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Geschwindigkeitsmessung mit ESO ES 8.0

1. Bei Geschwindigkeitsmessungen mit dem Messgerät ESO ES 8.0 handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren.

2. Die Rohmessdaten, die von dem Messgerät ESO ES 8.0 bis zur Softwarerevison 3 (28.2.2020) erhoben und gespeichert wurde, sind grundsätzlich eine hinreichende Grundlage für eine fundierte gerichtlich-sachverständige Überprüfung des Messergebnisses.

3. Die mutwillige softwarebedingte Nichtspeicherung von Messdaten, die zuvor bei dem gleichen Gerätetyp einer Speicherung unterlagen, ist eine mit dem rechtsstaatlichen Verfahren, konkret dem Anspruch der betroffenen Person auf eine effektive Verteidigung nicht zu vereinbarende und daher nicht hinnehmbare mutwillige Unterdrückung.

4. Der Grundsatz des „fairen Verfahrens“ gebietet es, dass die Bußgeldbehörde in einem Verfahren betreffend eine Geschwindigkeitsmessung die von dem verwendeten Messgerät erhobenen Messdaten jedenfalls auf Verlangen dem Verteidiger und dem Gericht zur Verfügung stellt.

5. Verlangt der Verteidiger Einsicht in Messdaten, die vormals bei dem gleichen Gerätetypen der Speicherung unterlagen, und können diese aufgrund einer nunmehr fehlenden Speicherung nicht zur Verfügung gestellt werden, trägt allein dies einen Freispruch aus rechtlichen Gründen. (Leitsätze des Verfassers)

AG Schleiden, Urt. v. 2.9.202213 OWi 179/22

I. Sachverhalt

Messung mit ESO ES 8.0

Dem Betroffenen wurde eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 24 km/h auf einer Bundesstraße außerorts vorgeworfen. Die Geschwindigkeit des von dem Betroffenen geführten Fahrzeugs wurde mit einer mobilen Geschwindigkeitsmessanlage des Typs ESO ES 8.0 – nach den Feststellungen des Gerichts gültig geeicht sowie fachgerecht aufgestellt und bedient – ermittelt. Bereits mit Schriftsatz vom 3.5.2022 hatte der Verteidiger unter Berufung auf die Entscheidung des BVerfG vom 12.11.2020 (2 BvR 1616/18), die Übersendung der „Messdaten“ von der Bußgeldbehörde verlangt. Dieses Verlangen hatte er später im gerichtlichen Einspruchsverfahren wiederholt. Er berief sich hierbei jeweils auf das Prinzip des „fairen Verfahrens“ und legte ein Privatgutachten vor, das auf die Notwendigkeit solcher Daten für eine fundierte sachverständige Überprüfung und die fehlende Prüfbarkeit der Messung ohne Daten verwies. Die zuständige Kreispolizeibehörde übermittelte die zu dem Verfahren gehörigen Messdaten indes nicht und erklärte gegenüber der Bußgeldbehörde des Kreises und dem AG auch unter Bezugnahme auf die Auffassung des Landesamtes für Polizeiliche Dienste des Landes NRW) dass solche Messdaten seit der 3. Revision (28.2.2020) der Software zu dem Messgerät ESO ES 8.0, abgesegnet durch die darauf beruhende Baumusterprüfbescheinigung der Konformitätsstelle der PtB, nicht mehr gespeichert werden.

Keine Herausgabe der Messdaten unter Hinweis auf PtB

Das AG holte daraufhin eine unmittelbare Stellungnahme der PtB ein die, so die Feststellungen des Urteils, mitteilte, „dass es offenbar nicht die Absicht des Herstellers sei, Geräte mit Rohmessdatenspeicherung auf den Markt zu bringen. Es entspräche auch nicht den „Wünschen des Herstellers“, dass Messdaten im Nachhinein zugänglich seien. Insoweit habe der Bundesverband Verkehrssicherheitstechnik e.V. der PTB mitgeteilt, dass „für die bereits am Markt befindlichen Messgeräte […] seitens der PTB und seitens der betreffenden beiden Hersteller die Empfehlung der Umrüstung auf die aktuelle Software im Rahmen der nächsten Eichung [besteht]“.Weiter: „[…] Damit ist gewährleistet, dass es nunmehr bei keinem der nach neuem Eichrecht geregelten und neu in Verkehr gebrachten Messgeräte verwechslungsfähige „Rohmessdaten“ gibt.“

Freispruch

Das AG hat den Betroffenen freigesprochen, da die ihm zur Last gelegte Ordnungswidrigkeit „aus rechtlichen Gründen nicht festgestellt werden“ könne.

II. Entscheidung

Vorwurf

Das AG wirft der Behördenseite im Urteil vor, dass durch die Änderungen mit der Revision 3 der Software des ESO ES 8.0 – also der nunmehr eingeführten Nichtspeicherung bisher gespeicherter Messdaten – unnötig und unter falschen Annahmen dem Gericht und der Verteidigung die einzige objektiv belastbare Möglichkeit zur Verifizierung eines Messergebnisses – die sog. „Rohmessdaten“ – genommen werde. Zwar handele es sich bei dem System „ESO 8.0“ um ein standardisiertes Messverfahren nach der Rechtsprechung des BGH in BGHSt 43, 277. Aus dem Beschluss des BVerfG vom 12.11.2020 (2 BvR 1616/18) sei aber – trotz grundsätzlicher Bestätigung der Rechtsstaatlichkeit der Konstruktion des standardisierten Messverfahrens – zu entnehmen, dass der Betroffene seine Verfahrensrechte noch wirkungsvoll wahrnehmen könne, also „Waffengleichheit“ herrsche. Dementsprechend sei die Klarstellung des BVerfG, dass der Betroffene Einsicht in vorhandene Messdaten verlangen dürfe, dahingehend zu verstehen, dass ihm diese auch nicht ohne Grund frühzeitig entzogen werden und damit Verteidigungsmöglichkeiten „ohne Not“ abgeschnitten werden dürften. Weiter sei das standardisierte Messverfahren als Beweiserleichterungen für das Gericht ein „Kann“ und kein „Muss“.

ESO ES 8.0 speichert

Dabei sieht sich das AG ausdrücklich auf einer Linie mit der Entscheidung des OLG Köln in DAR 2019, 695, nach der dann mit Konstellationen fehlender Rohmessdaten keine Bedenken verbunden seien, wenn und solange das betroffene Messgerät eine Datenspeicherung zu keinem Zeitpunkt vorgesehen hat. Die sehe das AG auch so, der Fall ESO ES 8.0 liege aber gerade anders: Nicht nur habe das Gerät bereits in der Vergangenheit Messdaten gespeichert und diese Möglichkeit nun verloren; bei den Messdaten handele es sich auch nicht nur um „Hilfsgrößen“ – das AG spielt hier wohl an auf die einfachen Weg-Zeit-Berechnungen des der Entscheidung des OLG Köln (a.a.O.) zugrundeliegenden TraffiPax-Systems – sondern um Daten, die sich bereits bewährt hätten. So beruft sich das AG auf Verfahren, in denen gerichtliche Gutachter unter Auswertung der Messdaten von ESO ES 8.0 und ESO ES 3.0 die Messung hätten „nachvollziehen“ können – mit stets bestätigendem Ergebnis.

Hersteller darf Daten nicht unterdrücken

Vor dem Hintergrund im Einzelnen aufgeführter oberlandesgerichtlicher Rechtsprechung und der nachgewiesenen Aussagekraft der Messdaten in der Vergangenheit sei, Zitat, der „Hersteller also nicht berechtigt, bei einem Gerät, dass vormals beweiserhebliche Daten zuverlässig gespeichert hat, diese mutwillig zu unterdrücken. Denn aus dem Umstand, dass das Gerät überhaupt einen Messwert aus den – angeblich wertlosen – Daten gewinnen kann, folgt, dass diese Daten vorhanden waren. Die Löschung einmal vorhandener beweiserheblicher Daten erfüllt indes den Tatbestand der Unterdrückung. Da diese Unterdrückung technisch flächendeckend und fortgesetzt mit Blick gerade auf rechtsstaatliche Gerichtsverfahren durchgeführt wird, ist ihr seitens des Gerichts eine strikte Absage zu erteilen.“

Geltendmachung des Einsichtnahmerechts erforderlich

Voraussetzung für einen Freispruch aus rechtlichen Gründen alleine aufgrund dieser Konstellation sei indes eine Geltendmachung des Einsichtnahmerechts durch den Betroffenen, denn der Grundsatz des „fair trial“ bilde „keinen Selbstzweck“. Vielmehr müsse der Betroffene sich hierauf berufen, was bedeute, dass das Gericht bei einem Betroffenen, der „die Messung gar nicht überprüfen lassen wolle und keine Dateneinsicht begehre, auch keinen Verstoß gegen das faire Verfahren annehmen“ müsse.

III. Bedeutung für die Praxis

AG traut sich

1. Nach langer Zeit – man möchte sagen „Endlich!“ – traut sich das AG Schleiden, was zahllose andere AG bisher nicht wagten: Es stellt bei Konstellationen, die mit der fehlenden Rohmessdatenspeicherung des Systems ESO 8.0 in der Softwarerevision 3 zusammenhängen, das Verfahren nicht einfach unsichtbar und dem Rechtsmittel entzogen ein, sondern spricht frei – aus rechtlichen Gründen, und nicht etwa mit Blick auf tatsächliche Zweifel betreffend die konkrete Einzelmessung. Damit knüpft es an seine Entscheidungen zum Einsichtnahmerecht in Messdaten in Verfahren nach § 62 OWiG (etwa AG Schleiden, Beschl. v. 3.3.2021 – 13 OWi 19/21 [b]) an und entzieht dem System ESO ES 8.0 in der derzeit in Verwendung befindlichen Variante den Boden. Nachdem die PtB jüngst nach eigener Auskunft ihre Zulassungsrichtiglinien so modifiziert hat, dass auch das Vorgängermodell ESO 3.0 entsprechenden Veränderungen hinsichtlich der Messdatenspeicherung ausgesetzt ist, gewinnt die Bedeutung gemessen an der Fallzahl umso mehr an Bedeutung.

Finger in der Wunde

2. Das AG fühlt sich – zusammenfassend formuliert – um seine bisher offenbar hoch geschützten ESO-Messdaten und die Unabhängigkeit seiner Entscheidungsfindung betrogen und bezieht – trotz einiger deutlich versöhnlich formulierter Passagen an das zuständige Obergericht OLG Köln – unmissverständlich Stellung. Hierbei legt es die Finger gleich in mehrere schwelende Wunden des Umgangs mit dem „standardisierten Messverfahren“ in der gerichtlichen Praxis und scheut dabei nicht einmal unmittelbare verfassungsrechtliche Bezüge. Inkonsequent mutet zwar der Ansatz an, die Ahndung der gesehenen „Unterdrückung“ auf solche Fälle zu beschränken, in denen die Verteidigung die Einsichtnahme in die Rohmessdaten ausdrücklich verlangt hat: Denn zum Einen erscheint es wenig zielführend, die Verteidigung zur Stellung offenkundig aussichtsloser Anträge anzuhalten – eingesehen werden kann nur, was auch existiert – zum Anderen dürften Grundprinzipen wie das des „fair trial“ oder der Effektivität der Verteidigung stets und von Amts wegen zu gewähren sein. Diesen Wermutstropfen – vorläufig – hinzunehmen, fällt indes leicht, angesichts der potentiellen Sprengkraft der Entscheidung.

Rechtsmittel der StA

3. Die zuständige Staatsanwaltschaft Aachen hat die Brisanz des Schleidener Richterspruchs jedenfalls erkannt und ihrerseits entschieden, das Problem ebenfalls zum Thema zu machen und – im dortigen Sprengel eher selten – Rechtsmittel eingelegt. Die Entscheidung befindet sich dementsprechend aktuell im Verfahren über die Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 OWiG beim OLG Köln.

Durchbruch?

4. Was für eine Chance: Der erste Stein fehlt in der Mauer – der Durchbruch ist da? Dies wird maßgeblich davon abhängen, ob sich das Oberlandesgericht Köln seine bisher im Bereich der Rohmessdaten wenig progressive, aber dafür umso mehr verfestigte Rechtsprechung zu hinterfragen traut. Positionieren wird es sich müssen – anderenfalls wird die nördliche Eifel offenbar auf absehbare Zeit zur ESO-freien Zone.

Verteidiger

5. Für die Verteidigung in Ordnungswidrigkeiten betreffend ESO-Systeme folgt aus der Entscheidung des AG Schleiden für die Wartezeit auf die Rechtsmittelinstanz Köln einstweilen eine Bestätigung der Maxime: Immer Einspruch einlegen, immer die vollständigen Rohmessdaten zur Einsichtnahme verlangen und vorsorglich Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des BVerfG in Sachen 2 BvR 1167/20 beantragen.

RiAG Malte Theis, Euskirchen

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