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VRR-Kompakt 2022_12

Einwand eines hypothetisch alternativen Fahrzeugerwerbs: Darlegungs- und Beweislast

Der Fahrzeughersteller hat – die Beachtlichkeit des Einwands unterstellt – darzulegen und zu beweisen, dass der Geschädigte einen bestimmten schadenmindernden hypothetischen alternativen Fahrzeugerwerb in jedem Fall getätigt hätte. Es obliegt der Beklagten, vorzutragen, welches Fahrzeug sich der Kläger anstelle des tatsächlich erworbenen angeschafft hätte, zu welchen Konditionen dies möglich gewesen wäre und dass dies ohne den Erwerb des mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung manipulierten Fahrzeugs mit Sicherheit geschehen wäre. Ein allgemeiner Erfahrungssatz des Inhalts, dass sich der durch eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung zum Abschluss eines ungewollten Fahrzeugkaufvertrages gebrachte Geschädigte ohne das haftungsbegründende Verhalten ein vergleichbares Fahrzeug zu gleichen Finanzierungsbedingungen angeschafft hätte, existiert nicht. Der Schädiger ist mit dem Einwand eines hypothetischen Alternativerwerbs hinsichtlich der Finanzierungskosten ausgeschlossen, wenn er sich zugleich auf die Anrechnung der von dem Geschädigten gezogenen Nutzungen im Wege des Vorteilsausgleichs beruft.

OLG Celle, Urt. v. 9.11.2022 – 7 U 299/22

Sachverständigenhonorar: Übliches Honorar als Schadensersatzforderung

Trifft ein Sachverständigenbüro bei der Begutachtung eines Kfz nach einem Verkehrsunfall mit dem Geschädigten als Auftraggeber keine gesonderte Vergütungsvereinbarung, wird lediglich die übliche Vergütung als Honorar geschuldet. Klagt das Sachverständigenbüro eine Honorarforderung für die Erstellung dieses Gutachtens, die nicht bezahlt ist, gegenüber dem Haftpflichtversicherer des Unfallgegners ein, bildet die übliche Vergütung den allein zu erstattenden Maßstab. Die übliche Vergütung ist in diesem Fall anhand eines Mittelwertes zwischen einerseits der BVSK-Befragung 2020 und andererseits einer Abrechnung des Honorars nach Stundensätzen in Orientierung nach den Sätzen des JVEG auf Basis eines angemessenen Zeitaufwandes nebst Nebenkosten vorzunehmen.

AG Günzburg, Urt. v. 15.11.2022 – 1 C 444/22

Besorgnis der Befangenheit: Beschäftigung des Partners bei einer Partei

Die Besorgnis der Befangenheit ist begründet, wenn die Ehegattin oder feste Partnerin des abgelehnten Richters bei einer Partei des Rechtsstreits beschäftigt ist und bei vernünftiger Betrachtungsweise aus Sicht des ablehnenden Klägers die Befürchtung besteht, dass sie sich aufgrund ihrer gehobenen beruflichen Tätigkeit in besonderem Maße mit den Interessen und Zielen des Unternehmens identifiziert, deshalb bei Rechtsstreitigkeiten von herausragender Bedeutung für das Unternehmen dessen Position einnimmt oder sich mit diesem solidarisiert, dies auch ihrem Ehegatten – dem abgelehnten Richter – vermittelt und aufgrund der besonderen Nähebeziehung des Paares dessen Meinungsbildung zugunsten der Partei bewusst oder unbewusst beeinflusst, sodass die Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Richters nicht mehr gewährleistet ist. Ist oder war die Ehefrau bzw. feste Partnerin eines Richters bei einer Partei beschäftigt, hat der Richter dies den Parteien des Rechtsstreits vor oder spätestens bei der ersten richterlichen Handlung anzuzeigen.

OLG Stuttgart, Beschl. v. 29.9.2022 – 2 W 47/22

Wiedereinsetzung: Fristenkontrolle

Ein Rechtsanwalt hat durch entsprechende organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Seit dem 1.1.2022 müssen vorbereitende Schriftsätze gemäß § 130d ZPO als elektronisches Dokument eingereicht werden. Gemäß § 130 Abs. 5 Satz 2 ZPO wird dem Absender nach der Übermittlung eine „automatisierte Bestätigung“ über den Zeitpunkt des Eingangs mitgeteilt. Eine wirksame Fristen- und Ausgangskontrolle darf nicht nur mit der bloßen Anwaltssoftware (hier „RA-Micro“) erfolgen, sondern erfordert auch einen Vergleich anhand des Fristenkalenders und der Handakte. Das Büropersonal ist bereits vor Anfertigung und Verarbeitung der Berufungsschrift anzuweisen, in der entsprechenden Anwaltssoftware (hier „RA-Micro“) das zuständige Berufungsgericht einzupflegen.

OLG Schleswig, Beschl. v. 13.10.2022 – 7 U 160/22

beA: Wirksame Ersatzeinreichung

Für eine wirksame Ersatzeinreichung gemäß § 130d Satz 2 und Satz 3 ZPO muss der Rechtsanwalt darlegen und glaubhaft machen, dass die elektronische Übermittlung im Zeitpunkt der beabsichtigten Einreichung aus technischen Gründen unmöglich war. Gleiches gilt für die vorübergehende Natur des technischen Defektes. Es genügt eine (laienverständliche) Darstellung des Defektes und der zu seiner Behebung getroffenen Maßnahmen. Bezüglich des Zeitpunktes der erforderlichen Darlegung und Glaubhaftmachung kommt nach dem Wortlaut von § 130d Satz 3 ZPO („oder“) dem Zeitpunkt der Ersatzeinreichung selbst kein Vorrang gegenüber der – dann jedoch „unverzüglichen“ – Nachholung zu. Im Anwendungsbereich des § 130d Satz 3 ZPO genügt für die Glaubhaftmachung eine (formgerechte) anwaltliche Versicherung über das Scheitern der Übermittlung. Fehlt diese bzw. wird sie nicht ohne schuldhaftes Zögern beigebracht, ist die Ersatzeinreichung unwirksam.

OLG Braunschweig, Beschl. v. 28.10.2022 – 4 U 76/22

Entziehung der Fahrerlaubnis: Ausfallerscheinungen

Die alleinige (nachträgliche) Feststellung körperlicher Konsumanzeichen (Pupillenweitung etc.) kompensiert das Fehlen feststellbarer Ausfallerscheinungen i.S.v. Fahrfehlern nicht.

LG Stralsund, Beschl. v. 7.10.2022 – 26 Qs 195/22

Unversicherter E-Scooter: Benutzung ohne Fahrerlaubnis und nach Drogenkonsum

Wer einen unversicherten E-Scooter ohne Fahrerlaubnis im öffentlichen Straßenverkehr wie einen einfachen Tretroller mit bloßer Muskelkraft fortbewegt, verhält sich selbst dann weder strafbar noch ordnungswidrig, wenn er zuvor Drogen konsumiert hat, ohne Ausfallerscheinungen zu zeigen.

LG Hildesheim, Urt. v. 20.9.2022 – 13 Ns 40 Js 25077/21

Verbotenes Kraftfahrzeugrennen: Einziehung des Pkw

Bei § 315f Satz 2 StGB handelt es sich um eine Rechtsfolgenverweisung, sodass die Voraussetzungen des § 74a StGB nicht vorliegen müssen. Die Einziehung kann also auch dann erfolgen, wenn der Beschuldigte Eigentümer des Pkw ist.

AG Nienburg (Weser), Beschl. v. 2.2.2022 – 4 Ds 370 Js 26085/21 (142/21)

Atemalkoholmessung: Urteilsanforderungen

Beim Atemalkoholmessgerät Dräger Alcotest 9510 DE ist der ermittelte Mittelwert der Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 24a Abs. 1 StVG ohne Sicherheitsabschlag zugrunde zu legen. Der Mitteilung der festgestellten Einzelmessergebnisse bedarf es in der Regel nicht.

KG, Beschl. v. 14.10.2022 – 3 Ws (B) 253/22

Geschwindigkeitsüberschreitung: Beweisverwertungsverbot; Aussetzung des Verfahrens

Dass bei einem standardisierten Messverfahren (hier: PoliScan M1 HP) Messdaten nicht gespeichert werden, führt nicht zu einem Beweisverwertungsverbot. Die Verwertbarkeit des Messergebnisses hängt nicht von der Rekonstruierbarkeit des Messvorgangs anhand gespeicherter Messdaten ab. Die Aussetzung des Verfahrens, um die Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde in anderer Sache abzuwarten, liegt im Ermessen des Gerichts. In einer Bußgeldsache mit kurzer Verfolgungsverjährung ist zu berücksichtigen, dass eine solche Aussetzung nicht zum Ruhen der Verfolgungsverjährung führt.

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.10.2022 – 2 RBs 155/22

Fahrverbot: Absehen vom Fahrverbot bei einer Rentnerin

Hat der Verteidiger zwar im Rahmen der Hauptverhandlung die Verdopplung der Geldbuße gegen ein Absehen vom Fahrverbot angeregt, die Betroffene jedoch daraufhin erklärt, dass sie dann lieber für die Zeit eines Fahrverbotes laufe, aber nicht so viel für einen derartigen Verstoß zahlen wolle, so ist die Anwendung des § 4 Abs. 4 BKatV dem Betroffenenwillen entsprechend ausgeschlossen. Fahrverbotsrelevante Härten scheiden aus, wenn der Ehegatte der Betroffenen selbst Führerscheininhaber ist und die Betroffene erklärte, bei Bedarf könne er sie fahren. Rentnerinnen sind ebenso wie etwa Arbeitslose und Beamtinnen grundsätzlich nicht auf die Existenz einer Fahrerlaubnis zwingend angewiesen.

AG Dortmund, Urt. v. 11.10.2022 – 729 OWi-262 Js 1751/22-110/22

Revision: Revisionseinlegung über „fremdes“ beA

Eine vom Verteidiger maschinenschriftlich signierte Revisionseinlegungsschrift, die aus einem besonderen elektronischen Anwaltspostfach eines nicht am Verfahren beteiligten anderen Rechtsanwalts übersandt und durch diesen qualifiziert elektronisch signiert worden ist, genügt nicht den Anforderungen der §§ 341 Abs. 1, 32d Satz 2, 32a Abs. 3 StPO.

BGH, Beschl. v. 18.10.2022 – 3 StR 262/22

Elektronisches Dokument: Falsches Dateiformat

Allein der Umstand, dass Schriftsätze entgegen § 32a Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1, § 14 ERVV nicht im Dateiformat pdf, sondern im Dateiformat docx eingereicht worden, führt nicht zur Formungültigkeit der darin enthaltenen Prozesserklärungen. Formunwirksamkeit tritt nur dann ein, wenn der Verstoß dazu führt, dass im konkreten Fall eine Bearbeitung durch das Gericht nicht möglich ist. Demgegenüber führen rein formale Verstöße gegen die ERVV dann nicht zur Formunwirksamkeit des Eingangs, wenn das Gericht das elektronische Dokument gleichwohl bearbeiten kann.

BGH, Beschl. v. 19.10.2022 – 1 StR 262/22

Strafbefehl: Form von Einspruch und Wiedereinsetzungsantrag

Weder ein Wiedereinsetzungsantrag noch der Einspruch gegen einen Strafbefehl können wirksam per einfacher E-Mail bei Gericht eingereicht werden.

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 9.11.2022 – 12 Qs 59/22

Entziehung der Fahrerlaubnis: Unbewusste Drogenaufnahme

Wer sich auf eine unbewusste Drogeneinnahme beruft, muss einen detaillierten, in sich schlüssigen und glaubhaften Sachverhalt vortragen, der einen solchen Geschehensablauf als ernsthaft möglich erscheinen lässt und der damit auch zumindest teilweise der Nachprüfung zugänglich ist.

OVG Sachsen, Beschl. v. 26.10.2022 – 3 M 88/22

Fahrtenbuchanordnung: Unrichtige Angaben zum Fahrer

Macht der Fahrzeughalter nach einem mit seinem Fahrzeug begangenen Verkehrsverstoß unrichtige Angaben zum Fahrer (hier: Angabe eines Tarnnamens und einer Tarnanschrift), dann wirkt er nicht hinreichend an der Feststellung des Fahrers mit.

VG Lüneburg, Urt. v. 17.10.2022 – 1 A 139/21

Honorarberechnung: Übersendung per beA

Die Honorarberechnung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 RVG geht dem Mandanten nicht in der erforderlichen schriftlichen Form zu, wenn die Berechnung vom Rechtsanwalt mit einfacher Signatur über das besondere elektronische Anwaltspostfach an das Gericht gesandt und von dort in ausgedruckter Form dem Mandanten zugeleitet wird

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.10.2022 – 3 W 111/22

Anspruch des Pflichtverteidigers gegen den Beschuldigten: Anrechnung

Der Anspruch des gerichtlich bestellten Verteidigers gegen den Beschuldigten auf Zahlung der Wahlverteidigergebühren entfällt nach teilweisem Freispruch oder sonstigem teilweisen Obsiegen des Beschuldigten nicht nur in Höhe des darauf entfallenden Anteils, sondern in Höhe der gesamten gezahlten Pflichtverteidigergebühren.

LG Koblenz, Beschl. v. 7.11.2022 – 9 Qs 74/22

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