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Fahrerassistenzsysteme in der gutachterlichen Praxis

Die Betrachtung und Analyse der Funktionalität von Fahrerassistenzsystemen (FAS, bzw. Advanced Driver Assistance Systems, ADAS) nimmt im Rahmen verschiedener technischer Fragestellungen stetig an Bedeutung zu. Die zugrunde liegenden Umstände variieren dabei von dem Einfluss und der Auswirkung des FAS auf ein Unfallgeschehen bis zu beklagten technischen Mängeln nach einem Fahrzeugerwerb. Der vorliegende Artikel soll einen Einblick in verschiedene Fälle aus der gutachterlichen Praxis sowie die besonderen Begleitumstände vermitteln.

Im laufenden Text wird auf Abbildungen, Tabellen und Videos verwiesen. Diese können unter folgender Adresse online abgerufen werden: https://cloud.ureko.de:5001/sharing/OPPFrSyPI .

1. Theoretische Grundlagen

Vor Skizzierung der Praxisbeispiele sollen einige theoretische Grundlagen zu den verschiedenen Ebenen der Automatisierung sowie der Rolle des Fahrers bei Verwendung von FAS betrachtet werden. Die zur Rede stehenden Fälle betreffen jeweils „jüngere“ Fahrerassistenzsysteme. Dies ist insoweit nachvollziehbar, als dass ein Antiblockiersystem (ABS) beispielsweise korrigierend Einfluss auf ein Vollbremsmanöver nimmt, aber keine Unterstützung der Längsführung im Sinne einer „höheren Automatisierung“ vornimmt. So finden sich die bemängelten Funktionalitäten insbesondere bei Systemen mit höherem Automatisierungsgrad gemäß der Klassifikation nach Vollrath und Krems (2011), vgl. Tabelle 1. Dessen Klassifikation ist aus verkehrspsychologischer Sicht interessant, eine umfangreichere Aufschlüsselung wurde jedoch im Abschlussbericht der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) ausgeführt, vgl. Tabelle 2 nach Gasser et al. (2012). In dieser Nomenklatur zur Klassifikation von Automatisierungsgraden werden sowohl Systemeigenschaften als auch die vom Fahrer zu leistenden Aufgaben betrachtet. Um verschiedene Systeme einer Klasse von Fahrfunktionen zuzuordnen, werden hier die vom System beeinflussten Komponenten der Fahrzeugführung (Unterstützung der Quer- und/oder Längsführung) sowie die Dauer, mit der die Fahraufgabe unterstützt werden kann, verwendet. Ferner werden weitere Aspekte betrachtet, die die bisherigen Beurteilungsdimensionen ergänzen. So wird auch die Bedeutung der Überwachungsaufgabe durch den Fahrer unterstrichen. Die Automatisierungsgrade werden in Bezug auf die Notwendigkeit einer Überwachung durch den Fahrer (dauerhaft, nicht dauerhaft und überhaupt nicht) sowie anhand der notwendigen Übernahmebereitschaft (unmittelbar oder mit zeitlicher Reserve) kategorisiert. Darüber hinaus wird in dieser Klassifikation die Fähigkeit des Systems zur Herstellung eines „risikominimalen Zustandes“ und damit einhergehend die notwendige Identifizierung von Systemgrenzen als Merkmal eingeführt.

Systeme, die das Beschleunigungsverhalten von Fahrzeugen beeinflussen, sind für die Unterstützung verschiedener Situationen konzipiert. Kurzfristig können Fahrer bei der Ausführung von Bremsmanövern unterstützt werden, indem das Bremssystem in potenziell kritischen Situationen auf ein Bremsmanöver vorbereitet und dieses dann verstärkend ausführt. Der Kontext, in dem diese kurzfristigen Bremsmanöver unterstützt werden, hat sich dabei über die Jahre zunehmend erweitert. Das Umfeld wird hierzu in der Regel radar- oder kamerabasiert überwacht. Die gleiche Sensorik und Aktorik verwenden längsführende Assistenzsysteme, die für einen längeren Einsatzzeitraum konzipiert sind. Insbesondere in höheren Geschwindigkeitsbereichen, wie z.B. auf Autobahnen oder Landstraßen helfen Assistenzsysteme bei der Längsführung, indem der Abstand zu vorausfahrenden Fahrzeugen automatisch eingehalten wird (z.B. durch ein „Adaptive Cruise Control-System“, ACC). Diese Abstandsregelautomaten erkennen vorausfahrende Fahrzeuge und passen die Geschwindigkeit des eigenen Fahrzeugs so an, dass ein zuvor gewählter Abstand eingehalten wird. Wird kein vorausfahrendes Fahrzeug detektiert, hält dieses System eine definierte Wunschgeschwindigkeit, wie es von herkömmlichen Geschwindigkeitsregelanlagen bekannt ist.

Die Querführung kann beispielsweise durch Spurhalteassistenten aktiv beeinflusst (z.B. „Heading Control“, HC) oder durch sogenannte Spurverlassenswarner („Lane Keeping Assistance“, LKA) unterstützt werden. Durch die Erkennung der Fahrbahnmarkierungen setzt der Spurhalteassistent die Vorgaben eines Spurführungsalgorithmus durch eine entsprechende Aktorik um. Je nach Parametrisierung des Systems werden dabei Bahnführungskonzepte verwendet, die sich eher an der Spurmitte oder an den äußeren Spurbereichen orientieren. Im Zuge von Einparkvorgängen reichen die Assistenzsysteme von optisch-akustischen Abstandswarnungen bis hin zu einer automatisierten Übernahme ganzer Teilaufgaben des Parkvorgangs.

Alle zum gegenwärtigen Zeitpunkt erhältlichen Systeme beeinflussen entweder die Quer- oder die Längsführung des Fahrzeugs. Obwohl der parallele Einsatz eines quer- und eines längsführenden Systems möglich ist (z.B. die gleichzeitige Verwendung eines ACC- und Spurhaltesystems), werden hier beide Eingriffsdimensionen durch separate technische Instanzen beeinflusst. Die Nutzung automatischer Fahrfunktionen beinhaltet dabei stets überwachende Fahreraufgaben, damit Fahrer im Fall von Ausfällen oder Fehlern angemessen in das Fahrgeschehen eingreifen können.

2. Beispiele aus der Praxis

Die Beteiligung von Fahrerassistenzsystemen stellt sich in der gutachterlichen Praxis insbesondere in Form zweier Ausprägungen dar. Zum einen wird nach dem Erwerb eines Fahrzeugs im Rahmen der Nutzung eine Fehlfunktion vorgetragen. Zum anderen wird argumentiert, dass aufgrund des Vorhandenseins eines Fahrerassistenzsystems ein zur Rede stehender Fahrvorgang nicht hätte durchgeführt werden können.

2.1. Fehlauslösung von Fahrerassistenzsystemen

Zunächst werden zwei Fälle beschrieben, in denen klägerseitig im Rahmen eines Zivilverfahrens aufgrund von Fehlern eines oder mehrerer FAS eine Rückabwicklung des Kaufvertrages bzw. ein Rücktritt von einem Leasingvertrag gefordert wird.

Der erste Fall bezieht sich auf einen Pkw vom Typ Audi Q8 50 TDI Quattro (2018). Der Kläger bemängelt hier unter anderem, dass sich die Notbremsfunktion immer wieder ohne ersichtlichen Grund einschaltet. Analog dazu verhält es sich in einem weiteren Fall bei einem Pkw vom Typ VW Tiguan 2.0 TDI (2019). In beiden Fällen habe das Fahrzeug zumeist bei höheren Geschwindigkeiten plötzlich deutlich, teilweise bis zum Stillstand abgebremst.

Die gegenständlichen Fahrzeuge verfügen über längsführende Assistenzsysteme. Der Audi ist diesbezüglich an der Fahrzeugfront mit einem Laserdistanzsensor (LIDAR, im Kühlergrill, Beifahrerseite), einem Radarsensor (ACC, im Kühlergrill, Fahrerseite) und mehreren Kameras ausgestattet, vgl. Abb. 1. Eine Übersicht der äußeren Detektionssensoren von Audi zeigt die Grafik in Abb. 2. Von besonderem Interesse waren im vorliegenden Fall die Funktionen „Adaptive Cruise Control“ sowie „Audi pre sense“, da durch beide Systeme eine Bremsung des Fahrzeugs hervorgerufen werden kann. Ersteres setzt eine vorherige Aktivierung voraus. In dem zweiten Fall wurde ebenfalls beklagt, dass der VW bei aktiviertem ACC nicht nachvollziehbare Bremsungen durchgeführt hat.

Im Rahmen der entsprechenden Gutachtenausarbeitung waren jeweils eine detaillierte Untersuchung des streitgegenständlichen Fahrzeugs sowie umfangreiche Fahrversuche erforderlich. Zunächst wurde der IST-Zustand des Fahrzeugs dokumentiert und das System auf mögliche Fehler untersucht, die in Zusammenhang mit den betreffenden Fahrerassistenzsystemen stehen oder stehen können. Dabei wurden alle zur Verfügung stehenden Tools und Diagnosemöglichkeiten verwendet.

Neben Kenntnis über die vorliegenden Systeme sind auch die Ausführungen des Herstellers zu beachten. Zumeist wird bereits im Bordinformationsdisplay auf die Systemgrenzen der Fahrassistenten hingewiesen, vgl. Abb. 3. Die Verantwortlichkeit und notwendige Aufmerksamkeit im Straßenverkehr verbleibt nach Herstellerangaben dabei beim Fahrer. Aus den technischen Informationen des Herstellers lassen sich jeweils die Funktionsweisen der Fahrerassistenzsysteme nachvollziehen. Bei Betrachtung des Herstellerhandbuches zum Audi werden klare Formulierungen zu den Grenzen der vorliegenden Systeme deutlich, vgl. Abb. 4, Abb. 5 und Abb. 6. So heißt es dort: „Abhängig von der erkannten Gefahrensituation und dem ausgewählten Modus im Audi drive select werden unter Umständen nicht alle Schutzmaßnahmen eingeleitet. Bestimmte Funktionen können ggfs. angepasst oder übersprungen werden.“ (vgl. Abb. 4).

Weiter heißt es in Bezug auf Audi pre sense: „Pre sense front kann die physikalischen vorgegebenen Grenzen nicht überwinden. Es ist ein unterstützendes System und kann eine Kollision nicht unter allen Umständen verhindern. Der Fahrer muss immer selbst eingreifen. Die Verantwortung für rechtzeitiges Bremsen liegt stets beim Fahrer. Das erhöhte Sicherheitsangebot darf nicht dazu verleiten, ein Sicherheitsrisiko einzugehen – Unfallgefahr!“ […] „Bitte beachten Sie, dass pre sense front unerwartet bremsen kann. Sichern Sie deshalb immer Ihre Ladung, um Schäden und ggfs. Verletzungen zu vermeiden.“ (vgl. Abb. 5).

Auch unter den allgemeinen Sicherheitshinweisen wird auf die Grenzen des Systems hingewiesen: „Aufgrund von systeminternen Grenzen bei der Umfelderkennung können die Systeme in bestimmten Situationen unerwünscht oder zu spät warnen und eingreifen .“ (vgl. Abb. 6). Insbesondere die Formulierung des unerwünschten Eingreifens liefert aus Herstellersicht eine grundsätzliche Absicherung, dessen Auswirkungen für entsprechende Verfahren der juristischen Würdigung vorbehalten bleiben.

Aufgrund der laut Vortrag sporadisch auftretenden Fehlfunktionen mussten jeweils sehr umfangreiche Fahrversuche bzw. Versuchsfahrten durchgeführt werden. Die Grenzen des Umfangs dieser Fahrten werden in der Regel nach Absprache mit dem Gericht und unter Berücksichtigung der entstehenden Kosten zuvor abgesteckt. Im Rahmen der Fahrversuche wurde das Fahrzeug in verschiedenen Fahrsituationen auf Autobahnstrecken, im Stadtverkehr unter verschiedenen Witterungseinflüssen, unter anderem auch Starkregen und ähnlichen Situationen gefahren.

In beiden Fällen konnten keine Situationen protokolliert und dokumentiert werden, bei denen es zu einem unerwarteten Bremsmanöver gekommen ist. Insbesondere bei Baustellen oder unvollständiger Beschilderung bzw. Situationen in der Nähe von Brückenpfeilern, Fahrbahnverengungen oder sehr dichtem Verkehr konnte dabei keine einzige Situation dokumentiert werden, bei der das Fahrzeug eine Auslösung des Notbremsassistenten hervorgerufen hat. Ein automatisches Abbremsen des Fahrzeugs gemäß Assistenzsystem der automatischen Geschwindigkeitsregelung funktionierte dabei wie erwartet.

Video 1, Video 2, Video 3 und Video 4 zeigen beispielhaft vier Fahrvorgänge aus dem VW. Im Video 1 bremst der adaptive Tempomat aus einer Geschwindigkeit von etwa 125 km/h auf ca. 100 km/h ab, da ein Fahrzeug von dem Beschleunigungsstreifen auf die rechte Fahrspur vor dem VW die Spur gewechselt hat. In dem in Video 2 gezeigten Versuch lag die Ausgangsgeschwindigkeit bei etwa 168 km/h (Tachoanzeige im Fahrzeug 177 km/h). Durch das abbremsende vorausfahrende Fahrzeug bremst der adaptive Tempomat auf etwa 110 km/h ab. Im Rahmen der Fahrversuche wurden auch deutliche höhere Geschwindigkeiten von knapp 200 km/h erreicht. In dem Versuch aus Video 3 lag die Ausgangsgeschwindigkeit laut Tacho bei knapp 200 km/h. Aufgrund des vorausfahrenden Fahrzeugs bremst der VW auf etwa 140 km/h ab. Auch in dem Versuch nach Video 4 lag die Ausgangsgeschwindigkeit laut Tacho bei knapp 200 km/h. Das Radar erkannte einen vorausfahrenden Pkw und bremste das klägerische Fahrzeug frühzeitig auf etwa 120 km/h ab. Ein grundloses Abbremsen konnte im Rahmen der Fahrversuche nicht festgestellt werden. Dies auch nicht bei konstanter Fahrt bei hohen Geschwindigkeiten. Die Eingriffe des Systems konnten allesamt nachvollzogen werden.

Es ist aus eigener Erfahrung bekannt, dass es Verkehrssituationen gibt, auf welche die auf dem Markt zur Verfügung stehenden Systeme nicht eindeutig reagieren und beispielsweise einen Bremsalarm abgeben. Dies kann möglicherweise im Rahmen einer S-Kurve vorkommen. Eine weitere Situation ist die, wenn ein vorausfahrendes Fahrzeug in Begriff ist abzubiegen, was der Fahrer aufgrund des Fahrtrichtungsanzeigers sowie der Verkehrssituation feststellen kann. Das Antizipieren des beginnenden Anfahrvorganges ist dem radargesteuerten adaptiven Tempomaten nicht möglich, so dass es in solchen Situationen beispielsweise zu einer Bremsung des Systems kommen kann.

Dass es in den beschriebenen Fällen zu Klagen gekommen ist, ist auf Grundlage des klägerischen Vortrags nachvollziehbar. So handelt es sich doch zumeist um hochpreisige Fahrzeuge, bei denen eine gewisse Erwartungshaltung gegenüber den Systemen besteht. Jedoch ist aus juristischer Sicht zu beachten, dass die Hersteller sich über verschiedene Wege durch weit gefasste Formulierungen gegen eventuelle Fehlfunktionen absichern. Auf die vorhandenen Grenzen der Detektion und Umsetzung von Fahrerassistenzsystemen wird sowohl im Bordinformationsdisplay als auch im Handbuch und weiterer Literatur stets hingewiesen. Im Rahmen der Gutachtenausarbeitung stellt sich insbesondere bei sporadisch auftretenden Fehlern die Frage nach dem Umfang der praktischen Untersuchungen. Die Versuchsfahrten bedeuten einen großen Aufwand an Dokumentation, eine große Menge an erzeugten Daten und dementsprechend einen hohen Aufwand.

2.2. Einfluss von Fahrerassistenzsystemen auf mögliche Fahrvorgänge

Neben einem beklagten technischen Mangel des Fahrzeugs durch Fehlauslösungen kommt es auch immer öfter dazu, dass Parteien ihre Argumentation darauf aufbauen, dass gewisse Fahrvorgänge aufgrund vorhandener Fahrerassistenzsysteme nicht so hätten ablaufen können. Auch in diesem Zusammenhang sollen zwei Fälle skizziert werden.

In dem ersten Fall kam es zu einer Heckauffahrkollision nach einem Spurwechsel. Die Abb. 7 zeigt eine Skizze zu dem klägerischen Vortrag. Der Anwalt des Beklagten argumentierte, das Beklagtenfahrzeug (ein Opel Insignia, in der Skizze in rot dargestellt) verfüge über ein „Anti-Kollisionsradar“. Er schreibt dazu: „Dass allerdings das Radar nicht angesprungen ist, zeigt, dass die klägerische Unfallversion nicht zutreffend sein kann.“ Gemäß Angaben des Anwalts war der adaptive Geschwindigkeitsregler (ACC) des Opels zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens eingeschaltet.

Nach Herstellerangaben kann bis zu einer Reichweite von ca. 150 m mit einer Funktionalität des ACC (Radar) gerechnet werden. Darüber hinaus wird beschrieben, dass es in gewissen Fahrsituationen, wie beispielsweise in Kurvenfahrt oder auch in Spurwechseln, zu Problemen kommen kann. Um zu erarbeiten, ob – im Falle einer ordnungsgemäßen Aktivierung des Systems – das ACC den Unfall hätte vermeiden können, ergaben sich für den Fall konkrete Fragestellungen. Insbesondere interessant waren die Fragen, wann sich das Ziel im Detektionsbereich befindet, bzw. wie breit die „Sensorkeule“ ist und wie viel Zeit das System für den Eingriff benötigt. Damit ein Ziel detektiert werden kann, muss es sich in der Sende- und der Empfangskeule des Sensors befinden. Die Breite dieser Keulen ist durch ihre Apertur gegeben. ACC-Systeme besitzen eine schmale Keule, vgl. Abb. 8.

Um die Fragestellungen beantworten zu können wurde eine Versuchsreihe durchgeführt. Zwei beispielhafte Lichtbilder der Versuchsdurchführung sind auf der Abb. 9 zu sehen. Analog zu dem vorliegenden Fall hat der Opel dabei zunächst von links kommend die Spur nach rechts hinter einen vorausfahrenden Pkw gewechselt. Die Rahmenparameter wurden dabei zwischen den Versuchen variiert.

Bei frühzeitigem Spurwechsel hatte das System ausreichend Zeit zu regeln und das Fahrzeug abzubremsen. Aber auch bei Kollisionsvermeidung wurde der Sicherheitsabstand dabei zeitweise deutlich unterschritten. Die Abb. 10 zeigt die Ergebnisübersicht eines der Versuche. Das ACC griff ca. 1,6 s nach Beginn des Spurwechsels und ca. 1 s nach Richtungsänderung des Fahrzeugs ein. Neben einer akustischen und visuellen Auffahrwarnung wurde der Opel mit einer mittleren Verzögerung von 3 m/s2 abgebremst. Die minimale Entfernung zwischen den Fahrzeugen lag bei ca. 2 m. In den Versuchen konnten auch definitive Grenzen des Systems bei Spurwechselvorgängen aufgezeigt werden. So musste der Versuch nach Abb. 11 kurz vor einer drohenden Kollision abgebrochen werden. In diesem Fall wurde systemseitig weder eine Kollisionswarnung noch eine Bremsung durchgeführt.

Die Zeitspanne zwischen Spurwechselbeginn und der dann möglichen sensorischen Erfassung des vorausfahrenden Pkw war zu gering, so dass ein Eingriff des ACC ausblieb. Für den Fall bedeutete dies, dass auch bei ordnungsgemäß aktivem und funktionstüchtigem ACC des Opels sich das Unfallgeschehen dennoch wie vorgetragen ereignet haben konnte.

In einem weiteren Fallbeispiel ereignete sich eine Spurwechselkollision zwischen einem Pkw vom Typ Audi A6 C7 und einem Lkw. In Bezug auf die Frage, welches der beiden Fahrzeuge die Spur gewechselt habe, argumentierte der Rechtsanwalt des Audi-Fahrers, ein Spurwechsel des Audi sei zwingend auszuschließen, da der Audi über entsprechende Assistenzsysteme, insbesondere einen Spurhalteassistenten verfügt. Würde das Fahrzeug die Spur verlassen, korrigiere das System und lenke das Fahrzeug selbstständig zurück, so dass ein Verlassen der Fahrspur nicht hätte auftreten können. Auch in diesem Fall bietet es sich an, einen Fahrversuch durchzuführen, um das tatsächliche Fahrverhalten des Audi zu untersuchen und veranschaulichen zu können.

Dementsprechend wurde eine Untersuchung mit einem Vergleichsfahrzeug durchgeführt. Wie auch das Fallfahrzeug verfügte das Vergleichsfahrzeug über den zur Rede stehenden Spurhalteassistenten, vom Hersteller „Audi active lane assist“ genannt. Das Fahrzeug unterscheidet zwischen verschiedenen Aktivitätsmodi des Assistenzsystems, vgl. Abb. 12. Je nachdem, ob von dem Fahrzeug keine, eine oder zwei Fahrspuren erkannt werden, wird im Kombiinstrument ein gelbes, gelbes oder grünes Symbol gezeigt. Im Rahmen der Fahrversuche wurden Spurwechsel in verschiedenen Kombinationen durchgeführt. Für den vorliegenden Fall relevant war insbesondere ein Spurwechsel auf die rechte Fahrspur bei vollständig aktivem Spurhalteassistenten und ohne Betätigung der Fahrtrichtungsanzeiger (Blinker). Dieses Szenario ist auf dem Video 5 zu sehen. Es zeigt sich, dass das Fahrzeug erkennt, dass die Spur gewechselt wird, es jedoch dennoch problemlos möglich ist, die Fahrbahnmarkierung zu überfahren. Es kommt zunächst zu einem Vibrieren des Lenkrades und bei weiterem Überfahren der Markierungen zu einem leichten „Gegenlenken“. Der Kraftaufwand, um den Spurwechsel dennoch durchzuführen, kann subjektiv als gering bezeichnet werden.

Im Sinne des vorliegenden Automatisierungsgrades ist dies auch notwendig, so dass auch nur bei geringem Kraftaufwand die Kontrolle über das Fahrzeug beim Fahrer verbleiben kann.

3. Quellen

Audi AG, Mediacenter, https://www.audi-mediacenter.com/de/audi-technik-lexikon-7180/fahrerassistenzsysteme-7184, abgerufen: 09/2022.

Audi AG, Betriebsanleitung Audi Q8 50 TDI Quattro (2018).

Fölster, F., Rohling, H. (2005). Signal processing structure for automotive radar, TUHH, Hamburg.

Gasser, T., Arzt, C., Ayoubi, M., Bartels, A., Bürkle, L., Eier, J., Flemisch, F., Häcker, D., Hesse, T., Huber, W., Lotz, C., Maurer, M., Ruth-Schumacher, S., Schwarz, J., & Vogt, W. (2012). Rechtsfolgen zunehmender Fahrzeugautomatisierung – Gemeinsamer Schlussbericht der Projektgruppe. In: Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Bergisch-Gladbach.

Vollrath, M., & Krems, J. (2011). Verkehrspsychologie. Ein Lehrbuch für Psychologen, Ingenieure und Informatiker, 1. Stuttgart: Kohlhammer.

Dipl.-Ing. Robert Dietrich, ö.b.u.v. SV für Straßenverkehrsunfälle der IHK Nord Westfalen, Schimmelpfennig + Becke GmbH & Co. KG

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