Zur Haftung eines Automobilherstellers nach § 826 BGB gegenüber dem Käufer in einem sogenannten Dieselfall (hier: Kauf nach Bekanntwerden des sog. Dieselskandals).
Leitsatz des Gerichts
BGH, Urt. v. 21.12.2021 – VI ZR 277/20
I. Sachverhalt
Der Kläger erwarb am 14.10.2015 von einem Autohaus einen gebrauchten Pkw Audi Q3 zum Kaufpreis von 29.000 EUR. Das Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten entwickelten und hergestellten Dieselmotor der Baureihe EA189 ausgestattet. Dieser enthielt eine Steuerungssoftware, die erkannte, ob das Fahrzeug den für die Emissionsprüfung maßgeblichen Fahrzyklus durchlief oder sich im normalen Straßenverkehr befand. Im Prüfzyklus bewirkte die Software eine im Vergleich zum Normalbetrieb erhöhte Abgasrückführungsrate, wodurch die Grenzwerte der Abgasnorm Euro 5 für Stickoxidemissionen eingehalten werden konnten. Mit seiner Klage verlangt der Kläger im Wesentlichen Schadensersatz in Höhe des für das Fahrzeug gezahlten Kaufpreises Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs, Zinsen, Feststellung des Annahmeverzugs und Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten. Das LG hat die Klage abgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers hat das OLG der Klage im Wesentlichen – unter Anrechnung von Nutzungsersatz in Höhe der gefahrenen Kilometer und ohne Deliktszinsen – stattgegeben (OLG Köln, Urt. v. 19.2.2020 – I-5 U 47/19). Zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe gegen die Beklagte einen Schadensersatzanspruch aus §§ 826, 31 BGB, da diese den Kläger – maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit sei grundsätzlich der Zeitpunkt der Tathandlung – durch das Inverkehrbringen des im streitgegenständlichen Fahrzeug verbauten Motors, der mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüstet gewesen sei, vorsätzlich sittenwidrig geschädigt habe. Der Schaden des Klägers liege im Erwerb des Fahrzeugs, den er in Kenntnis der Abschalteinrichtung nicht getätigt hätte. Die Sittenwidrigkeit des Verhaltens der Beklagten sei nicht durch die Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung am 22.9.2015 oder durch die Anfang Oktober 2015 freigeschaltete Webseite zur Ermittlung der individuellen Betroffenheit entfallen. Um das mit der sittenwidrigen Schädigungshandlung verbundene Unwerturteil zu beseitigen, hätte die Beklagte die Öffentlichkeit über die Abschalteinrichtung umfassend informieren und alles ihr Mögliche unternehmen müssen, um eine Schädigung von Käufern zu verhindern. Die Angaben der Beklagten in der Ad-hoc-Mitteilung, wonach sie die „Aufklärung von Unregelmäßigkeiten einer verwendeten Software bei Diesel-Motoren“ vorantreibe, interne Prüfungen ergeben hätten, „dass die betreffende Steuerungssoftware auch in anderen Diesel-Fahrzeugen des Volkswagen Konzerns vorhanden“ sei, und „Fahrzeuge mit Motoren vom Typ EA189“ auffällig seien, mache weder deutlich, um welche Unregelmäßigkeiten es sich handele, noch welche Fahrzeuge konkret betroffen seien oder welche tatsächlichen und rechtlichen Konsequenzen die „Unregelmäßigkeiten“ nach sich zögen. Auch die Pressemitteilung der Beklagten vom 2.10.2015 im Zusammenhang mit der Anfang Oktober 2015 freigeschalteten Webseite der Beklagten und ihrer Tochterunternehmen sei – jedenfalls zu einem so frühen Zeitpunkt wie im streitgegenständlichen Fall – nicht geeignet gewesen, den Schaden zu verhindern. Denn hierzu hätte der Kläger von der Pressemitteilung Kenntnis erlangen müssen.
Mit der vom OLG zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Ziel der vollständigen Klageabweisung weiter. Der Kläger hat seine (unbeschränkt eingelegte) Revision zurückgenommen. Die Revision hatte Erfolg
II. Entscheidung
Der BGH sieht die Revision der Beklagten als begründet an. Dem Kläger stünden keine deliktsrechtlichen Ansprüche gegen die Beklagte zu.
Entgegen der Auffassung des OLG könne der Kläger – so der BGH – den geltend gemachten Schadensersatzanspruch nicht auf § 826 BGB stützen. Wie der BGH bereits mehrfach entschieden habe (vgl. NJW 2020, 2798 = VRR 9/2020, 10; DAR 2021, 85; VRR 5/20221, 8; VersR 2021, 661), sei für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als (nicht) sittenwidrig in einer Gesamtschau dessen Gesamtcharakter zu ermitteln, weshalb ihr das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen ist. Im Falle der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gemäß § 826 BGB werde das gesetzliche Schuldverhältnis erst mit Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten begründet, weil der haftungsbegründende Tatbestand des § 826 BGB die Zufügung eines Schadens zwingend voraussetzt. Deshalb könne im Rahmen des § 826 BGB ein Verhalten, das sich gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als sittenwidrig darstellte, aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten diesem gegenüber als nicht sittenwidrig zu werten sein. Eine solche Verhaltensänderung könne somit bereits der Bewertung seines Gesamtverhaltens als sittenwidrig – gerade in Bezug auf den geltend gemachten, erst später eingetretenen Schaden und gerade im Verhältnis zu dem erst später Geschädigten – entgegenstehen und sei nicht erst im Rahmen der Kausalität abhängig von den Vorstellungen des jeweiligen Geschädigten zu berücksichtigen.
Bei der demnach gebotenen Gesamtbetrachtung sei auf der Grundlage der vom OLG getroffenen Feststellungen das Verhalten der Beklagten gegenüber dem Kläger nicht als sittenwidrig zu beurteilen. Der Senat habe im Urt. v. 30.7. 2020 (VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 = VRR 9/2020, 10) auf Grundlage der im dortigen Verfahren getroffenen Feststellungen u.a. ausgeführt, dass durch die vom OLG festgestellte Verhaltensänderung der Beklagten wesentliche Elemente, die das Unwerturteil ihres bisherigen Verhaltens gegenüber bisherigen Käufern begründeten, derart relativiert wurden, dass der Vorwurf der Sittenwidrigkeit bezogen auf ihr Gesamtverhalten gerade gegenüber späteren Käufern und gerade im Hinblick auf den Schaden, der bei diesen durch den Abschluss eines ungewollten Kaufvertrags nach dem 22.9.2015 entstanden sein könnte, nicht mehr gerechtfertigt ist (vgl. BGH, a.a.O.). Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts habe die Beklagte am 22.9.2015 eine Ad-hoc-Mitteilung veröffentlicht, in der sie bekannt gegeben habe, dass sie die Aufklärung von Unregelmäßigkeiten einer verwendeten Software bei Diesel-Motoren vorantreibe und die betreffende Steuerungssoftware auch in anderen Diesel-Fahrzeugen des Volkswagen-Konzerns vorhanden sei. Auffällig seien Fahrzeuge mit Motoren vom Typ EA189. In einer Pressemitteilung vom 2.10.2015 habe die Beklagte die Freischaltung von Webseiten auch ihrer Tochterunternehmen zur Ermittlung der individuellen Betroffenheit eines Fahrzeugs bekannt gegeben. Bereits die Mitteilung der Beklagten vom 22.9.2015 war objektiv geeignet, das Vertrauen potenzieller Käufer von Gebrauchtwagen mit VW-Dieselmotoren in eine vorschriftsgemäße Abgastechnik zu zerstören, diesbezügliche Arglosigkeit also zu beseitigen. Aufgrund der Verlautbarung und ihrer als sicher vorherzusehenden medialen Verbreitung war typischerweise nicht mehr damit zu rechnen, dass Käufer von gebrauchten VW-Fahrzeugen mit Dieselmotoren die Erfüllung der hier maßgeblichen gesetzlichen Vorgaben noch als selbstverständlich voraussetzen würden. Für die Ausnutzung einer diesbezüglichen Arglosigkeit sei damit kein Raum mehr gewesen; hierauf konnte das geänderte Verhalten der Beklagten nicht mehr gerichtet sein (vgl. BGH DAR 2021, 85 m.w.N.).
Aus dem Umstand, dass der Kläger hier ein Fahrzeug der Marke Audi und nicht der Marke Volkswagen erworben hat, folgt für den BGH nichts Anderes. Aus den Feststellungen des OLG ergebe sich, dass die Beklagte ihre Verhaltensänderung nicht auf ihre Kernmarke Volkswagen beschränkt habe, sondern im Gegenteil bereits in ihrer Ad-hoc-Mitteilung vom 22.9.2015 darauf hingewiesen habe, dass die betreffende Steuerungssoftware auch in anderen Diesel-Fahrzeugen des Volkswagen-Konzerns vorhanden und der Motor vom Typ EA189 auffällig sei. Das mit der Ad-hoc-Mitteilung vom 22.9.2015 geänderte Verhalten der Beklagten sei damit auch hinsichtlich der streitgegenständlichen Konzernmarke nicht mehr darauf angelegt, das Kraftfahrtbundesamt und arglose Erwerber zu täuschen (vgl. BGH DAR 2021, 85; VersR 2021, 732 Rn 15). Dass die Beklagte möglicherweise auch im Hinblick auf die von ihrer Kernmarke Volkswagen abweichenden Marken ihrer Konzerntöchter weitere Schritte zu einer klareren Aufklärung potentieller, mit der Konzernstruktur und dem Markenportfolio der Beklagten nicht vertrauten Fahrzeugkäufer hätte unternehmen können, stehe der Verneinung eines objektiv sittenwidrigen Vorgehens im Verhältnis zum Kläger und im Hinblick auf den von diesem im Oktober 2015 abgeschlossenen Kaufvertrag ebenso wenig entgegen wie der Umstand, dass nicht jeder potentielle Käufer subjektiv verlässlich über die Verwendungsbreite der unzulässigen Abschalteinrichtung in den verschiedenen Marken der Beklagten informiert wurde (BGH DAR 2021, 85; VersR 2021, 732; VRR 5/201, 8). Darauf, ob dem Kläger beim Kauf des Fahrzeugs im Oktober 2015 die Ad-hoc-Mitteilung der Beklagten und die Berichterstattung ab dem 22.9.2015 bekannt waren, kommt es – entgegen der Ansicht des OLG – nicht an.
Der Klageanspruch ergebe sich auch nicht aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 VO 715/2007/EG oder aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 StGB, § 31 BGB (BGH DAR 2021, 85 m.w.N.; BGH, Beschluss v. 15.6.2021 – VI ZR 566/20).
III. Bedeutung für die Praxis
Nichts Neues aus Karlsruhe. Es bleibt dabei: Wer seinen Pkw nach Bekanntwerden des sog. Dieselskandals gekauft hat, hat es schwer vom Verkäufer/Hersteller Schadensersatz zu erlangen. Und dabei es gleichgültig, ob es sich um einen Pkw der Marke Volkswagen oder um eine andere der Konzernmarken gehandelt hat. Das hat der BGH nun mehrfach entschieden.
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg