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VRR-Kompakt 2022_11

Linksabbiegen: Ampelausfall

Derjenige, dem ein grüner Pfeil das Linksabbiegen gestattet, darf darauf vertrauen, dass Gegenverkehr durch Rotlicht gesperrt ist und Fahrzeuge aus der Gegenrichtung das für sie geltende Haltegebot beachten. Dieser Vertrauensgrundsatz wird nicht dadurch beseitigt, dass nach Passieren der Ampel für den Linksabbieger die Anlage ausfällt. Ein Idealfahrer hätte aus dem mit dem Ampelausfall einhergehenden Ausfall des Ampellichts der Fußgängerampel, der für die Linksabbieger erkennbar war, geschlossen, dass es eine Fehlfunktion der Ampelschaltung gibt. Ein unabwendbares Ereignis liegt deshalb nicht vor.

OLG Schleswig, Urt. v. 20.9.2022 – 7 U 201/21

Unfallmanipulation: Beweisanzeichen

Eine ungewöhnliche Häufung von Beweisanzeichen kann die Feststellung rechtfertigen, dass der Unfall verabredet gewesen ist. Beweisanzeichen können sich ergeben aus Unfallhergang, Art der Schäden, fehlender Kompatibilität, Anlass der Fahrt, Art der beteiligten Fahrzeuge, persönliche Beziehungen und Vermögensverhältnissen der Beteiligten. Entscheidend ist die Gesamtschau und nicht die isolierte Würdigung der einzelnen Umstände. Parkplatzunfälle ohne Zeugen und Beweisfotos mit langgezogenen Streifschäden gehören zu den Klassikern der Unfallmanipulation, da das Risiko einer darüber hinausgehenden Verkehrsgefährdung ausgeschlossen werden kann. Wenn es bei einem Parkplatzunfall zur Generierung des Schadenbildes (hier langgezogener Streifschaden mit Unterbrechung und anschließender zunehmender Intensität bis zur Annäherung an die B-Säule) ungewöhnlicher Lenkbewegungen des Unfallverursachers bedarf, kann dies ebenfalls Indiz für ein manipuliertes Unfallgeschehen sein.

OLG Schleswig, Beschl. v. 12.10.2022 – 7 U 62/22

Waschstraßenunfall: Beweislastverteilung

In Abweichung von der grundsätzlichen Beweislastverteilung wird in den sogenannten Waschstraßenfällen von der Schädigung auf die Pflichtverletzung der Betreiberin geschlossen, wenn der Geschädigte darlegt und beweist, dass die Schadensursache allein aus dem Verantwortungsbereich der Betreiberin herrührt. Dieser Anscheinsbeweis kommt jedoch nur dann zum Tragen, wenn feststeht, dass der Schaden nur durch den automatisierten Waschvorgang in der Waschstraße selbst verursacht worden sein kann, also keine andere Schadensursache in Betracht kommt.

AG Wedding, Urt. v. 31.8.2022 – 20 C 350/20

Verkehrsunfall: Rückwärtsfahren

Ein jeweils anderer Verkehrsteilnehmer im Sinne von §§ 9 Abs. 5, 10 Abs. 1 StVO ist nicht nur der fließende Verkehr, sondern jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, d.h. körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt. Hierzu gehören auch diejenigen, die auf der jeweils anderen Straßenseite selbst ein Fahrmanöver durchführen, um in die Fahrbahn einzufahren. Kommt es in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren in den fließenden Verkehr zu einer Kollision, spricht bereits der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Einfahrenden. Die der Rückwärtsfahrt innewohnende besondere Gefährlichkeit kann auch beim rückwärts Ausparken auf die Gegenfahrbahn leicht erhöht werden, da dieser den längeren Fahrweg hat und zusätzlich noch die Gegenfahrbahn überqueren muss.

AG Pfaffenhofen, Urt. v. 23.9.2022 – 1 C 427/21

Gutgläubiger Erwerb: Unbegleitete Probefahrt

Die Überlassung eines Kraftfahrzeugs durch den Verkäufer zu einer unbegleiteten und auch nicht durch technische Vorrichtungen, die einer Begleitung vergleichbar sind, gesicherten Probefahrt eines Kaufinteressenten auf öffentlichen Straßen für eine Dauer von einer Stunde ist keine Besitzlockerung, sondern führt zu einem freiwilligen Besitzverlust (Anschluss an BGH, Urt. v. 18.9.2020 – V ZR 8/19). Die durch den Einbau von zwei SIM-Karten eröffnete Überwachungsmöglichkeit stellt jedenfalls dann keine technische Vorrichtung dar, die einer Begleitung vergleichbar wäre, wenn die eingebauten SIM-Karten nicht dem Eigentümer, sondern nur der Polizei mit Unterstützung der Fahrzeugherstellerin eine Ortung ermöglichen (Fortführung von BGH, Urt. v. 18.9.2020 – V ZR 8/19).

OLG Celle, Urt. v. 12.10.2022 – 7 U 974/21

Wiedereinsetzung: Verschulden des Rechtsanwalts

Ein Rechtsanwalt hat durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anordnung, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren.

BGH, Beschl. v. 20.9.2022 – VI ZB 17/22

Unternehmerischer Geschäftsverkehr: E-Mail-Zugang

Wird eine E-Mail im unternehmerischen Geschäftsverkehr innerhalb der üblichen Geschäftszeiten auf dem Mailserver des Empfängers abrufbereit zur Verfügung gestellt, ist sie dem Empfänger grundsätzlich in diesem Zeitpunkt zugegangen. Dass die E-Mail tatsächlich abgerufen und zur Kenntnis genommen wird, ist für den Zugang nicht erforderlich.

BGH, Urt. v. 6.10.2022 – VII ZR 895/21

Sperrfrist: Mindestdauer von drei Monaten

Eine Sperrfrist unterhalb der in § 69a Abs. 4 Satz 2 StGB bestimmten Mindestdauer ist unzulässig.

KG, Urt. v. 17.8.2022 – (3) 161 Ss 129/22 (44/22)

Alleinrennen: Polizeiflucht

Allein der Umstand, dass der Angeklagte unter Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und von Vorfahrtsregelungen vor der Polizei flüchtete, genügt nicht zur Annahme der nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB erforderlichen Absicht, auf einer nicht unerheblichen Wegstrecke die unter den konkret situativen Gegebenheiten maximal mögliche Geschwindigkeit zu erreichen.

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 14.10.2022 – 1 OLG 2 Ss 27/22

Geschwindigkeitsüberschreitung: Vorsatz

Angesichts eines massiven Ausmaßes einer Geschwindigkeitsüberschreitung um 52 km/h drängt sich die Annahme vorsätzlicher Begehung geradezu auf. Dass dem Betroffenen der Umfang einer Geschwindigkeitsüberschreitung möglicherweise nicht exakt bekannt war, steht im Übrigen der Annahme von Vorsatz nicht entgegen. Vorsätzliches Handeln setzt eine solche Kenntnis nicht voraus, vielmehr genügt das Wissen, schneller als erlaubt zu fahren.

OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.9.2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 397/22

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: elektronische Übermittlung

An einer elektronischen Übermittlung fehlt es, wenn der Rechtsmittelschriftsatz entgegen den Vorgaben des § 110c OWiG i.V.m. § 32d Satz 2 StPO nicht elektronisch, sondern mittels einfachen Telefaxes an das Gericht übermittelt wird. Dies genügt den Formvorgaben des § 32d Satz StPO nicht. Für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist gem. § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO (u.a.) erforderlich, dass die verabsäumte Handlung in einer (auch) dem § 32d StPO genügenden Art und Weise nachgeholt wird.

OLG Hamm, Beschl. v. 24.8.2022 – 5 RBs 179/22

Strafbefehl: Nichtunterzeichnung

Ein vom Richter nicht unterzeichneter Strafbefehl steht einem fehlenden Eröffnungsbeschluss gleich, so dass das Verfahren vom Berufungsgericht unter Aufhebung des angefochtenen Urteils einzustellen ist. Das Erfordernis der Unterzeichnung kann nicht anhand von Umständen aus der Akte, wie z.B. von einem Namenskürzel auf der Begleitverfügung, fingiert werden. Denn dadurch ist nicht dokumentiert, dass der Richter die Verantwortung für den Inhalt des nicht von ihm herrührenden Strafbefehlsentwurfs übernehmen wollte.

LG Arnsberg, Beschl. v. 16.9.2022 – 3 Ns-110 Js 1471/21

Besorgnis der Befangenheit: „Vorgeworfene Taten“

Aus der Formulierung in einem Beschluss, „durch die vorgeworfenen Taten“ habe „der Angeklagte selbst die Privatsphäre anderer (hier der Zeuginnen pp zum Gegenstand der öffentlichen Erörterung gemacht‘ lässt sich dahingehend verstehen, dass der Richter bereits davon ausgeht, der Angeklagte habe „die vorgeworfenen Taten“, begangen.

AG Tiergarten, Beschl. v. 21.9.2022 – 217c AR 88/22

Rohmessdaten: Einstellung und Durchsuchung

Werden dem Verteidiger vorliegende Rohmessdaten und die Bedienungsanleitung von der Verwaltungsbehörde auch noch im gerichtlichen Verfahren vorenthalten, so liegt eine Verletzung fairen Verfahrens vor. Durchsuchungen bei der Verwaltungsbehörde sind in einem solchen Fall unverhältnismäßig. Ein Verfahren, in dem es zu einer Verletzung fairen Verfahrens kommt, kann nach § 47 OWiG eingestellt werden.

AG Dortmund, Beschl. v. 15.9.2022 – 729 OWi-263 Js 1114/22-89/22

Entziehung der Fahrerlaubnis: Erkrankung an Diabetes

Bei medikamentöser Therapie eines Diabetes mellitus mit hohem Hypoglykämierisiko (z.B. Insulin) ist die Fahreignung nach den strengeren Anforderungen an das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 zu bejahen bei guter Stoffwechselführung ohne schwere Unterzuckerung über drei Monate und ungestörter Hypoglykämiewahrnehmung. Schwere Unterzuckerung (Hypoglykämie) bedeutet dabei nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung die Notwendigkeit von Hilfe durch eine andere Person.

BayVGH, Beschl. v. 14.9.2022 – 11 CS 22.876

Entziehung der Fahrerlaubnis: Fahrerlaubnis auf Probe

Die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gemäß § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG ist nur dann möglich, wenn dem Inhaber einer Fahrerlaubnis auf Probe die Fahrerlaubnis zuvor entzogen worden ist. Auf Fälle eines vorherigen Verzichts der Fahrerlaubnis ist die Vorschrift weder im Wege einer erweiternden Auslegung noch im Wege der Analogie anwendbar. Ist in einer Gutachtenanordnung eine Rechtsgrundlage ausdrücklich genannt, ist für die Rechtmäßigkeit der Anordnung allein maßgeblich, ob die Voraussetzungen der genannten Rechtsgrundlage vorliegen.

OVG Münster, Beschl. v. 31.8.2022 – 16 B 1583/21

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