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Rechtsprechungsreport 2022_01: Verkehrsstrafrecht

Verbotenes Kfz-Rennen: Begriff, Beteiligungsformen und Gefahrerfolg

1. Ein Kraftfahrzeugrennen im Sinne des § 315d Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB ist ein Wettbewerb zwischen wenigstens zwei Kraftfahrzeugführern, bei dem es zumindest auch darum geht, mit dem Kraftfahrzeug über eine nicht unerhebliche Wegstrecke eine höhere Geschwindigkeit als der andere oder die anderen teilnehmenden Kraftfahrzeugführer zu erreichen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Teilnehmer zueinander in Bezug auf die Höchstgeschwindigkeit, die höchste Durchschnittsgeschwindigkeit oder die schnellste Beschleunigung in Konkurrenz treten.

2. § 315d Abs. 2 StGB ist ein eigenhändiges Delikt. Ein Teilnehmer an einem nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen im Sinne des § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt den Qualifikationstatbestand des § 315d Abs. 2 StGB in objektiver Hinsicht deshalb nur, wenn er durch sein eigenes Fahrverhalten während der Rennteilnahme eine konkrete Gefahr für eines der genannten Individualrechtsgüter verursacht und zwischen seinem Verursachungsbeitrag und dem Gefährdungserfolg ein innerer Zusammenhang besteht. Nebentäterschaft kann vorliegen, wenn ein und derselbe Gefährdungserfolg von mehreren Rennteilnehmern herbeigeführt wird. Dies setzt voraus, dass sich die Rennteilnehmer in derselben kritischen Rennsituation befinden und zwischen den jeweiligen Mitverursachungsbeiträgen und dem konkreten Gefährdungserfolg ein örtlicher und zeitlicher Zusammenhang besteht.

(Leitsätze des Gerichts)

BGH, Urt. v. 11.11.20214 StR 511/20

I. Sachverhalt

Das LG hat den Angeklagten H. wegen „vorsätzlichen schweren verbotenen Kraftfahrzeugrennens mit Todesfolge“ und den Angeklagten P. wegen „vorsätzlichen schweren verbotenen Kraftfahrzeugrennens“ verurteilt. Die bis dahin einander unbekannten Angeklagten trafen mit ihren hochmotorisierten Kfz auf einer zweispurigen Landstraße aufeinander. Die Angeklagten „entschlossen sich konkludent“ zur Durchführung eines zuvor nicht vereinbarten, spontanen Kraftfahrzeugrennens, in dessen Verlauf es auf einer Strecke von insgesamt drei Kilometern zu wechselseitigen erfolgreichen und versuchten Überholmanövern kam. Dabei kam es ihnen darauf an, ihre Fahrzeuge auf der kurvigen Strecke in ihrem Fahr- und Beschleunigungsverhalten, insbesondere in Kurven und aus Kurven heraus, zu testen und miteinander zu vergleichen. Außerdem zielten sie darauf ab, „gemeinsam“ möglichst hohe Geschwindigkeiten zu erreichen und sich gegenseitig zu überholen. Am Schluss erkannte P. die Absicht seines Kontrahenten, ihn in einem Kurvenbereich trotz möglichen Gegenverkehrs zu überholen und beschleunigte sein Fahrzeug weiter. Als den Angeklagten die Geschädigte M. mit ihrem Pkw entgegenkam, verlor H. die Kontrolle über sein Fahrzeug, schlingerte über die Gegenfahrbahn und prallte mit seinem Fahrzeug gegen den von der Geschädigten M. gesteuerten Pkw. Im Kollisionszeitpunkt betrug die Geschwindigkeit des von H. gesteuerten Pkw zwischen 85 und 95 km/h. Eine Mitfahrerin der M. erlitt hierdurch tödliche Verletzungen und verstarb noch an der Unfallstelle. Die Geschädigte M. und die übrigen drei Insassen erlitten schwere, teils lebensbedrohliche Verletzungen mit anhaltenden Folgeschäden. Die Revision des P. blieb erfolglos.

II. Entscheidung

P habe an einem nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen gem. § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB teilgenommen. Die im Leitsatz 1 genannte Definition lehne sich an die Tatbestandsmerkmale des früheren § 29 Abs. 1 StVO an. Die besondere Gefährlichkeit von Kraftfahrzeugrennen i.S.d. § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB liege darin, dass es zwischen den konkurrierenden Kraftfahrzeugführern zu einem Kräftemessen im Sinne eines Übertreffenwollens gerade in Bezug auf die gefahrene Geschwindigkeit kommt. Eine die Sicherheit des Straßenverkehrs gefährdende Verbindung zwischen Geschwindigkeit und Wettbewerb könne dabei auch gegeben sein, wenn die konkurrierenden Kraftfahrer nacheinander einen bestimmten Streckenabschnitt befahren und es darum geht, wer dafür die kürzeste Zeit benötigt (Zeitfahren) oder wer auf diesem Abschnitt die höchste absolute Geschwindigkeit erreicht. Gleiches gelte, wenn Beschleunigungspotentiale miteinander verglichen werde. Einer vorherigen Absprache bedürfe es nicht.

Teilnehmer an einem nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen im Sinne des § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB könne nur ein Kraftfahrzeugführer sein. Deshalb handelt es sich um ein sog. eigenhändiges Delikt. Der Grundtatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB beschreibe lediglich eine bestimmte Handlungsweise (Teilnahme an einem Kraftfahrzeugrennen als Kraftfahrzeugführer) und stelle keinen Bezug zu einem Gefährdungs- oder Verletzungserfolg her. P. habe als ein an einem nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen teilnehmender Kraftfahrzeugführer (§ 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB) Leib oder Leben eines anderen Menschen und fremde Sachen von bedeutendem Wert objektiv gefährdete (§ 315d Abs. 2 StGB).

Da der Qualifikationstatbestand des § 315d Abs. 2 StGB an den Grundtatbestand des § 315d Abs. 1 StGB anknüpft, mache er sich dessen Charakter als eigenhändiges Delikt zu eigen. Dies habe zur Folge, dass eine eingetretene konkrete Gefährdung von Rechtsgütern einem Rennteilnehmer nur dann zugerechnet werden kann, wenn sein eigenes Fahrverhalten darin seinen Niederschlag gefunden hat. Die von jeder Rennteilnahme ausgehende abstrakte Gefahr müsse sich in Bezug auf die eingetretene Gefährdung eines geschützten Rechtsguts jedenfalls im Sinne eines mitursächlichen Beitrags zu einer konkreten Gefährdung verdichtet haben. Eine mittäterschaftliche Zurechnung des Rennverhaltens der anderen Rennteilnehmer und sich allein daraus ergebender konkreter Gefahren scheide aus. Die bloße Beteiligung an einem verbotenen Kraftfahrzeugrennen, in dessen Verlauf es zu konkreten Gefährdungen gem. des Abs. 2 kommt, reiche nach diesem Deliktsverständnis zur Verwirklichung des Qualifikationstatbestands reiche ebenfalls nicht aus. Der Umstand, dass die Tathandlung des § 315d Abs. 2 StGB nur eigenhändig begangen werden kann, schließe zwar eine mittäterschaftliche Zurechnung anderer Tatbeiträge aus, steht aber der Annahme einer Mehr- oder Nebentäterschaft in Bezug auf den Gefährdungserfolg nicht entgegen. Denn der Ausschluss einer mittäterschaftlichen Zurechnung von Teilnahmehandlungen anderer Rennteilnehmer im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB bewirke nur, dass die Tathandlung eines jeden Rennteilnehmers für sich genommen unter dem Gesichtspunkt des § 315d Abs. 2 StGB zu würdigen ist. Ergibt sich dabei, dass mehrere Rennteilnehmer in der kritischen Verkehrssituation einen Verursachungsbeitrag zu ein und derselben konkreten Gefährdung von Individualrechtsgütern im Sinne des § 315d Abs. 2 StGB erbracht haben und ist in Bezug auf jeden dieser Verursachungsbeiträge auch der erforderliche innere Zusammenhang gegeben, so habe jeder Rennteilnehmer für sich den objektiven Tatbestand verwirklicht. Denn um eine Verschleifung des Qualifikationstatbestands des § 315d Abs. 2 StGB mit dem die bloße abstrakte Gefährdung einer Rennteilnahme regelnden Grunddelikt des § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB auszuschließen, sei es erforderlich, dass sich die Rennteilnehmer bei Eintritt der Gefährdung in derselben Rennsituation befunden haben und zwischen den jeweiligen Mitverursachungsbeiträgen und dem konkreten Gefährdungserfolg ein örtlicher und zeitlicher Zusammenhang bestanden hat. Dies sei hier bei P. erfüllt. Er habe die dem Unfallgeschehen vorausgehende konkrete Gefährdung von Leib und Leben der Insassen des entgegenkommenden Fahrzeugs der Geschädigten M. durch sein Fahrverhalten während des Überholvorgangs und damit eigenhändig mitverursacht. Zwar hielt der Angeklagte P. seine Fahrspur, sodass sich die Fahrlinie seines Fahrzeugs und die Fahrlinie des Fahrzeugs der Geschädigten nicht kreuzten. Er hat aber als in der Situation zur Überholung anstehender Rennteilnehmer die Ausgestaltung des den Gegenverkehr konkret gefährdenden Überholvorgangs mitbestimmt. Der darüber hinaus erforderliche innere Zusammenhang zwischen der herbeigeführten Gefahr und den mit der Tathandlung nach § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB typischerweise verbundenen Risiken sei ebenfalls gegeben. Ein die Gefährdung unmittelbar verursachendes Fahrverhalten eines Rennteilnehmers lasse den Gefahrverwirklichungszusammenhang zwischen der Rennteilnahme eines anderen Fahrzeugführers und dem Gefährdungserfolg nicht entfallen, wenn das Fahrverhalten des anderen in der konkreten Gefährdungssituation in einem renntypischen Zusammenhang mit der die Gefährdung unmittelbar herbeiführenden Tathandlung steht.

III. Bedeutung für die Praxis

Erneut eine Entscheidung des BGH zu § 315d StGB. Diesmal ging es aber nicht um den schwierigen „Alleinraser“-Tatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB (BGH NJW 2021, 1173 m. Anm. Hoven = NZV 2021, 318 m. Anm. Krenberger = NStZ 2021, 540 m. Anm. Stam = DAR 2021, 269 m. Bespr. Weidig 292 = VRR 4/2021, 13 = StRR 5/2021, 27 [jew. Burhoff]; BGH DAR 2021, 522 m. Anm. Danner) oder die sog. Polizeiflucht (BGH NStZ 2021, 615 = VRR 7/2021, 15 [Burhoff]), sondern um den Begriff des Rennens und vor allem um die Zurechnung des konkreten Gefahrerfolgs in Abs. 2. Das 27 Seite lange und hier daher nur verkürzt wiedergegebene, für BGHSt vorgesehene Urteil des 4. Senats ist überzeugend begründet und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die bloße Rennbeteiligung führt nicht zur Zurechnung eines von einem anderen Teilnehmer unmittelbar bewirkten konkreten Gefahrerfolgs gem. § 315d Abs. 2 StGB. Eine Zurechnung ist aber möglich, wenn das eigene Fahrverhalten in der konkreten Situation eigenhändig die Gefahr mitverursacht hat. Hierfür kommt es im jeweiligen Fall entscheidend auf die Feststellungen zu dieser Situation an.

Am Rande: Es ist erstinstanzlich trotz des schweren Unfalls und der drei km langen Rennstrecke ersichtlich nicht zu einer Einziehung der Tatfahrzeuge gekommen. P. konnte von der Unfallstelle mit seinem offenbar wohl unbeschädigten Kfz flüchten. Angesichts der hochwertigen Fahrzeuge ist das erstaunlich (s. OLG Hamm DAR 2021, 343 m. Anm. Niehaus = zfs 2020, 647 = VRR 12/2020, 12 [Deutscher] = SVR 2021, 88 [abl. Steinert]).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

Verlängerte Wartepflicht vor Berufungsverwerfung?

An den Voraussetzungen für eine Verwerfung der Berufung des säumigen Angeklagten gem. § 329 StPO mangelt es, wenn dieser einem Irrtum über den Terminsbeginn unterlegen ist, dieses dem Gericht noch vor Ablauf der grds. ausreichenden Wartezeit von 15 Minuten ab Aufruf der Sache mitteilt bzw. mitteilen lässt, zugleich sein unverzügliches Erscheinen innerhalb einer angemessenen Zeitspanne ankündigt und eine Verhandlung der Sache trotz der sich daraus ergebenden Verzögerung angesichts der konkreten Terminsgestaltung ohne Schwierigkeiten möglich ist.

(Leitsatz des Gerichts)

OLG Oldenburg, Beschl. v. 15.11.20211 Ws 425/21

I. Sachverhalt

Das AG hat den Angeklagten zu einer (unbedingten) Freiheitsstrafe verurteilt. Auf die Berufung des Angeklagten beraumte das LG Hauptverhandlungstermin auf den 7.9.2021 um 11:30 Uhr an. Der zu diesem Termin ordnungsgemäß geladene Angeklagte erschien – im Gegensatz zu seiner Pflichtverteidigerin – bei Aufruf der Sache nicht. Ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung wurde nach einem Telefonat der Pflichtverteidigerin mit dem Angeklagten um 11:35 Uhr festgestellt, dass der Angeklagte fälschlich von einem Sitzungsbeginn um 13:30 Uhr ausgegangen sei. Daraufhin wurde die Hauptverhandlung um 11:36 Uhr für zwei Minuten unterbrochen und bei erneutem Aufruf um 11:45 Uhr festgestellt, dass der Angeklagte noch immer nicht erschienen sei. Im Anschluss daran verwarf das LG um 11:47 Uhr die Berufung des Angeklagten nach § 329 StPO. In den Urteilsgründen wird dann ausgeführt, dass der Angeklagte am Terminstage ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben und nicht in zulässiger Weise vertreten worden sei. Der Umstand, dass er von einem Beginn um 13:30 Uhr ausgegangen sei, entschuldige ihn nicht.

Der Angeklagte hat Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zugleich – für den Fall der Verwerfung – Revision eingelegt. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass er sich in der Uhrzeit versehen habe. Er habe zudem durch seine Verteidigerin noch in der Hauptverhandlung erklären lassen, dass er sich unverzüglich auf den Weg machen und spätestens in 45 Minuten, also um 12:15 Uhr, bei Gericht eintreffen werde. Selbst unter Annahme einer insgesamt einstündigen Verspätung hätte die Berufungshauptverhandlung spätestens ab 12:30 Uhr durchgeführt werden können, zumal die nächste Sache am Terminstage erst auf 14:00 Uhr angesetzt worden sei. Die Verteidigerin reichte außerdem eine „eidesstattliche Versicherung“ des Angeklagten zum Zwecke der Glaubhaftmachung zur Akte, in welcher der Angeklagte weitergehend ausführt, sich nach dem um 11:30 Uhr erfolgten Telefonat sofort ins Auto gestiegen und losgefahren zu sein. Unterwegs sei ihm gegen 11:50 Uhr in einem weiteren Telefonat seitens der Verteidigerin mitgeteilt worden, dass die Berufung inzwischen verworfen worden sei, woraufhin er wieder umgekehrt und nach Hause gefahren sei.

Das LG hat den Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet verworfen. Der Angeklagte habe sich selbst die Nichtbeachtung der korrekten Uhrzeit am Terminstage zuzuschreiben. Ein Zuwarten sei nicht zumutbar, zumal es ausgeschlossen erscheine, dass der Angeklagte innerhalb vertretbarer Zeiträume die Wegstrecke zwischen seine Wohnung in Ort 1 und dem Terminsort Aurich innerhalb der angegebenen 45 Minuten hätte zurücklegen können. Laut einer Internetrecherche hätte er ohnehin mindestens 51 Minuten zuzüglich der Zeit für eine Parkplatzsuche aufwenden müssen. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag als zulässig angesehen. Dem stehe der Sachvortrag der Verteidigung im Wiedereinsetzungsgesuch nicht entgegen, wonach der Angeklagte dem Gericht durch seine Verteidigerin vor Verwerfung seiner Berufung nicht nur mitgeteilt habe, dass er sich in der Uhrzeit versehen habe, sondern darüber hinaus auch, dass er sich sofort auf den Weg machen und voraussichtlich in 45 Minuten bei Gericht eintreffen werde. Zwar könne eine Wiedereinsetzung nur dann erfolgen, wenn die zur Entschuldigung geeigneten Tatsachen dem Gericht bei seiner Verwerfungsentscheidung nicht bekannt waren mit der Folge, dass – in Abgrenzung zum Vorbringen in der Revision – „neue“ Tatsachen zur Begründung vorgetragen werden müssen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 329 Rn 42 m.w.N.). Ein Angeklagter könne indes im Wiedereinsetzungsverfahren ausnahmsweise auch zu solchen Tatsachen gehört werden, welche das Berufungsgericht hätte würdigen müssen, die es im Berufungsurteil tatsächlich jedoch nicht gewürdigt hat, wobei allein die Urteilsgründe der Verwerfungsentscheidung Aufschluss über die Frage geben, ob sich das Berufungsgericht tatsächlich mit dem Entschuldigungsvorbringen inhaltlich auseinandergesetzt hat (vgl. KG, Beschl. v. 14.2.2019 – 4 Ws 12/19, StRR 7/2019, 11; OLG Hamm NStZ-RR 1997, 368, 369; Beschl. v. 7.5.2007 – 3 Ws 225/07; OLG Köln, Beschl. v. 8.7.2013 – 2 Ws 354/13; OLG München NStZ 1988, 377).

Das sei hier der Fall. Das LG habe sich darauf beschränkt, die Nachlässigkeit des Angeklagten, die fraglos in dem Irrtum über den Beginn der Hauptverhandlung liegt, herauszuarbeiten. Der weitere Vortrag, dass der Angeklagte über seine am Terminsort anwesende Verteidigerin habe mitteilen lassen, dass er sich sofort auf den Weg mache und in etwa 45 Minuten bei Gericht sei, findet in den Urteilsgründen hingegen keine Erwähnung, obwohl dies dem Entschuldigungsvorbringen ein weiteres, „anderes Gepräge“ gebe (vgl. KG, a.a.O.), welches darauf abziele, ein Ausbleiben im Sinne von § 329 Abs. 1 StPO nicht nur zu entschuldigen, sondern im Ergebnis sogar zu vermeiden. Insoweit habe das LG den Gesichtspunkt der – ein längeres Zuwarten gebietenden – Fürsorgepflicht erkennbar übersehen (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 7.5.2007 – 3 Ws 225/07). Dieser Aspekt könne damit als nicht „verbrauchter“ Vortrag im Rahmen des Wiedereinsetzungsverfahrens Berücksichtigung finden (vgl. KG. a.a.O.), ohne dass der Angeklagte darauf beschränkt wäre, sich mit der Revision gegen das Verwerfungsurteil zu wenden (vgl. OLG Köln. a.a.O.).

Der Wiedereinsetzungsantrag hatte auch in der Sache Erfolg. Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung sei ein Ausbleiben des Angeklagten im Sinne des § 329 StPO nicht immer schon dann anzunehmen, wenn er bei Anruf der Sache nicht im Sitzungssaal erscheint. Es bestehe vielmehr für das Gericht innerhalb verständiger Grenzen die Pflicht, eine angemessene Zeit zuzuwarten. So sei schon bei nicht angekündigtem Ausbleiben des Angeklagten ein Zeitraum von etwa 15 Minuten zuzuwarten, bevor mit der Hauptverhandlung begonnen werden kann. In Fällen, in denen sich der Angeklagte zwar verspätet, innerhalb der regelmäßigen Wartezeit sein Kommen jedoch mit der Angabe zusichert, sich unverzüglich auf den Weg zu machen, sei ausnahmsweise eine deutlich über 15 Minuten hinausgehende Wartezeit geboten, deren Länge sich unter gebotener Abwägung nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere der Schwere des zu verhandelnden Delikts und dem damit einhergehenden Interesse des Angeklagten an einer Sachentscheidung sowie den weiteren terminlichen Belangen des Gerichts am selben Verhandlungstag bestimmt. Denn mit einem solchen Verhalten bringe der Angeklagte zum Ausdruck, die anstehende Sachentscheidung über seine Berufung gerade nicht verzögern zu wollen (vgl. u.a. OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.5.2012 – 53 Ss 60/12; OLG Hamm NStZ-RR 1997, 368, 369; OLG Köln, Beschl. v. 5.2.2013 – 1 RVs 12/13; OLG Jena, Beschl. v. 18.9.2012 – 1 Ss 71/12, jew. m.w.N.; siehe auch OLG Oldenburg NJW 2009, 1762, 1763).

Nach diesem Maßstab habe sich hier für das LG eine Wartepflicht ergeben, die bei Verkündung des Verwerfungsurteils 17 Minuten nach Verhandlungsbeginn noch nicht abgelaufen gewesen sei. Denn aufgrund der über seine Verteidigerin erfolgten Zusicherung, sich sofort zum Terminsort begeben zu wollen, sei dem Gericht mehr als deutlich gemacht worden, dass sich der Angeklagte dem Verfahren gerade nicht hat entziehen wollen. Daran könne auch der Umstand, dass dem Angeklagten – wie hier bei einem Versehen hinsichtlich des Terminzeitpunktes – ein Verschulden treffe, nichts ändern, da sein Irrtum über den exakten Beginn der Hauptverhandlung auf einem bloßen Versehen beruhe; jedenfalls seien keine Anhaltspunkte für grobe Fahrlässigkeit oder gar Mutwilligkeit erkennbar (vgl. u.a. KG, Beschl. v. 5.5.1997 – 1 Ss 94/97 – zum Fall des „Verschlafens“; OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.5.2012 – 53 Ss 60/12 – zum Irrtum über den Terminstag OLG Zweibrücken, Beschl. v. 18.1.2007 – 1 Ss 188/06 – zum Irrtum über den Hauptverhandlungsbeginn).

Schließlich könne auch der in der den Wiedereinsetzungsantrag verwerfenden Entscheidung ausgeführte Einwand nicht durchgreifen, wonach – mit Blick auf eine sich aus einer Internetrecherche ergebenden Fahrzeit von mindestens 51 Minuten – ein weiteres Zuwarten dem LG nicht zumutbar gewesen sein soll. Der Umstand, dass die Verhandlung hier wohl erst mit einstündiger Verspätung hätte begonnen werden können, lasse zumindest in der vorliegenden Fallkonstellation die Wartepflicht nämlich nicht entfallen (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 7.3.2008 – 2 Ws 106/08 m.w.N.). Denn angesichts der unwidersprochen gebliebenen Tatsache, dass der nächste Hauptverhandlungstermin erst um 14:00 Uhr angesetzt war, hätte der Hauptverhandlungstermin, zu dem nur zwei Zeugen im viertelstündigen Abstand geladen worden waren, auch bei einem Beginn um 12:30 Uhr noch ordnungsgemäß durchgeführt werden können; ein Zeitmangel war demnach nicht zu besorgen (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 1997, 368, 369; Beschl. v. 7.5.2007 – 3 Ws 225/07). Überdies stehe die Verurteilung zu einer (unbedingten) neunmonatige Freiheitsstrafe im Raum (vgl. KG, Beschl. v. 5.5.1997 – 1 Ss 94/97 – unter Hinweis auf die Höhe einer erstinstanzlich festgesetzten Geldstrafe; OLG München, Beschl. v. 5.7.2007 – 4 St RR 122/07); mit anderen Worten, selbst eine verschuldete Versäumnis um mehr als 45 Minuten stehe zu der schwerwiegenden Folge der Berufungsverwerfung in einem Missverhältnis, welches die Vermutung eines Verzichts auf Durchführung des Verfahrens sowie die Annahme einer Verwirkung durch Säumnis nicht zulasse (so OLG Oldenburg MDR 1985, 430).

III. Bedeutung für die Praxis

1. Die umfassend und schön begründete Entscheidung ist zutreffend (vgl. zur Berufungsverwerfung Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl., 2022, Rn 785 ff, zur Wartezeit Rn 792 ff.). Man fragt sich, warum das LG bei den Vorgaben – 9 Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung – die Berufung unbedingt verwerfen musste, obwohl genügend Zeit zum Warten vorhanden war.

2. Durch die gewährte Wiedereinsetzung wird dann die gegen das Verwerfungsurteil vorsorglich auch eingelegte Revision gegenstandslos (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 342 Rn 2 m.w.N.). Als Verteidiger muss man in diesen Fällen neben dem Wiedereinsetzungsantrag immer auch Revision einlegen, da ggf. „verbrauchte“ Entschuldigungsgründe nur im Rahmen der Verfahrensrüge, der Mandant sei genügend entschuldigt gewesen, von Bedeutung sind. Zu beachten ist, dass die Revisionsbegründungsfrist während des Wiedereinsetzungsverfahrens läuft, die Revision also ggf. begründet werden muss.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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