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Rekonstruierbarkeit des Messvorgangs; Aussetzung des Verfahrens

1. Dass bei einem standardisierten Messverfahren (hier: PoliScan M1 HP) Messdaten nicht gespeichert werden, führt nicht zu einem Beweisverwertungsverbot. Die Verwertbarkeit des Messergebnisses hängt nicht von der Rekonstruierbarkeit des Messvorgangs anhand gespeicherter Messdaten ab.

2. Die Aussetzung des Verfahrens, um die Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde in anderer Sache abzuwarten, liegt im Ermessen des Gerichts. In einer Bußgeldsache mit kurzer Verfolgungsverjährung ist zu berücksichtigen, dass eine solche Aussetzung nicht zum Ruhen der Verfolgungsverjährung führt.

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.10.20222 RBs 155/22

I. Sachverhalt

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 71 km/h zu einer Geldbuße von 1.920 EUR verurteilt und ein dreimonatiges Fahrverbot verhängt. Hiergegen richtet sich dessen Rechtsbeschwerde, die teilweise Erfolg hatte.

II. Entscheidung

Erfolgreiche Verfahrensrüge betreffend rechtlichen Hinweis

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte mit dessen (Verfahrens)Rüge, er sei nicht rechtzeitig darauf hingewiesen worden, dass abweichend von dem Bußgeldbescheid auch eine vorsätzliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in Betracht komme, Erfolg. Wenn – was hier der Fall war – im Bußgeldbescheid keine Schuldform bezeichnet worden sei, so sei davon auszugehen, dass dem Betroffenen Fahrlässigkeit zur Last gelegt werde (vgl. OLG Jena NStZ-RR 1997, 116). Solle der Betroffene wegen Vorsatzes verurteilt werden, sei daher nach § 71 Abs. 1 OWiG, § 265 Abs. 1 StPO ein Hinweis auf die Änderung der Schuldform erforderlich. Dies gelte auch im hier durchgeführten Abwesenheitsverfahren, wobei dem Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme binnen angemessener Frist einzuräumen sei (vgl. OLG Bamberg DAR 2017, 383; KK-OWiG/Senge, 5. Aufl. 2018, § 74 Rn 16). Vor dem Hauptverhandlungstermin vom 14.3.2022, einem Montag, sei der Hinweis an den Verteidiger (§ 74 Abs. 1 Satz 3 OWiG) erst mit Telefax am Freitag, 10.3.2022, 14.42 Uhr, erfolgt. Es dränge sich auf, dass die bis zum Hauptverhandlungstermin verbleibende Zeit, in die ein Wochenende fiel, für eine etwaige Stellungnahme des Verteidigers schon für sich betrachtet unangemessen kurz gewesen sei, zumal auch der Zeitbedarf für eine etwaige Rücksprache mit dem Betroffenen zu berücksichtigen sei. Jedenfalls sei der Hinweis nicht rechtzeitig angebracht worden, da das Telefax vom 10.3.2022 irrtümlich nicht an die Kanzlei des Verteidigers in P., sondern an die Zweigstelle in B. übermittelt worden sei. Gehe ein Schriftsatz bei einem unzuständigen Gericht ein, dürfe der Absender nicht erwarten, dass bei der Weiterleitung an das zuständige Gericht Eilmaßnahmen getroffen werden. Es sei lediglich die Weiterleitung im normalen Geschäftsgang erforderlich (vgl. OLG Düsseldorf NStZ-RR 2002, 216; OLG Hamm NStZ-RR 2008, 283). Umgekehrt könne das Gericht keine Eilmaßnahmen erwarten, wenn es bei einem Telefax irrtümlich nicht die dem Kanzleisitz des Verteidigers zugeordnete Faxnummer verwende. Vorliegend könne nicht zu Lasten des Betroffenen gehen, dass dem in P. ansässigen Verteidiger das an die Zweigstelle in B. übermittelte Telefax vom 10.3.2022 mit dem gerichtlichen Hinweis erst nach dem Hauptverhandlungstermin vom 14.3.2022 zur Kenntnis gelangt sei.

Rekonstruierbarkeit

Das OLG hat das angefochtene AG-Urteil daher aufgehoben. Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen seien von dem Verfahrensfehler aber nicht betroffen, so dass sie aufrechterhalten werden konnten. Es bedürfe keiner erneuten Beweisaufnahme zu der rechtsfehlerfrei festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung von 71 km/h und den weiteren objektiven Tatumständen (Fahrereigenschaft des Betroffenen, Tatzeit, Tatort, erfasster Pkw, Messverfahren). Das von dem Betroffenen geltend gemachte Beweisverwertungsverbot bestehe nicht. Das mit dem Laserscanner PoliScan M1 HP ermittelte Messergebnis sei verwertbar. Das OLG und andere OLG hätten bereits mehrfach entschieden, dass der Messvorgang nicht rekonstruierbar sein muss und die Verwertbarkeit des Messergebnisses nicht von der nachträglichen Überprüfbarkeit anhand gespeicherter Messdaten abhängt (vgl. u.a. Senat zfs 2022, 350 m.w.N.; OLG Bremen NStZ 2021, 114; OLG Dresden NJW 2021, 176; a.A. VerfGH Saarland NJW 2019, 2456 = NZV 2019, 414). An dieser Rechtsprechung hält das OLG fest.

Aussetzungsantrag

Schließlich habe das AG den Antrag des Betroffenen, das Verfahren bis zur Entscheidung des BVerfG in dem Verfahren 2 BvR 1167/20 auszusetzen, rechtsfehlerfrei abgelehnt. In dem Verfahren gehe es um eine Verfassungsbeschwerde betreffend die Frage, ob und ggf. welche verfassungsrechtlichen Konsequenzen aus einer fehlenden Speicherung von Messdaten bei Geschwindigkeitsmessungen im Bußgeldverfahren folgen (vgl. Übersicht für das Jahr 2022, Zweiter Senat, lfd. Nr. 48, abrufbar bei www.bundesverfassungsgericht.de). In diesem Fall wurde die Geschwindigkeitsmessung mit dem Infrarot-Lasermessgerät Leivtec XV3 durchgeführt (vgl. Beitrag „Bundesverfassungsgericht: Müssen Blitzer Rohmessdaten speichern?“ bei www.zimmer-gratz.de). Anzumerken sei, dass Geschwindigkeitsmessungen mit diesem Gerätetyp wegen unzulässiger Messwertabweichungen inzwischen nicht mehr als standardisiertes Messverfahren anerkannt würden). Vorliegend sei der Laserscanner PoliScan M1 HP eingesetzt worden. Wegen der gleichgelagerten Fragestellung hinsichtlich der Nichtspeicherung der Messdaten komme jedenfalls in Betracht, dass die Entscheidung in dem Verfahren 2 BvR 1167/20 auch von grundsätzlicher Bedeutung für die Verwertbarkeit der mit dem Laserscanner PoliScan M1 HP erzielten Messergebnisse sein werde. Die nach §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG anwendbaren Vorschriften der StPO sähen in einer solchen Konstellation unmittelbar keine Aussetzung des Verfahrens vor. Allerdings sei die entsprechende Anwendung des § 262 Abs. 2 StPO in Betracht zu ziehen (vgl. MüKo-StPO/Miebach, 1. Auf. 2016, § 262 Rn 19; KK-StPO/Ott, 8. Aufl. 2019, § 262 Rn 7). Die entsprechende Anwendbarkeit des § 262 Abs. 2 StPO sei etwa bei anderweitiger Anhängigkeit eines Normenkontrollverfahrens zur Gültigkeit einer entscheidungsrelevanten Rechtsnorm (vgl. BayObLG NJW 1994, 2104) und im Falle einer anderweitigen Divergenzvorlage nach § 121 Abs. 2 GVG zu einer für die Entscheidung bedeutsamen Rechtsfrage bejaht worden. Auf derselben Ebene liege die Verfassungsbeschwerde eines Dritten, bei der die grundsätzliche Klärung einer im vorliegenden Verfahren entscheidungsrelevanten Rechtsfrage zu erwarten sei.

Keine Rechtspflicht zur Aussetzung

Es besteht indes keine Rechtspflicht, ein Bußgeldverfahren deshalb auszusetzen, weil anderweitig eine solche Verfassungsbeschwerde anhängig sei. Vielmehr stehe die Entscheidung über die Aussetzung des Bußgeldverfahrens im Ermessen des Gerichts, dessen Sachentscheidungskompetenz durch die Anhängigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht berührt werde. Das AG habe sich bei seiner rechtsfehlerfreien Ermessensentscheidung die Rechtsprechung nahezu sämtlicher Bußgeldsenate der OLG zu eigen gemacht, wonach die Verwertbarkeit des Messergebnisses nicht von der nachträglichen Überprüfbarkeit anhand gespeicherter Messdaten abhängt (vgl. zu einem Aussetzungsantrag OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.9.2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 397/22). Im Bereich der Fachgerichte sei die Fragestellung als geklärt anzusehen Das AG habe ferner zutreffend darauf hingewiesen, dass eine funktionsfähige Verkehrsüberwachung empfindlich gestört würde, wenn Bußgeldverfahren, denen Geschwindigkeitsmessungen mit nicht speichernden Messgeräten zugrunde liegen, massenhaft ausgesetzt werden würden. Die Verfassungsbeschwerde sei seit mehr als zwei Jähren anhängig. Eine Aussetzung entsprechend § 262 Abs. 2 StPO führe nicht zum Ruhen der Verfolgungsverjährung (vgl. BeckOK/OWiG/Gertler, 36. Edition 2022, § 32 Rn 23; KK-OWiG/Ellbogen, a.a.O., § 32 Rn 7, 15). Gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 StVG trete im gerichtlichen Bußgeldverfahren vor Erlass des Urteils (§ 32 Abs. 2 OWiG) bereits nach sechs Monaten Verfolgungsverjährung ein. Im Falle erstinstanzlicher Aussetzung zwecks Abwarten der Entscheidung des BVerfG in dem Verfahren 2 BvR 1167/20 wären inzwischen zahlreiche Bußgeldverfahren in die Verfolgungsverjährung gelaufen. Eine Aussetzung in entsprechender Anwendung des § 262 Abs. 2 StPO liegt in Massenverfahren mit kurzer Verfolgungsverjährung fern und erscheine hier ohne gesetzliche Ruhensregelung ungeeignet. Vor diesem Hintergrund sei grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn der Tatrichter seine Entscheidungskompetenz wahrnehme und in Ausübung seines Ermessens von der Aussetzung des Verfahrens absehe. Dies gilt umso mehr, als das Beschleunigungsgebot auch im Bußgeldverfahren zu beachten sei.

III. Bedeutung für die Praxis

Verfahrensrüge

1. Die Ausführungen des OLG zur Verfahrensrüge sind zutreffend und konsequent. Denn wenn das Gericht in den Fällen falscher Adressierung nicht dazu verpflichtet sein soll, bei der Weiterleitung an das zuständige Gericht Eilmaßnahmen zu treffen, dann ist es nur „gerecht“, das auch nicht vom Verteidiger zu verlangen, wenn an ihn „falsch adressiert“ worden ist.

Rekonstruierbarkeit

2. Die Ausführungen des OLG zur Frage der Rekonstruierbarkeit entsprechen der h.M. in der Rechtsprechung der OLG. Ob sie zutreffend sind, soll hier dahingestellt bleiben.

Aussetzungsantrag

3. Die Ausführungen des OLG zur Aussetzungsfrage sind erkennbar vom Ergebnis – drohender Verjährungseintritt – getragen. Sie sind im Übrigen m.E. auch nicht überzeugend. Denn, dass das AG sich eine nach der ausstehenden Entscheidung des BVerfG falsche Auffassung aller OLG zu eigen gemacht hat, rechtfertigt die Ablehnung der Aussetzung, für die auch mal wieder die „funktionsfähige Verkehrsüberwachung“ herhalten muss, nicht. Wenn die Verkehrsüberwachung eben nicht „funktionsfähig“ erfolgt, dann müssen die Verwaltungsbehörden die daraus entstehenden Folgen eben hinnehmen. Es erschließt sich mir auch nicht, warum man einerseits eine entsprechende Anwendung von § 262 Abs. 2 StPO grundsätzlich bejaht, dann aber andererseits, weil es dann doch nicht passt, die Regelung als „ungeeignet“ ansieht.

Weiteres Verfahren

4. Für das weitere Verfahren hat das OLG darauf hingewiesen, dass eine Rücknahme oder Beschränkung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid nicht mehr wirksam erfolgen kann. Das ist zutreffend, denn die Rücknahme des Einspruchs ist grundsätzlich nur bis zur Verkündung des Urteils im ersten Rechtszug zulässig (§ 71 Abs. 1 OWiG, § 411 Abs. 3 Satz 1 StPO). Zwar kann die Rücknahme des Einspruchs auch dann noch rechtswirksam erklärt werden, wenn das Urteil in der Rechtsbeschwerdeinstanz aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen wird. Voraussetzung hierfür ist aber, dass das Urteil in vollem Umfang aufgehoben wird (vgl. BayObLG NZV 1997, 89; OLG Naumburg, Beschl. v. 11.1.2022 – 1 Ws 235/21). Hier hat aber das OLG die tatrichterlichen Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen aufrechterhalten. Daher kommt eine Rücknahme oder Beschränkung des Einspruchs nicht mehr in Betracht (vgl. OLG Zweibrücken NStZ 2010, 459; MüKo-StPO-Eckstein, 1. Aufl. 2019, § 411 Rn 47).

„Bitte prüfbar zitieren…!“

5. Und: Das OLG hat in seiner Entscheidung fast alle zitierten Entscheidungen anderer OLG nur mit „BeckRS“-Fundstellen angeführt. Das macht die Entscheidung zwar (noch) nicht unlesbar, aber: Das alleinige Anführen dieser Fundstellen ohne Entscheidungsdatum und Aktenzeichen macht das Auffinden der angeführten Entscheidung an anderen Stellen zwar nicht unmöglich, aber erschwert es ggf. ungemein. Denn die betreffende Entscheidung die als Beleg angeführt worden ist, kann nur über Umwege, wenn überhaupt, gefunden werden kann. Diese „Unsitte“ muss nicht sein, zumal ja auch bei Beck-Online bei den „BeckRS“ Fundstellen Entscheidungsdatum und Aktenzeichen angeführt werden. Es sollte m.E. einem OLG keine Mühe machen, diese dann auch in einer Entscheidung, die man veröffentlicht, anzuführen, um so ein einfacheres Umgehen mit den Zitaten, vor allem eine Überprüfung der angeführten Entscheidungen darauf, ob sie tatsächlich dieselben Auffassung wie das OLG vertreten, zu ermöglichen. Zudem kann man m.E. auch nicht davon ausgehen, dass – anders als die Justiz – alle anderen Interessierten auch über einen „Beck-Zugang“ verfügen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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