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Entbindung des Heranwachsenden von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen

1. Ein Heranwachsender ist im Bußgeldverfahren nach denselben Grundsätzen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu entbinden wie ein Erwachsener.

2. Auf den Eindruck des Gerichts von der persönlichen Reife des Heranwachsenden kommt es im Bußgeldverfahren nicht an.

3. Heranwachsende werden im Bußgeldverfahren sanktionsrechtlich wie Erwachsene behandelt.

(Leitsätze des Verfassers)

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 3.2.2022IV-3 RBs 16/22

I. Sachverhalt

Bußgeldverfahren gegen einen Heranwachsenden

In der Hauptverhandlung über den Einspruch des Betroffenen gegen einen Bußgeldbescheid erschien der Betroffene nicht. Der Antrag des Verteidigers, den Betroffenen von der persönlichen Verpflichtung zum Erscheinen zu entbinden, wurde als unbegründet zurückgewiesen. Der Einspruch wurde verworfen. In den Urteilsgründen des Verwerfungsurteils führte das AG aus: „Der Betroffene, der von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen im Termin nicht entbunden wurde, ist in dem heutigen Termin zur Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben. Dem Entbindungsantrag war nicht zu entsprechen, da der Betroffene Heranwachsender ist und das Gericht sich einen persönlichen Eindruck verschaffen möchte. Außerdem liegt eine Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren vor. Das Erscheinungsbild des Betroffenen kann für das Erinnerungsvermögen der Zeugen von Bedeutung sein.“ Dagegen richtete sich die Rechtsbeschwerde, verbunden mit dem Antrag auf Zulassung. Das OLG Düsseldorf hat die Rechtsbeschwerde zur Entscheidung zugelassen und sieht die zulässig erhobene Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs als begründet an.

II. Entscheidung

Kein Ermessen des Gerichts

Das OLG führt aus: Nach § 73 Abs. 2 OWiG entbindet das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, dass er sich innerhalb der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde und außerdem seine Anwesenheit zu Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Die Entscheidung über den Entbindungsantrag stehe hierbei nicht im Ermessen des Gerichts, vielmehr sei es verpflichtet, dem Antrag nachzukommen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 1.2.2017 – IV-3 RBs 21/17 und vom 22.12.2014- IV-2 RBs 165/14). Hier habe der Betroffene über seinen Verteidiger seine Fahrereigenschaft eingeräumt und zugleich erklärt, weitere Angaben werden nicht erfolgen. Bei dieser Sachlage wäre die Anwesenheit des Betroffenen für eine weitere Sachaufklärung nicht erforderlich gewesen. Für die Beantwortung der Frage des Vorliegens der Erforderlichkeit der Anwesenheit des Betroffenen für die weitere Sachaufklärung stehe dem Tatrichter zwar – so das OLG – ein Beurteilungsspielraum zu. Die Entscheidung des Tatrichters sei danach unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur dann zu beanstanden, wenn das Erscheinen nicht zur Aufklärung des Sachverhaltes dient und nicht unerlässlich ist (Göhler/ Seitz/Bauer, OWiG, 18. Aufl. 2021, § 73 Rn 16). Die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von dem Betroffenen sei regelmäßig nicht für die Beurteilung des Sachverhaltes erforderlich, weshalb diese Erwägung auch nicht die Ablehnung eines Entbindungsantrages rechtfertigen könne (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 2.2.2017 – IV-2 RBs 21/17).

Persönlicher Eindruck?

Dem den Entbindungsantrag ablehnenden Beschluss des AG wie auch den Urteilsgründen seien keine rechtlichen Überlegungen des AG zu entnehmen, nach denen es abweichend davon auf den persönlichen Eindruck vom Betroffenen ankommen könnte. Auch der Umstand, dass der Betroffene zur Tatzeit Heranwachsender war, rechtfertige keine andere Beurteilung. Heranwachsende werden im Bußgeldverfahren sanktionsrechtlich wie Erwachsene behandelt (OLG Frankfurt am Main NZV 2012, 307). Das AG hätte daher dem Antrag auf Entbindung nachkommen müssen.

III. Bedeutung für die Praxis

Dogmatisch zutreffend

Die Entscheidung ist dogmatisch zutreffend. Das OLG Düsseldorf bezieht an einem wichtigen Punkt Stellung und bestätigt eine Entscheidung des OLG Frankfurt am Main, die bisher ziemlich einsam in der Kommentierung stand. Bemerkenswert sind aber noch folgende Punkte:

Das OLG bekräftigt noch einmal den Grundsatz, dass es generell für die Beurteilung eines Sachverhaltes nicht auf den persönlichen Eindruck von dem Betroffenen ankommt.

Das OLG geht gar nicht auf die Gründe des AG ein, wonach es bei einer Messung durch Nachfahren das Erinnerungsvermögen des Beamten stärken könnte, wenn der Betroffene anwesend sei. Das ist für das OLG offensichtlich eher fernliegend und nur von theoretischer Natur. Dies ist vor folgendem Hintergrund wichtig: In einer Entscheidung vom 15.12.2018 hat das OLG Düsseldorf die Auffassung vertreten, dass einem Entbindungsantrag bei einer „Handy-OWi“ nicht unbedingt zu folgen sein muss (vgl. OLG Düsseldorf NZV 2018, S. 338 m. Anm. Krenberger). Aber: Wenn die Erwartung, die Zeugen werden sich besser erinnern, allein theoretischer Natur ist, gelten die dort aufgestellten Grundsätze nicht (vgl. BeckOK-OWiG/Hettenbach, 32. Ed. 1.10.2021, § 73 Rn 18 m.w.N.).

RA und FA für StrafR Patrick Lauterbach, Solingen

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