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Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis: Zeitablauf, Verhältnismäßigkeit, effektive Verteidigung und Verfahrensverzögerung

1. Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis kann im Einzelfall auch sechzehn Monate nach Tatbegehung verhältnismäßig sein.

2. Resultiert die Verfahrensverzögerung aus der Sphäre der Verteidigung bzw. des Angeklagten, ist dies bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer erst später vorgenommenen Maßnahme nach § 111a StPO zu berücksichtigen.

3. Zum Grundsatz „Einfach Abwarten und Bestreiten“ als „effektive Verteidigung“ bei drohendem Fahrerlaubnisentzug.

(Leitsätze des Gerichts)

OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.10.2021 – 1 Ws 153/21

I. Sachverhalt

Der Angeklagte wurde wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort vom AG am 25.3.2021 zu einer Geldstrafe verurteilt. Ferner ordnete das AG im Urteil die Entziehung der Fahrerlaubnis, die Einziehung des Führerscheins und eine Sperrfrist von acht Monaten an. Die Tat soll am 4.6.2020 begangen worden sein, der Schaden etwa 3.000 EUR betragen. Angeklagter und StA haben gegen das Urteil Berufung eingelegt. Mit Beschl. v. 30.8.2021 hat das LG dem Angeklagten die Fahrerlaubnis nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO vorläufig entzogen. Die Beschwerde des Angeklagten bleib erfolglos.

II. Entscheidung

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei auch in Anbetracht des Zeitablaufs gewahrt. Eine Fahrerlaubnis könne mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Tatgeschehen noch (vorläufig) entzogen werden, wenn nach einer sorgfältigen, am Einzelfall orientierten Abwägung das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und der Schutz der Allgemeinheit das Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis überwiegt (StraFo 2011, 353 = VRR 2011, 388 = StRR 2011, 395 [jew. Burhoff]). Der Senat verkenne dabei nicht, dass seit der vorgeworfenen Tat fast sechzehn Monate und seit dem erstinstanzlichen Urteil nunmehr sieben Monate vergangen sind. Doch rechtfertige der bloße bisherige Zeitablauf nicht zwangsläufig die Annahme, der durch die Tatbegehung indizierte Eignungsmangel sei im Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung entfallen (OLG Koblenz NZV 2008, 47; ähnlich KG DAR 2017, 591). Auch das BVerfG habe keine verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO im Einzelfall der Sicherheit des Straßenverkehrs der Vorrang gegenüber dem eingetretenen Zeitablauf und der bei der StA zu beobachtenden Verfahrensverzögerung eingeräumt wird (BVerfG NJW 2005, 1767). Zwar stelle § 111a StPO eine vorläufige Maßnahme zur Sicherheit des Straßenverkehrs dar, weswegen der Zeitablauf nicht unendlich sein könne. Liege die Verantwortung für einen überschaubaren Zeitablauf von sechzehn Monaten jedoch auch in der Sphäre des Angeklagten und der Verteidigung, so könne und müsse dieser Umstand bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer späteren Maßnahme nach § 111a StPO Berücksichtigung finden. Ein etwaiger Vertrauensschutz bezüglich der im bisherigen Verfahren unterbliebenen vorläufigen Entziehung wiege nicht so schwer, als dass die angefochtene Entscheidung ermessensfehlerhaft erscheint (so auch KG a.a.O.). Vielmehr könne ein Angeklagter kein hinreichend schutzwürdiges Vertrauen auf den (vorläufigen) Erhalt der Fahrerlaubnis gründen, wenn er selbst durch sein Prozessverhalten zu einer Verfahrensverzögerung beigetragen hat. Zentral sei dabei eine sorgfältige, am Einzelfall orientierte Abwägung der von § 111a StPO geschützten Rechtsgüter mit dem Grundsatz der effektiven Verteidigung nach Art. 6 Abs. 3 EMRK. Eine zulässige Verteidigung dürfe sich im Ergebnis nicht zum Nachteil des Angeklagten auswirken. Zugleich sei aber ein einfaches „Abwarten und Bestreiten“ nicht immer zielführend.

Im vorliegenden Fall sei das bisherige Prozessgeschehen auffallend schleppend verlaufen. Die Verfahrensverzögerung sei in der Sphäre des Angeklagten und der Verteidigung entstanden. Dabei sei wesentlich, dass nicht die einzelnen Punkte an sich, wohl aber die Gesamtschau der Vorkommnisse zu einer beachtlichen Verfahrensverzögerung geführt haben. Der ursprüngliche Strafbefehl sei an die Meldeadresse zugestellt worden. Er sei bereits rechtskräftig geworden, bis der Angeklagte im Rahmen der Wiedereinsetzung auf einen „Zweitwohnsitz“ in S. aufmerksam gemacht habe. Auch fortan habe keine Zustellung in angemessener und üblicher Zeit erfolgen können, da der Angeklagte fortwährend verschiedene Meldeadressen geltend machte. Bei der Terminierung seien weitere Verfahrensverzögerungen gefolgt: Auf Antrag der Verteidigung sei die erstinstanzlich terminierte Verhandlung auf einen späteren Zeitpunkt verlegt worden. Das Empfangsbekenntnis des Verteidigers zur zweitinstanzlich terminierten Verhandlung sei nicht in den Rücklauf gekommen. Die Berufungshauptverhandlung am 26.7.2021 habe nicht durchgeführt werden können. Der Verteidiger habe insoweit trotz vorheriger Terminsabstimmung vorgetragen, nicht erscheinen zu können. Seine gegen die Terminierung erhobene Beschwerde sei ebenso erfolglos geblieben wie sein Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende Richterin wegen Nichtverlegung des Termins. Das diskrepante Verhalten des Verteidigers habe sich fortgesetzt, indem er dann zum Termin entgegen seines Vortrags, verhindert zu sein, doch erscheinen konnte. Die Durchführung des zweitinstanzlichen Termins sei dann jedoch an dem Fernbleiben des Angeklagten gescheitert. Er habe sich zehn Minuten nach Verhandlungsbeginn einem ihm bis dato völlig unbekannten Arzt vorgestellt. Dem Begehren des Angeklagten, dass er ein Attest für eine Verhandlungsunfähigkeit benötigen würde, sei der Arzt für einen Tag nachgekommen. Hinsichtlich eines neuen von Seiten der Vorsitzenden der Berufungskammer vorgeschlagenen Termins hätten weder der Angeklagte noch der Verteidiger auf die möglichen Verfügbarkeiten eines geeigneten Sachverständigen reagiert, was erneut zu einer Verfahrensverzögerung geführt habe.

Diese einzelnen Verzögerungsaspekte wären für sich genommen jeweils unerheblich, in ihrer Gesamtschau führten sie jedoch zu einem erheblichen Zeitablauf, der aus der Sphäre des Angeklagten und seines Verteidigers resultiert. Der Angeklagte habe daher kein schützenswertes Vertrauen auf den (vorläufigen) Erhalt der Fahrerlaubnis bilden können. Der Grundsatz einer effektiven Verteidigung führe insoweit zu keiner anderen Betrachtungsweise. Im Gegenteil: Berücksichtige man, dass der Angeklagte in der nun vergangenen Zeit sechzehn Monate lang die jederzeitige Entziehung seiner Fahrerlaubnis befürchten musste, jedoch die ursprünglich vorgesehenen acht Monate Sperrzeit zwischenzeitlich bereits zweimal abgelaufen gewesen wäre, sei darüber nachzudenken, ob eine Verfahrensverzögerung durch „Abwarten und Bestreiten“ zielführend ist.

Die Sicherheit des Straßenverkehrs sei beeinträchtigt. In die Abwägungsentscheidung müsse bei Verfahrensverzögerungen auch einfließen, dass nunmehr die Sicherheit des Straßenverkehrs durch den mit der Tatbegehung indizierten Eignungsmangel seit ebenso langer Zeit – hier also seit sechzehn Monaten –beeinträchtigt ist. Zieht sich das Verfahren noch länger hin, werde die aus dem Eignungsmangel resultierende Gefährdungslage für den Straßenverkehr nicht weniger, sondern durch das schiere Fortdauern der Gefährdungslage noch intensiviert. Zwischenzeitlich sei gegen den Angeklagten bereits zweimal wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit ein Fahrverbot von jeweils einem Monat verhängt werden.

III. Bedeutung für die Praxis

Im Konflikt zwischen dem Recht auf effektive Verteidigung und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip einerseits und dem Schutz der Verkehrssicherheit andererseits ist eine Maßnahme nach § 111a StPO 16 Monate nach der Tat und nach doppeltem Ablauf der ursprünglich festgesetzten Sperrfrist kaum denkbar. Das OLG Stuttgart bringt nun erkennbar erstmalig das Prozessverhalten des Angeklagten ins Spiel, was grundsätzlich unter dem Blickwinkel der Verkehrssicherheit keine Bedeutung für die Entscheidung nach § 111a StPO hat. Das ähnelt der Frage, ob vom Betroffenen zu vertretende Verfahrensverzögerungen einem Wegfall des bußgeldrechtlichen Regelfahrverbots wegen Zeitablaufs entgegenstehen (Nachweise bei Deutscher in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtlich OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 1502 ff.). Wenn überhaupt, kann das nur bei einer Gesamtschau aller Umstände in Ausnahmefällen überhaupt angenommen werden. Das hat das OLG Stuttgart hier getan und man kann es ihm angesichts der Häufung von verfahrensverzögernden Umständen seitens des Angeklagten nicht verdenken. Auch das Vorgehen des Verteidigers ist hier kaum als Vorhaltens eines Organs der Rechtspflege zu bezeichnen. Alles zusammen betrachtet sollte hier wohl auf Biegen und Brechen eine endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis verhindert werden. Das macht den Beschluss des OLG in einem Extremfall nachvollziehbar. Darüber hinaus ist er nicht verallgemeinerungsfähig, sondern eine Einzelfallentscheidung.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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