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Haftungsquote bei Kollision von Spurwechsler mit anfahrendem Kfz

 

1. Im Rahmen des § 7 Abs. 5, Abs. 1 StVO ist ein „anderer Verkehrsteilnehmer“ nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs, also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden Verkehr Einfahrende.

2. Je nach den Umständen des Einzelfalls ist aber zu prüfen, ob der Fahrstreifenwechsel durch eine rechtzeitige Reaktion auf das Einfahren des anderen Verkehrsteilnehmers die Kollision hätte vermeiden können und hier gegebenenfalls gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen hat.

3. Gegen den vom Fahrbahnrand Anfahrenden spricht dagegen der Beweis des ersten Anscheins wegen eines Verstoßes gegen § 10 StVO, der zur alleinigen Haftung führen kann.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Urt. v. 8.3.2022VI ZR 1308/20

I. Sachverhalt

Erste Instanz: Haftungsquote 50 %

Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt mit seinem Fahrzeug vom ruhenden in den fließenden Verkehr eingefahren und dabei mit dem Kfz des Unfallgegners zusammengestoßen. Dieser hatte zum Zeitpunkt der Kollision nach den Feststellungen des Berufungsgerichtes ein Fahrstreifenwechsel vom linken auf den rechten Fahrstreifen zu mehr als der Hälfte abgeschlossen und war dann mit dem anfahrenden Kfz des Klägers kollidiert. Der Tatrichter in der I. und II. Instanz hatte jeweils eine Haftungsquote von 50 % wegen beiderseitiger Verstöße gegen die StVO angenommen.

II. Entscheidung

Eingeschränkter Schutzzweck des § 7 Abs. 5 StVO und kein Anscheinsbeweis

Das landgerichtliche Berufungsurteil wurde durch den BGH aufgehoben. Zutreffend habe das LG zwar erkannt, dass gegen den anfahrenden Verkehrsteilnehmer der Beweis des ersten Anscheins wegen eines Verstoßes gegen § 10 StVO sprechen würde, da die Kollision sich im engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dieser Anfahrt vom fließenden in den ruhenden Verkehr ereignet hat. Zulasten des dort fahrenden Verkehrsteilnehmers wäre allerdings kein Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO zu bejahen, da diese Vorschrift nur den gleichgerichteten fließenden Verkehr, nicht jedoch den ruhenden Verkehr schützen würde. Bereits aus dem Wortlaut dieser Vorschrift „einen anderen Verkehrsteilnehmer“ nicht zu gefährden, wird klar, dass dies nur einen Teilnehmer des fließenden Verkehrs erfasst, also nicht einen Fahrzeugführer, der vom Fahrbahnrand in den fließenden Verkehr einfährt. Bereits nach der Entstehungsgeschichte, die ursprünglich auf einen Ausschluss der Gefährdung bei einem Nebeneinanderfahren abgestellt hat, würde sich hinreichend ergeben, dass nur der gleichgerichtete fließende Verkehr erfasst wird. Auch die systematische Stellungnahme des § 7 Abs. 5 StVO und der Sinn und Zweck als Ausnahmevorschrift zum Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO rechtfertigen nach Ansicht des BGH diese Bewertung. Wenn beispielsweise das Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO dem Schutz des fließenden Verkehrs dient, muss dies auch für den gleichgerichteten Verkehr mit einem entsprechenden Fahrstreifenwechsel gelten.

Nur diese Bewertung steht im Einklang mit dem sich aus § 10 StVO ergebenden Vorrang des fließenden Verkehrs, der gerade nicht auf den anfahrenden Verkehrs Rücksicht nehmen muss.

Zu prüfen: Vermeidbarkeit nach § 1 Abs. 2 StVO

Der Fahrzeugführer im fließenden Verkehr dürfe vielmehr grundsätzlich darauf vertrauen, dass sein Vorrangrecht über die gesamte Fahrbahnbreite gewahrt wird. Erst dann, wenn sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergeben, dass diese Vorrangregelung nicht mehr beachtet wird, müsste er auf andere wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer reagieren und versuchen, die Kollision unter Berücksichtigung des Rücksichtnahmegebots des § 1 Abs. 2 StVO zu vermeiden. Ob dies vorliegend der Fall gewesen ist, hätte das Berufungsgericht allerdings nicht mit der gebotenen Sorgfalt geprüft und der BGH hat damit letztendlich die Entscheidung des Tatgerichtes aufgehoben und an die Berufungsinstanz zurückverwiesen, damit dieses Gericht ergänzende Feststellungen zum Unfallhergang treffen kann.

III. Bedeutung für die Praxis

§ 7 Abs. 5 StVO dient nur Schutz des fließenden Verkehrs

Die Entscheidung des BGH überzeugt und steht im Einklang mit der Systematik der Vorschriften der Straßenverkehrsordnung, insbesondere § 2 Abs. 2 StVO, § 7 Abs. 5 StVO und § 10 StVO, mit einem deutlichen Vorrang des fließenden Verkehrs und der bereits vom BGH entwickelten Schutzzweckrechtsprechung im Anwendungsbereich des Rechtsfahrgebots. So dient das Rechtsfahrgebot lediglich dem Schutz entgegenkommender Verkehrsteilnehmer, nicht jedoch wartepflichtige Fahrzeugführer, die den Vorfahrtsverkehr kreuzen oder einbiegen bzw. in den fließenden Verkehr einfahren (BGH, Urt. v. 20.9.2011 – VI ZR 282/10, zfs 2012, 76; OLG München, Urt. v. 2.6.2021 – 10 U 7512 / 20, zfs 2021, 562; OLG Hamm, Urt. v. 23.2.2016 – I 9 U 43 / 15, zfs 2017, 16; OLG Stuttgart, Urt. v. 4.6.2014 – 3 U 15/14, Schaden-Praxis 2014, 40; Bendig/Nugel VRR 2012, 404). Auch § 10 StVO schützt nur den fließenden Verkehr, nicht aber einen anderen wartepflichtigen Fahrzeugführer, der seinerseits aus dem ruhenden in den fließenden Verkehr einfährt (AG Gelsenkirchen, Urt. v. 17.4.2015 – 205 C 123 / 14).

Im Einklang mit der herrschenden Meinung ist mithin davon auszugehen, dass § 7 Abs. 5 StVO lediglich dem Schutz des fließenden Verkehrs dient und der vom Fahrbahnrand Anfahrende dagegen den Vorrang des fließenden Verkehrs über die gesamte Fahrbahnbreite zu beachten hat. § 7 Abs. 5 StVO schützt mithin nicht den vom Fahrbahnrand anfahrenden Verkehrsteilnehmer bzw. denjenigen, der aus dem ruhenden in den fließenden Verkehr einfährt (anschaulich: KG, Urt. v. 11.3.2004 – 12 U 285/02; KG, Beschl. v. 4.1.2006 – 12 U 202/05, NZV 2006, 369; KG, Beschl. v. 29.10.2007 – 12 U 5/07, KGR Berlin 2008, 855; LG Düsseldorf, Urt. v. 9.3.2001 – 20 S 61/00, Schaden-Praxis 2001, 227; vgl. auch OLG München, Urt. v. 7.1.2010 –10 U 2926/10; im Überblick Nugel NJW 2013, 193 ff.).

Aber: Vermeidbarkeit trotzdem zu prüfen

Der Fahrzeugführer im fließenden Verkehr darf daher grundsätzlich darauf vertrauen, dass sein Vorrangrecht entsprechend gewahrt wird. Dies ist allerdings kein „Freifahrtschein“, jegliche Sorgfalt fallen zu lassen – wenn konkrete Anhaltspunkte dafür auftreten, dass andere Verkehrsteilnehmer das Vorrangrecht nicht beachteten, muss auch der Fahrzeugführer im fließenden Verkehr entsprechend reagieren – ansonsten verstößt er gegen § 1 Abs. 2 StVO und ihn trifft eine entsprechende Mithaftung. Ein Fahrzeugführer hat daher z.B. nach dem Rücksichtnahmegebot darauf zu achten, ob vor ihm ein anderer Fahrzeugführer den Fahrstreifen wechselt und ggf. durch eine Reaktion eine Kollision mit dem Fahrstreifenwechsler zu vermeiden. Wird gegen dieses Rücksichtnahmegebot verstoßen, obwohl die Kollision vermeidbar gewesen ist, trifft ihn eine Mithaftung, welche mit mindestens 30 % zu bemessen ist (OLG Hamm, Urt. v. 30.10.2012 – 9 U 5/12, RuS 2013, 147). Hätte der bevorrechtigte Fahrzeugführer im fließenden Verkehr z.B. auch durch eine rechtzeitige Reaktion auf den einfahrenden Pkw die Kollision vermeiden können, trifft ihn aufgrund eines Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO eine Mithaftung zu 25 % (OLG Hamm, Urt. v. 27.3.2015 – I 11 U 44 – 14).

Anfahrende haftet in jedem Fall mit überwiegender Quote

Konsequent hat der BGH die Entscheidung insoweit zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Berufungsgericht zurückverwiesen – bei einem entsprechenden Einwand der Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens zu Lasten des vorfahrtsberechtigten Fahrzeugführers ist diesem Gesichtspunkt mithin im Regelfall in der Praxis auch entsprechend nachzugehen. Die überwiegende Haftungsquote verbleibt selbst bei einem solchen unterstellten Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO allerdings im Regelfall bei dem Fahrzeugführer, der unachtsam vom ruhenden in den fließenden Verkehr eingefahren ist und dabei die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer entgegen § 10 StVO nicht ausgeschlossen hat.

RA und FA für VerkehrsR und VersR Dr. Michael Nugel, Essen

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