Beitrag

Selbstbelastungsfreiheit und Auskunftsverweigerungsrecht bei Gefahrguttransporten

Zur Verletzung des Rechts auf Selbstbelastungsfreiheit im Ordnungswidrigkeitenverfahren durch Verkennung der Reichweite des Auskunftsverweigerungsrechts gem. § 9 Abs. 4 GGBefG.

(Leitsatz des Verfassers)

BVerfG, Beschl. v. 25.1.20222 BvR 2462/18

I. Sachverhalt

Auskunft über verantwortliche Person verweigert

Der Beschwerdeführer ist geschäftsführender Inhaber eines Speditionsunternehmens. Die Polizei kontrollierte ein Lastfahrzeug des Unternehmens und stellte dabei fest, dass das Fahrzeug nicht mit Feuerlöschgeräten ausgerüstet war und seit mehr als zwei Jahren keine Nachprüfung eines Kontrollgerätes stattgefunden hatte. Das Unternehmen des Beschwerdeführers wurde „zur Ermittlung des für den Sachverhalt Verantwortlichen“ zur Mitteilung aufgefordert, wer im Sinne des § 9 Abs. 1, Abs. 2 OWiG die für die Einhaltung der gefahrgutrechtlichen Vorschriften im Betrieb verantwortliche und beauftragte Person sei. Es wurde darauf hingewiesen, dass der Unternehmer oder Inhaber des Betriebs gemäß § 9 Abs. 2, Abs. 5 GGBefG zur vollständigen und unverzüglichen Auskunftserteilung verpflichtet sei und die Verletzung dieser Auskunftspflicht gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 GGBefG mit einer Geldbuße geahndet werden könne. Daraufhin teilte Fahrzeugführer N. mit, er sei die für den Verstoß verantwortliche Person. Hierauf erwiderte die Polizei mit einem an das Unternehmen gerichteten Schreiben, der Fahrzeugführer könne rechtlich nicht der verantwortliche Beförderer sein und habe keine Unternehmenspflichten. Da offensichtlich im Betrieb keine verantwortliche beauftragte Person bestellt sei, sei der Beschwerdeführer als eingetragener Geschäftsführer selbst verantwortlich und werde aufgefordert, seine vollständigen Personalien in den beiliegenden Anhörungsbogen einzutragen und diesen unverzüglich zurückzusenden. Der Beschwerdeführer teilte seine Personalien mit. Zudem gab er an, dass im Betrieb eine verantwortlich beauftragte Person bestellt sei. Da er aber weder sich selbst noch einen Familienangehörigen belasten müsse oder wolle, mache er von seinem „Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 9 GGBefG“ Gebrauch. Gegen den Beschwerdeführer wurde wegen vorsätzlich nicht erteilter Auskunft gemäß § 9 Abs. 2 und Abs. 5, § 10 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 GGBefG in Verbindung mit § 9 Abs. 2, § 17 OWiG eine Geldbuße festgesetzt. Auf seinen Einspruch entschied das AG wie im angefochtenen Bescheid. Die Rechtsbeschwerde blieb erfolglos. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde war erfolgreich.

II. Entscheidung

Selbstbelastungsfreiheit und Auskunftspflichten

Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit sei zum einen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG sowie zum anderen im Rechtsstaatsprinzip verankert und werde von dem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren aus Art 2 Abs. 1 i.V.m. Art 20 Abs. 3 GG umfasst. Ein Zwang, durch selbstbelastendes Verhalten zur eigenen strafrechtlichen Verurteilung beitragen zu müssen, wäre mit Art 1 Abs. 1 GG unvereinbar (BVerfGE 156, 63, 115 Rn 190). Das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung umfasse das Recht auf Aussage- und Entschließungsfreiheit im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren. Allerdings schütze das Verbot der Selbstbelastung nicht davor, dass Erkenntnismöglichkeiten, die den Bereich der Aussagefreiheit nicht berühren, genutzt werden und insoweit die Freiheit des Betroffenen eingeschränkt wird (BVerfGE 156, 63, 155 Rn 310). So beträfen gesetzliche Aufzeichnungs- und Vorlagepflichten nicht den Kernbereich der grundgesetzlichen Selbstbelastungsfreiheit, sondern könnten zum Schutz von Gemeinwohlbelangen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.Sowohl die strafprozessuale Aussagefreiheit gem. §§ 136, 163a, 243 Abs. 5 Satz 1 StPO, die gemäß § 46 Abs. 1 OWiG auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren Anwendung findet, als auch das in § 9 Abs. 4 GGBefG normierte Auskunftsverweigerungsrecht dienten der Verwirklichung des rechtstaatlichen Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit. Die Norm des § 9 GGBefG übertrage die allgemeinen prozessualen Grundsätze der Zeugenvernehmung auf das Überwachungsverfahren in Bezug auf den an sich auskunftsverpflichteten Verantwortlichen nach § 9 GGBefG. Die Einschränkung der Auskunftspflicht beziehe sich auf Verfahren wegen möglicher Verstöße bei der Beförderung gefährlicher Güter. Deshalb könne der Auskunftspflichtige eine Antwort verweigern, wenn er sich dadurch der Gefahr eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens nach § 10 Abs. 1 GGBefG aussetzen würde.

Auskunftserteilung und Herausgabepflicht von Unterlagen

Nichts anderes ergebe sich aus der von den Fachgerichten herangezogenen Entscheidung des BVerfG vom 7.9.1988 – 2 BvR 159/84, juris. Zum einen betreffe das damals festgesetzte Bußgeld eine verweigerte Herausgabe von Unterlagen und nicht eine verweigerte Auskunft. Zum anderen bestätige die Entscheidung das nach § 4 Abs. 4 FahrpersStG (entspricht § 9 Abs. 4 GGBefG) bestehende Recht, die Auskunft auf solche Fragen zu verweigern, deren Beantwortung den Betroffenen der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung oder eines Verfahrens nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten aussetzen würde.

Verstoß hier gegeben

Hier verstoße die Verurteilung gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit. Der Beschwerdeführer sei aufgrund der Gefahr einer ordnungswidrigkeitenrechtlichen Verfolgung wegen eines vorherigen gefahrgutrechtlichen Verstoßes nicht zur Auskunft über seine Verantwortlichkeit verpflichtet. Denn das polizeiliche Auskunftsersuchen diene nicht der allgemeinen Überwachung von gefahrgutbefördernden Transportunternehmen und war damit nicht präventiv auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerichtet. Vielmehr habe die Polizei bereits mit dem ersten Anhörungsschreiben ersichtlich repressive Ziele. Überdies stehe dem Beschwerdeführer gem. § 9 Abs. 4 GGBefG ein Auskunftsverweigerungsrecht zu. Das Verfahren gegen den Beschwerdeführer sei von Beginn an repressiv auf die Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit gerichtet gewesen, sodass der Beschwerdeführer nicht verpflichtet sei, sich im laufenden Ordnungswidrigkeitenverfahren durch das Eingeständnis seiner Verantwortlichkeit für die bußgeldbewehrten Verstöße gegen das Gefahrgutbeförderungsgesetz selbst zu bezichtigen. Darüber hinaus sei sein Auskunftsverweigerungsrecht in § 9 Abs. 4 GGBefG gesetzlich verankert. Die Ausübung dieses Rechts dürfe nicht – wie hier geschehen – mit einer Geldbuße sanktioniert werden, weil hiervon eine nötigende Wirkung ausgehe und der Betroffene andernfalls gezwungen wäre, zur Vermeidung einer (weiteren) Geldbuße auf sein Auskunftsverweigerungsrecht zu verzichten.

III. Bedeutung für die Praxis

Offensichtlich

Auf den ersten Blick ein Randgebiet. Jedoch erhellt das BVerfG das grundsätzliche Spannungsfeld von gesetzlichen Auskunfts- und Mitwirkungspflichten einerseits und dem verfassungsrechtlich verbrieften Recht auf Selbstbelastungsfreiheit in Form von Auskunftsverweigerungsrechten andererseits. Gerade im Bereich des Gefahrgutrechts ist die Frage der Verantwortlichkeit durch die verschiedenen Rollen (Absender, Beförderer, Verlader, Verpacker usw.) und die Aufgabenverteilung innerhalb eines einschlägigen Unternehmens schwierig zu klären. Dies sollen die bußgeldbewehrten Auskunftsplichten erleichtern. Schon die der Regelung des § 55 StPO nachempfundene Vorschrift des § 9 Abs. 4 GGBefG hätte auf den ersten Blick deutlich machen können, dass die einschlägige Bußgeldnorm des § 10 Abs. 1 Nr. 3 GGBefG nur Auskünfte erfassen kann, die nicht unter dieses Auskunftsverweigerungsrecht fallen und eben auch die Herausgabe von Unterlagen. Auch fehlt es hier an einem gesetzlichen Zustimmungserfordernis zur Verwertbarkeit von Auskünften im Straf- und Bußgeldverfahren wie bei der Auskunftspflicht des Schuldners nach § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO. Das vom BVerfG gefundene Ergebnis war daher offensichtlich.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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