Beitrag

Entbindungsantrag über beA

1. Die Entscheidung über einen Entbindungsantrag steht nicht im Ermessen des Gerichts, vielmehr ist es verpflichtet, dem Antrag nachzukommen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen.

2. Wenn der nach § 73 Abs. 2 OWiG gestellte Entbindungsantrag erst am Sitzungstag und nur kurz vor dem anberaumten Termin bei Gericht eingeht, darf der Einspruch jedenfalls dann nicht ohne eine vorherige Entscheidung über den Antrag verworfen werden, wenn dieser mit „offenem Visier“, also nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht „versteckt“ oder „verklausuliert“, angebracht worden ist.

3. Regelmäßig ohne Belang ist, ob dem Bußgeldrichter der Entbindungsantrag bekannt war. Entscheidend ist, ob sich der Tatrichter im Rahmen seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht vor Erlass des Verwerfungsurteils bei der Geschäftsstelle vergewissert hat, ob eine Mitteilung über die Verhinderung des Betroffenen vorliegt.

4. Lag der Antrag dem Gericht nicht vor, kommt es darauf an, ob er bei gehöriger gerichtsinterner Organisation unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt zur Bearbeitung hätte zugeführt werden können und müssen. (Leitsätze des Gerichts)

KG, Beschl. v. 28.9.20223 Ws (B) 226-22 – 122 Ss 94-22

I. Sachverhalt

Entbindungsantrag per beA am Tag vor der Hauptverhandlung

Nach Einspruchseinlegung durch den Betroffenen hatte das AG Hauptverhandlung auf den 30.5.2022 anberaumt. Mit Schriftsatz vom 29.5.2022 hat der Verteidiger beantragt, den Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen im Hauptverhandlungstermin zu entbinden. Der Betroffene räume ein, verantwortlicher Fahrzeugführer gewesen zu sein. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse habe er mehrfach mitgeteilt. Weitere Angaben würden nicht erfolgen, weshalb die Anwesenheit des Betroffenen im Hauptverhandlungstermin entbehrlich sei. Diesen Schriftsatz hatte der Verteidiger am 29.5.2022 um 16.56 Uhr elektronisch aus einem besonderen Anwaltspostfach an das AG übermittelt. Über den Entbindungsantrag hat das AG Tiergarten nicht entschieden. Zum Beginn der Hauptverhandlung am 30.5.2022 um 13.24 Uhr sind weder der Betroffene noch der von ihm bevollmächtigte Verteidiger erschienen. Das AG hat den Einspruch verworfen. Dagegen hat der Betroffene dann die Rechtsbeschwerde eingelegt, die beim KG Erfolg hatte.

II. Entscheidung

Ausreichender Entbindungsantrag

Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG sei – so das KG – begründet, weil das AG den Entbindungsantrag des Betroffenen übergangen habet. Nach § 73 Abs. 2 OWiG habe das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, er werde sich in der Hauptverhandlung nicht weiter zur Sache äußern, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Genau diese Erklärungen habe der Betroffene über seinen hierzu bevollmächtigten Verteidiger vor der Hauptverhandlung abgegeben. Die Entscheidung über den Entbindungsantrag stehe damit nicht im Ermessen des Gerichts, vielmehr sei es verpflichtet, dem Antrag nachzukommen, sofern – wie im vorliegenden Fall – die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (vgl. u.a. KG DAR 2022, 217 sowie Beschl. v. 1.4.2019 – 3 Ws (B) 103/19 – und v. 11.12.2017 – 3 Ws (B) 310/17).

Keine „Gehörsrügenfalle“

Auch dann, wenn der Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG erst am Sitzungstag und nur kurz vor dem anberaumten Termin bei Gericht eingehe, dürfe der Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid jedenfalls dann nicht ohne eine vorherige Entscheidung über den Antrag verworfen werden, wenn der Antrag mit „offenem Visier“, also nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht „versteckt“ (OLG Hamm NStZ-RR 2015, 259) oder „verklausuliert“ (OLG Rostock NJW 2015, 1770; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 25.4.2017 – IV-2 RBs 49/17) eingereicht worden sei (BayObLG zfs 2019, 409 m.w.N.). Bei der Beurteilung des Sachverhalts seien alle Umstände in den Blick zu nehmen (vgl. KG, Beschl. v. 27.7.2021 – 3 Ws (B) 194/21, NZV 2022, 45). Dem Schriftsatz fehle zwar ein Hinweis auf die Eilbedürftigkeit wegen des anstehenden Hauptverhandlungstermins und der Antrag sei auch optisch nicht hervorgehoben worden. Es lässt sich insgesamt aber nicht feststellen, dass er in rechtsmissbräuchlicher Absicht und mit der Erwartung angebracht worden sei, er werde nicht rechtzeitig vorgelegt werden (vgl. OLG Rostock, a.a.O.). Dabei falle ins Gewicht, dass der Verteidiger den Antrag bereits am (späten) Nachmittag vor dem Terminstag sowie in einem einseitigen, überschaubaren Schriftsatz übermittelt habe.

Hat sich Amtsrichter vergewissert?

Regelmäßig ohne Belang sei, ob dem Bußgeldrichter der Entbindungsantrag des Betroffenen bekannt gewesen sei. Es sei vielmehr zu prüfen, ob sich der Tatrichter im Rahmen seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht vor Erlass des Verwerfungsurteils bei der Geschäftsstelle vergewissert habe, ob eine Mitteilung über die Verhinderung des Betroffenen vorliege. Denn erfahrungsgemäß werde die Geschäftsstelle eines Gerichts auch noch kurz vor einem Termin davon verständigt, dass der Betroffene verhindert sei (vgl. KG StraFo 2014, 467; OLG Köln NStZ-RR 2003, 54; jeweils m.w.N.). Zudem komme es darauf an, ob der Antrag im Einzelfall unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt dem Gericht zur Bearbeitung hätte zugeführt werden können und müssen (vgl. OLG Zweibrücken, Beschl. 30.6.2022 – 1 OWi 2 SsRs 85/21). Maßgeblich sei dafür, ob nach Aktenlage der Antrag das Tatgericht vor Beginn der Hauptverhandlung tatsächlich erreicht hatte und deshalb bei gehöriger gerichtsinterner Organisation dem Bußgeldrichter rechtzeitig zugeleitet oder sonst zu Kenntnis hätte gebracht werden können (vgl. KG DAR 2022, 217 m.w.N. und Beschl. v. 27.7.2021 – 3 Ws (B) 194/21; BayObLG. a.a.O.; OLG Köln, a.a.O.). Gemessen an diesen Grundsätzen hätte nach Ansicht des KG der Entbindungsantrag des Betroffenen vor der Verwerfung des Einspruchs bearbeitet werden müssen. Dabei komme es im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob eine Nachfrage des Tatrichters bei der Geschäftsstelle seiner Abteilung vor der Hauptverhandlung einen Hinweis auf den Eingang des Antrags ergeben hätte. Ebenso wenig sei entscheidend, dass eine Erkundigung, die über die Nachforschung auf der Geschäftsstelle hinausgehe, insbesondere die Ermittlung eines Eingangs bei allen möglichen und zugelassenen Einlaufstellen für digitale und physikalische Post, durch den Tatrichter nicht geboten ist (vgl. KG zfs 2020, 470 und NZV 2015, 253; OLG Bamberg NZV 2009, 355). Die Geschäftsabläufe des AG hätten aber gewährleisten müssen, dass der Antrag bis zum Beginn der Hauptverhandlung die Geschäftsstelle und den zuständigen Richter erreicht (vgl. OLG Zweibrücken, a.a.O.; KG, Beschl. v. 27.7.2021 – 3 Ws (B) 194/21). Denn der Antrag sei mit hinreichendem zeitlichen Vorlauf vor dem Hauptverhandlungstermin und der „Regelpflicht zur elektronischen Kommunikation“ (vgl. BT-Drucks 18/9416, Begründung zu § 32d StPO, S. 50) folgend auch an einer dafür vorgesehenen Eingangsstelle eingereicht worden. Der mit Aktenzeichen zuzuordnende Schriftsatz habe ersichtlich den anstehenden Hauptverhandlungstermin betroffen. Es habe daher bei geordnetem Geschäftsgang eine Vorlage an den Richter als sicher gelten können, auch wenn eine zusätzliche Kennzeichnung des Schriftsatzes als eilbedürftig sicherlich zuträglich gewesen wäre.

III. Bedeutung für die Praxis

Gestaltung der Arbeitsabläufe

1. Nun ja, ein wenig bewegt sich das KG und gibt dem „nachgeordneten“ AG einiges an die Hand, wie ggf. Arbeitsabläufe zu gestalten sind. Als Fazit kann man aus dem Beschluss ableiten, dass zumindest dann, wenn eine Entbindungsantrag – wie hier – am Vortag der Hauptverhandlung beim AG eingeht, er dem Bußgeldrichter noch zugeleitet werden muss. Dafür stehen Telefone sicherlich zur Verfügung. Als Verteidiger sollte man auf die Eilbedürftigkeit hinweisen und ggf. den Vermerk: „Eilt! Hauptverhandlung am… Bitte sofort vorlegen.“ Das bewahrt nicht nur vor dem Einwand des Rechtsmissbrauchs – Stichwort: Gehörsrügenfalle – sondern dürfte – hoffentlich sicherstellen, dass der Antrag den zuständigen Richter erreicht.

Hinweis auf EGVP

2. Im Übrigen: Die Rechtsprechung des KG unterscheidet sich wohltuend von der des OLG Frankfurt am Main, das ja in einem Beschl. v. 11.6.2021 (2 Ss-OWi 440/21, VRR 12/2021, 20 m. abl. Anm. Burhoff) erwogen hat, in Zukunft einen Entbindungsantrag nur noch als prozessual wirksam anzusehen, wenn er „frühzeitig“, das heißt mindestens 3 Werktage vor der Hauptverhandlung gestellt wird. Für eine solche Einschränkung des Antragsrecht des Betroffenen aus § 73 Abs. 2 OWiG bietet sich keine Rechtsgrundlage. Zu anderen Sicht der Sach- und Rechtslage durch das KG passt auch ein Hinweis an das AG Tiergarten im Beschluss. das KG weist das AG nämlich ausdrücklich darauf hin, dass bei dem AG seit 1.6.2022 „die Dienstanweisung zum Betrieb des Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs (EGVP) gilt. Danach ist es Servicekräften der Geschäftsstellen auferlegt, elektronische Nachrichten, die eingegangen und in das dafür eingerichtete Verzeichnis der jeweiligen Abteilung abgelegt wurden, mehrfach täglich zu überprüfen. Im Fall der Eilbedürftigkeit sind diese Eingänge wie alle anderen eiligen Sachen zu behandeln.“ D.H. Man muss ggf. schon mal wenigstens den Telefonhörer in die Hand nehmen und den zuständigen Richter anrufen oder sich auf den Weg zum Sitzungssaal machen, um den Entbindungsantrag rechtzeitig „zuzustellen“.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…