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Keine Beschuldigtenbelehrung vor polizeilicher Befragung des Halters

 

1. Der Halter eines Kraftfahrzeuges ist vor einer polizeilichen Befragung zur Fahrereigenschaft im Rahmen von Unfallfluchtermittlungen grundsätzlich als Beschuldigter zu belehren, soweit seine Fahrereigenschaft nicht aufgrund anderer Erkenntnisse ausgeschlossen ist. In diesen Fällen ist die Durchführung einer sogenannten „informatorischen Befragung“ regelmäßig ermessensfehlerhaft.

2. Erkenntnisse aus einer polizeilichen Befragung des Halters ohne vorherige Beschuldigtenvernehmung sind in diesem Fall unverwertbar.

(Leitsätze des Gerichts)

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 28.6.20225 Qs 40/22

I. Sachverhalt

Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort?

Das AG hat gegen die Angeklagte einen Strafbefehl wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort erlassen. Der Angeklagten wird vorgeworfen, am 22.2.2022 mit ihrem Pkw ausgeparkt zu haben und dabei mit einem auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkenden Pkw kollidiert zu sein. Durch den Unfall sei ein Fremdsachschaden am Pkw des Geschädigten in Höhe von 3.268,69 EUR entstanden. Obwohl sie den Unfall bemerkt und erkannt, bzw. damit gerechnet habe, dass ein nicht völlig unbedeutender Fremdschaden entstanden war, soll die Angeklagte die Unfallstelle, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen, verlassen haben. Durch die Tat soll sie sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen haben.

Beschwerde gegen vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis

Das AG hat der Angeklagten zudem zugleich vorläufig die Fahrerlaubnis und ordnete die Beschlagnahme des Führerscheins an (§ 111a StPO). Dagegen die Beschwerde der Angeklagten, die Erfolg hatte.

II. Entscheidung

Identifizierung der Angeklagten derzeit nicht möglich

Das LG hat nach dem derzeitigem Ermittlungsstand einen endgültigen Entzug der Fahrerlaubnis zwar nicht für ausgeschlossen, gleichwohl aber nicht in hohem Maße für wahrscheinlich gehalten. Eine Identifizierung der Angeklagten als verantwortliche Fahrzeugführerin sei derzeit nämlich nicht mit der erforderlichen Sicherheit gegeben.

Angaben gegenüber Polizeibeamten unverwertbar

Die Angaben der Angeklagten gegenüber dem Polizeibeamten S., die dem Strafbefehlsantrag zugrunde gelegt worden sind, seien – so das LG – unverwertbar. Die polizeilichen Ermittlungen hätten zur Angeklagten als Halterin des Fahrzeugs geführt. Ein Zeuge E. habe die Kollision beobachtet und der Polizei das Kennzeichen des unfallverursachenden Fahrzeugs mitgeteilt. Außerdem habe er angegeben, dass die Fahrzeugführerin eine „ältere Dame, ca. 50-70 Jahre“, gewesen sei. Ausweislich eines Aktenvermerks wurde die Angeklagte anschließend über eine Kennzeichenabfrage als Halterin des flüchtigen Pkws an ihrer Anschrift angetroffen. Im Rahmen eines „informatorischen Gesprächs“ habe sie die Fahrereigenschaft eingeräumt. Auf die erst daraufhin erfolgte Beschuldigtenbelehrung habe sie von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.

Angeklagte war frühzeitig Beschuldigte

Die Angeklagte war nach Auffassung des LG bereits vor der Befragung durch den Polizeibeamten gem. § 136 Abs. 1 StPO als Beschuldigte zu belehren. Beschuldigter in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren sei der Tatverdächtige, gegen den das Verfahren als Beschuldigter betrieben werde. Grundsätzlich sei es dabei der pflichtgemäßen Beurteilung der Strafverfolgungsbehörde überlassen, ob sie gegen jemanden einen solchen Grad des Verdachts auf eine strafbare Handlung für gegeben halte, dass sie ihn als Beschuldigten verfolge. Wenn aber ausreichende Gründe dafür vorliegen, einen einer Straftat Verdächtigen als Beschuldigten zu verfolgen, dürfe dieser nicht aus sachfremden Erwägungen in die Rolle eines Zeugen gedrängt und nur eine „informatorische Befragung“ durchgeführt werden. Bedeutsam sei die Stärke des Tatverdachts, den der Polizeibeamte gegenüber dem Befragten hege. Hierbei habe der Beamte einen Beurteilungsspielraum, den er freilich nicht mit dem Ziel missbrauchen dürfe, den Zeitpunkt der Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO möglichst weit hinauszuschieben (BGH, Beschl. v. 27.2.1992 – 5 StR 190/91).

Ermessensfehler

Hier sei es seitens des Polizeibeamten ermessensfehlerhaft gewesen, die Angeklagte vor der Befragung nicht als Beschuldigte zu behandeln und entsprechend zu belehren. Die mögliche Täterin sei nicht mehr nur in einer nicht näher bestimmten Personengruppe zu suchen gewesen, sondern der Tatverdacht habe sich nach der Ermittlung der Angeklagten als Fahrzeughalterin bereits auf sie verdichtet, auch wenn grundsätzlich auch andere Personen als Nutzer des Fahrzeugs des Angeklagten in Betracht kommen (OLG Nürnberg StRR 2014, 105, LG Duisburg, Beschl. v. 13.7.2018 – 35 Qs 38/18; LG Zwickau, Beschl. v. 10.8.2015 – 1 Qs 147/15; AG Bayreuth, Beschl. v. 17.10.2002 – 3 Cs 5 Js 8510/02). Bei der Ausübung des Ermessens sei auch der gesetzliche Schutzzweck des § 136 Abs. 1 StPO zu berücksichtigen, dass durch die Belehrung gegenüber dem Beschuldigten eindeutig klargestellt werden soll, dass es ihm freistehe, keine Angaben zu machen. Dieses Belehrungsgebot will sicherstellen, dass der Beschuldigte vor der irrtümlichen Annahme einer Aussagepflicht bewahrt wird, zu der er möglicherweise durch die Konfrontation mit dem amtlichen Auskunftsverlangen veranlasst werden könnte (OLG Nürnberg, a.a.O.). Dieser Schutzzweck wird im vorliegenden Fall nur dann gewahrt, wenn der Halter des Kraftfahrzeugs vor seiner Befragung entsprechend belehrt wird. Dies gelte erst recht, wenn eine Personenbeschreibung des Fahrers auf den Halter zutreffe (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 18.11.1993 – 3 Ss 121/93). So liege der Fall hier. Der Zeuge E. habe die Fahrzeugführerin als ältere Dame zwischen 50 und 70 Jahren beschrieben. Die angetroffene Angeklagte als Halterin (zum Tatzeitpunkt 80 Jahre alt) habe offensichtlich zu dieser Personenbeschreibung gepasst. Es habe sich daher dem Polizeibeamten bereits vor der informatorischen Befragung – deren genauer Inhalt und Fragestellungen auch nicht aktenkundig ist – aufdrängen müssen, dass sie nicht nur Halterin, sondern auch Fahrerin zum Unfallzeitpunkt gewesen sein könnte.

Beweisverwertungsverbot

Aus der Verletzung der Belehrungspflicht ergibt sich nach Auffassung des LG ein Beweisverwertungsverbot. Ein Ausnahmefall, in dem die Angaben gleichwohl verwertet werden dürfen, liege nicht vor. Angesichts der Befragung der Angeklagten durch den Polizeibeamten liege auch keine Spontanäußerung vor, bei der eine vorherige Belehrung nicht erforderlich wäre.

III. Bedeutung für die Praxis

Häufiger Fall

1. Eine Sachverhaltskonstellation, die in der Praxis häufig vorkommen dürfte, denn nicht selten verfahren Polizeibeamte nach dem Grundsatz: Erst mal fragen, dann belehren. Dem schiebt das LG mit klaren Worten einen Riegel vor, der auf der ständigen Rechtsprechung zu dieser Frage aufbaut (vgl. neben den o.a. Rechtsprechungsnachweisen auch noch Burhoff in. Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl., 2022, Rn 4731 ff.).

Widerspruch in der Hauptverhandlung

2. Der Verteidiger muss der Verwertung der inkriminierten Angaben seines Mandanten widersprechen, und zwar spätestens in der Hauptverhandlung (vgl. dazu Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl., 2022. Rn 4012 ff.). Es empfiehlt sich allerdings, mit dem Widerspruch nicht bis zur Hauptverhandlung zu warten, sondern ihn bereits frühzeitig zu erheben, um Zwangsmaßnahmen, wie hier die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, zu vermeiden.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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