Beitrag

Bemessung der Rahmengebühr im Bußgeldverfahren

1. Zur Anwendung der zivilrechtlichen „Toleranzrechtsprechung“ des BGH im Bußgeldverfahren.

2. Nach Auffassung des Gerichts ist im Falle durchschnittlicher Verkehrsordnungswidrigkeiten grundsätzlich die sogenannte herabgesetzte Mittelgebühr anzusetzen.

(Leitsätze des Verfassers)

AG Bad Salzungen, Urt. v. 30.9.2021 – 1 C 121/21

I. Sachverhalt

Die Klägerin, eine Rechtsanwältin, hatte die Beklagte in einem straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren vertreten. Sie nimmt ihren Mandanten auf restliche Gebühren in Höhe von 188,79 EUR in Anspruch. Dieser bzw. seine Rechtsschutzversicherung hatte eine Gebührenrechnung der Klägerin nur teilweise ausgeglichen. Die Rechtsanwältin hatte jeweils die Mittelgebühr zugrunde gelegt. Die ist nicht gezahlt worden. Die Gebührenklage hatte keinen Erfolg.

II. Entscheidung

Nach Auffassung des AG war die Klägerin im Rahmen der Gebührenfestsetzung gemäß § 14 RVG nicht zum Ansatz der Mittelgebühren berechtigt war. Der Ansatz der Klägerin sei mithin unbillig und damit unverbindlich; zutreffend habe die Rechtsschutzversicherung der Beklagten lediglich unterhalb der Mittelgebühr liegende Gebühren angesetzt. Zu Recht gehe die Beklagte davon aus, dass bezüglich der Nr. 5100 VV RVG nur 75,00 EUR, hinsichtlich der Nr. 5103 VV RVG nur 125,00 EUR, bezüglich der Nr. 5109 VV RVG 125,00 EUR und hinsichtlich der Nr. 5110 VV RVG 200,00 EUR seitens der Klägerin beansprucht werden können. Der von Klägerin gewählte Gebührenansatz sei unbillig und damit gemäß § 315 BGB unverbindlich gewesen.

Zwar sei der Klägerin zuzugestehen, dass sie sich bei Zugrundelegung der Entscheidung des BGH vom 31.10.2006 (VI ZR 261/05, NJW-RR 2007, 420 = AGS 2007, 28) noch innerhalb des hieraus ergebenden Toleranzrahmens befinde, sodass, im Falle einer Vertretung dieser Auffassung auch durch das erkennende Gericht, der Gebührenansatz nicht gerichtlich überprüfbar wäre. Dies würde im Übrigen auch insofern gelten, wenn das Gericht den Entscheidungen des BGH vom 13.11.2001 (IX ZR 110/10, AGS 2011, 120) bzw. vom 8.5.2012 (VI ZR 273/11, AGS 2012, 220) folgen wolle. Dies sei indes nicht der Fall. Vielmehr schließe sich das erkennende Gericht der Rechtsprechung des VIII. Zivilsenats des BGH an. Dieser habe am 11.7.2012 (VIII ZR 323/11, AGS 2021, 373) entschieden, dass eine Erhöhung der Geschäftsgebühr über die Regelgebühr von 1,3 hinaus nur dann gefordert werden könne, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts umfangreich oder schwierig war, und deshalb nicht unter dem Aspekt der Toleranzrechtsprechung bis zu einer Überschreitung vom 20 % der gerichtlichen Überprüfung entzogen sei. Nach alledem sei zur Überzeugung des erkennenden Gerichts auch der vorliegende Gebührenansatz einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich.

Hier sei aber der (jeweilige) Ansatz einer Mittelgebühr nicht gerechtfertigt. Die (Rahmen)Gebühr sei gemäß § 14 RVG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls vor allem anhand des Umfanges und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers zu ermitteln. Maßgeblich seien insbesondere die rechtlichen Schwierigkeiten und das Ausmaß der erforderlichen Sachaufklärung.

Nach Auffassung des AG ist im Falle durchschnittlicher Verkehrsordnungswidrigkeiten grundsätzlich die sog. herabgesetzte Mittelgebühr anzusetzen. Dies deshalb, weil durchschnittliche Verkehrsordnungswidrigkeiten typischerweise mit einfach Sach- und Rechtsfragen, niedrigen Geldbußen und vergleichsweise wenigen Punkten im Zentralregister einhergehen. Vorliegend sei die Beklagte des Vorwurfs der Missachtung der Vorfahrt mit Unfallverursachung ausgesetzt, die ursprünglich mit einem Bußgeld von 120,00 EUR geahndet worden sei. Es habe ein Punkt im Fahreignungsregister gedroht, jedoch kein Fahrverbot. Es habe sich mithin um eine alltägliche Verkehrsordnungswidrigkeit gehandelt; zudem habe keine individuelle fahrerlaubnisrechtliche Situation vorgelegen. Auch im Übrigen sei eine besondere Bedeutung der Angelegenheit für die Beklagte nicht ersichtlich.

Die Klägerin habe zweimal Akteneinsicht genommen. Nachdem sich die Klägerin in Bezug auf den ersten im Ordnungswidrigkeitsverfahren angesetzten Termin vom 15.6.2020 aufgrund eines Staus verspätet hatte, sei der Beklagten Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt. Am 21.9.2020 sei das Verfahren gegen die Beklagte eingestellt worden. Diese stellten aus Sicht des AG Standardtätigkeiten dar. Der zugrunde liegende Sachverhalt sei wenig kompliziert, rechtliche Schwierigkeiten seien nicht ersichtlich. Vor diesem Hintergrund sei lediglich der Ansatz einer herabgesetzten Mittelgebühr gerechtfertigt gewesen.

III. Bedeutung für die Praxis

Kreativ, aber m.E. falsch, und zwar in doppelter Hinsicht.

1. Die vom AG vertretene Ansicht, die Entscheidung des VIII. Zivilsenats des BGH vom 11.7.2012 (VIII ZR 323/11, AGS 2021, 373) gebe die Möglichkeit, auch im sog. „20-%-Toleranzbereich“ in die gem. § 14 Abs. 1 RVG vorgenommene Gebührenbemessung des Rechtsanwalts einzugreifen, ist falsch und wird – soweit ersichtlich – in Rechtsprechung und Literatur auch nicht vertreten. Das AG übersieht den Zusammenhang, in dem die Entscheidung des BGH ergangen ist. Es ging um die Frage, ob eine Geschäftsgebühr von mehr als 1,3 gefordert werden konnte. Abgesehen davon, dass die Entscheidung zu Nr. 2300 VV RVG und damit zu einer Satzrahmengebühr ergangen ist, übersieht das AG, dass es in dem Urteil des BGH v. 11.7.2012 um das Eingreifen des sog. Schwellenwertes von 1,3 ging, der nur überschritten werden darf, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts „umfangreich oder schwierig“. Für die Bestimmung der Gebühr sind bei der Nr. 2300 VV RVG drei Schritte zu gehen: Ausgangspunkt Mittelgebühr von1,5, Prüfung der Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG, bei nur durchschnittlicher Angelegenheit dann nur Schwellenwert von 1,3 (AnwKomm-RVG/Thiel/Reckin, 9. Aufl. 2021, VV 2300 Rn 10). Die BGH-Entscheidung bezieht sich auf den dritten Schritt und verneint eine Bindung/Geltung der 20-%-Rechtsprechung bzw. Regel für diesen Schritt.

Der entscheidende Unterschied zur Gebührenbestimmung der Rahmengebühren im Bußgeldverfahren und auch Strafverfahren nach Teil 4 und 5 VV RVG ist nun aber, dass dort der dritte Schritt fehlt. Im Straf- und Bußgeldverfahren ist auszugehen von der Mittelgebühr und dann anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls die (angemessene) Gebühr zu bestimmen. Hat der Rechtsanwalt die Gebühr und weicht diese nicht mehr als 20 % von der angemessenen Gebühr ab, ist die bestimmte Gebühr nach h.M. in Rechtsprechung und Literatur verbindlich (Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Teil Arn 1807 ff. mit weiteren Nachweisen). Irgendwelche Schwellenwerte, die die Gebühr(en) ggf. weiter beschränken oder reduzieren könnten, weil die Tätigkeiten des Rechtsanwalts nicht „umfangreich oder schwierig“ waren, gibt es nicht und sind nicht zu beachten. Die mit „Umfang“ und „Schwierigkeit“ zusammenhängenden Fragen haben zudem ja auch schon bei der Bemessung der im Sinn des § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG angemessenen Gebühr eine Rolle gespielt. Würde man jetzt hier – wie das AG Bad Salzungen – das BGH, Urt. v. 11.7.2012 (VIII ZR 323/11, AGS 2021, 373) eingreifen lassen, hätte das zur Folge, dass die 20-%-Regel in Straf- und Bußgeldverfahren immer umgangen werden könnte. Das ist sicherlich der Wunsch mancher Rechtsschutzversicherung und auch des ein oder anderen Kostenbeamten, aber mit der Systematik des RVG und der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur nicht vereinbar. Wie gesagt: Kreativ.

2. Auch die Ausführungen des AG zum Ansatz der Mittelgebühr sind unzutreffend. Eine „herabgesetzten Mittelgebühr“ für durchschnittlich Verkehrsordnungswidrigkeiten gibt es im RVG nicht. Vielmehr ist auch in straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren von der Mittelgebühr auszugehen und dann anhand der Umstände des Einzelfalls ggf. eine Reduzierung oder Erhöhung der Mittelgebühr vorzunehmen und so die insgesamt angemessene Gebühr zu bestimmen. Alles andere ist contra legem, auch wenn das zum Teil von Amts- und Landgerichten anders gesehen wird (vgl. die Nachweise bei Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Vorbem. 5 VV Rn 56 ff.). Man kann das nur immer wiederholen. Legt man diese zutreffende Sichtweise zugrunde, bieten die vom AG mitgeteilten Verfahrensumstände keinen Anlass, die Mittelgebühren zu erhöhen oder zu reduzieren. Es hat sich um ein durchschnittliches (verkehrsrechtliches) Bußgeldverfahren, für das eben die Mittelgebühr vorgesehen ist. Die Einstufung durch das AG ist nicht nachvollziehbar.

3. Leider hat der Streitwert des Verfahrens unter 600,– EUR gelegen, so dass eine Überprüfung der Entscheidung in der Berufung nur im Fall der Zulassung der Berufung möglich ist. Das AG hat aber nicht zugelassen. Daher werden wir leider nicht erfahren, was das LG Meinigen von der kreativen Entscheidung hält.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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