berlin begeben, um sich dort einem Coronatest zu unterziehen. Die Wege auf dem gesamten Gelände seien infolge von Glatteis sehr rutschig und nicht gestreut gewesen. Außerdem habe an dem Tag in Berlin allgemeine Glätte geherrscht. Als sie über das Gelände gegangen war und das auf dem Klinikgelände befindliche Corona-Testzentrum erreicht hatte, sei sie dort abgewiesen worden, da dieses samstags geschlossen war. Sie habe sich deshalb auf den Rückweg gemacht. Noch auf dem Klinikgelände sei sie auf einem Gehweg ausgerutscht und gestürzt. Es habe in diesem Bereich für sie keine Möglichkeit gegeben, den rutschigen Gehweg zu verlassen. Sie habe sofort Schmerzen im rechten Bein gespürt und habe nicht mehr aufstehen können, nur mit Unterstützung hinzukommender Personen habe sie sich auf eine Bank setzen können. Sie sei dann zur Untersuchung ihrer Verletzung wieder in das D-Krankenhaus gebracht worden, wo dann die Quadrizepssehnenruptur festgestellt und behandelt wurde.

Übertragung der Verkehrssicherungspflicht auf Winterdienst

Der Träger der D-Klinik, die Z GmbH, hatte die Verkehrssicherungspflicht während der Winterdienstsaison auf dem Krankenhausgelände mit einem Vertrag über Winterdienstleistungen aus dem Oktober 2015 der Beklagten zu 2) übertragen. Wegen ihrer Verletzung hat die Klägerin vor dem LG Klage auf Schadensersatz und Schmerzensgeld erhoben. Die Beklagten haben insbesondere bestritten, dass am Tag des Unfalls in Berlin allgemeine Glätte geherrscht habe. Das LG hat die Klage gegen beide Beklagte abgewiesen. Die zulässige Berufung hatte teilweise Erfolg.

II. Entscheidung

Streupflicht bei allgemeiner Glätte oder ernsthafter lokaler Glättegefahr

Nach Auffassung des KG hat die Beklagte zu 2) die von ihr auf dem Klinikgelände übernommene Verkehrssicherungspflicht verletzt, indem sie rutschige Glatteisflächen auf den dortigen Wegen zur Zeit des Unfalls der Klägerin nicht gestreut hatte. Eine solche Streupflicht bestehe für den Verkehrssicherungspflichtigen auch im Winterhalbjahr nicht jederzeit, sondern nur wenn entweder allgemeine Glätte herrscht oder wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass jedenfalls im Bereich der Flächen, auf die sich die Verkehrssicherungspflicht bezieht, aufgrund vereinzelter Glättestellen eine ernsthaft drohende Gefahr für Dritte, eine sog. ernsthafte lokale Glättegefahr, bestehe (BGH NJW 2012, 2727; NJW-RR 2017, 858). Die zwischen den Parteien umstrittene Frage, ob in Berlin oder in Berlin-K im Zeitpunkt des Unfalls der Klägerin eine allgemeine Glätte herrschte, könne dahinstehen. Denn nach Abschluss der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Berufungsgerichts fest, dass die Beklagte zu 2) zu dieser Zeit auf dem Klinikgelände streupflichtig war, weil dort jedenfalls eine ernsthafte lokale Glättegefahr bestanden habe

Abhängig von den Umständen des Einzelfalls

Wann eine Streupflicht unabhängig vom Vorliegen einer allgemeinen Glätte aufgrund einer ernsthaften lokalen Glättegefahr bestehe, hänge von den Umständen des Einzelfalls ab. Entscheidend seien insbesondere die Lage und Größe der örtlichen Glättestellen, der Zeitpunkt ihres Auftretens und die Wahrscheinlichkeit ihres Fortbestands in Anbetracht der herrschenden Temperatur. Zudem sei zu beachten, dass eine örtlich auftretende Glättegefahr, die eine Streupflicht auslöse, in aller Regel keine sofortige Reaktion des Verpflichteten verlange, sondern dass diesem eine den Umständen angemessene Reaktionszeit zuzubilligen ist (BGH NJW 2012, 2727). Bei dieser Prüfung des Einzelfalls komme es allerdings in jedem Fall auf den Pflichtenmaßstab an, der an denjenigen zu stellen sei, der den Verkehr auf den in Rede stehenden Flächen eröffnet hat, also den primär Verkehrssicherungspflichtigen. Habe dieser die Räum- und Streupflicht auf einen Dritten übertragen, der aufgrund dieser Übertragung selbst deliktisch verantwortlich werde (BGH NJW 2008, 1440), müsse sich dieser Dritte am Maßstab des primär Verkehrssicherungspflichtigen messen lassen. Denn durch die Übertragung werde der primär Verkehrssicherungspflichtige von seinen Pflichten weitgehend befreit, sie verengen sich auf Kontroll- und Überwachungspflichten (BGH, a.a.O.). Deshalb würde die Übertragung der Streupflicht im Ergebnis den deliktischen Schutz der Personen, die in ihren Schutzbereich fallen, verkürzen, wenn für den Übernehmer nicht derselbe Pflichtenmaßstab wie für den primär Sicherungspflichtigen gelte.

Keine Entlastung durch fehlenden Dauereinsatz…

Bei der Prüfung der Frage, ob eine ernsthafte lokale Glättegefahr bestehe, sei es regelmäßig von Bedeutung, wann der Streupflichtige ernsthafte örtliche Gefahrenstellen hätte wahrnehmen müssen. Der primär Verkehrssicherungspflichtige, der vor Ort den Verkehr auf bestimmten Flächen eröffne, sei typischerweise deutlich früher in der Lage, derartige Gefahrenstelle wahrzunehmen als ein sekundär streupflichtiger Winterdienstleister. So könne es sein, dass ein Winterdienstleister seine Mitarbeiter üblicherweise nur an Tagen mit allgemeiner Glätte zu Räum- und Streudiensten losschicke und es für ihn einen unverhältnismäßigen Aufwand bedeutete, wenn er auch an Wintertagen ohne allgemeine Glätte das Gebiet, das er mit seinen Dienstleistungen abdeckt, vorsorglich auf ernsthafte lokale Glättegefahren hin absuche. Dieses Vorgehen eines Winterdienstleisters, der eine Streu- und Räumpflicht übernommen hat, sei nachvollziehbar, könne ihn aber nicht mit deliktischer Wirkung von seiner Streupflicht entlasten, denn sonst würde sich durch die Übertragung dieser Pflicht an einen Dritten der Schutzstandard für die geschützten Personen im Endergebnis verringern.

… ohne vertragliche Regelung

Dieses Ergebnis sei auch nicht unbillig für einen Winterdienstleister. Er könne das hieraus resultierende Haftungsrisiko durch die vertragliche Gestaltung seiner Winterdienstverträge ausschließen oder jedenfalls weitgehend reduzieren. Dazu müsse dort eine Regelung aufgenommen werden, wonach der primär Streupflichtige, wenn er an einem Tag, an dem keine allgemeine Glätte herrscht, eine ernsthafte lokale Glättegefahr vor Ort wahrnehme, den Winterdienstleister hierüber informieren müsse und der Dienstleister erst innerhalb eines gewissen Zeitabstands verpflichtet sei, auf diesen Hinweis seine Dienste vor Ort zu erbringen. Auch im vorliegenden Fall enthalte der Winterdienstvertrag, mit dem die Beklagte zu 2) beauftragt sei, eine Regelung, mit der offenbar dieses Ziel verfolgt werde, wenngleich sie vielleicht nicht vollständig ausformuliert sei.

Ergebnis der Beweisaufnahme: Es war glatt

Nach Abschluss der Beweisaufnahme ist das KG dann von einer ernsthaften lokalen Glättegefahr auf dem Klinikgelände am Unfalltag von ca. 9.00 Uhr bis zum Zeitpunkt des Sturzes der Klägerin gegen 11.00 Uhr ausgegangen. Das Gelände sei über längere Strecken hinweg, vereist und deshalb sehr rutschig gewesen waren, sodass man dort als Fußgänger habe leicht ausgleiten und hinfallen können. Daher hätte die Beklagte zu 2) jedenfalls um 10.00 Uhr die Glätte auf den Wegen durch das Streuen mit abstumpfenden Materialien bekämpfen müssen. Es sei unerheblich, dass zu dieser Tageszeit möglicherweise keine allgemeine Glätte in Berlin-K herrschte. Entscheidend sei allein, dass auf dem Klinikgelände, auf dem die Beklagte zu 2) die Streupflicht übernommen hatte, sämtliche Wege, die von der öffentlichen Straße und dem Parkplatz zu den Klinikgebäuden führten, weitgehend vereist und deshalb rutschig waren. Da es sich um einen Samstagvormittag handelte, an dem in einem Krankenhaus mit Publikumsverkehr zu rechnen sei, hätten die Verantwortlichen des primär streupflichtigen Krankenhausträgers dies vor 10.00 Uhr bemerken und spätestens gegen 10.00 Uhr streuen müssen.

III. Bedeutung für die Praxis

Pflichtverletzung überzeugend begründet

1. M.E. hat das KG die Verletzung der Streupflicht durch den Winterdienst, dem die Pflicht von der Klinik übertragen worden war, überzeugend unter Umsetzung der vorliegenden BGH-Rechtsprechung begründet.

Hinweis für den anwaltlichen Berater

2. Für den anwaltlichen Berater ist der Hinweis des KG von Bedeutung, wie ggf. der Winterdienst die übernommene Verpflichtung in den Fällen, in denen keine allgemeine Glätte herrscht, beschränken kann. Erforderlich ist dazu eine eindeutige vertragliche Regelung dahin, dass er dann vom eigentlichen Verkehrssicherungspflichtigen informiert werden muss, dass zu streuen ist.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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