1. Das Tatgericht ist bei der im Rahmen des Vorteilsausgleichs vorzunehmenden Bemessung des Nutzungsvorteils in einem sogenannten Dieselfall grundsätzlich nicht gehalten, zur Ermittlung der zu erwartenden Gesamtlaufleistung des betroffenen Pkws ein Sachverständigengutachten einzuholen; es kann diese vielmehr grundsätzlich selbst ohne sachverständige Hilfe gemäß § 287 ZPO schätzen.
2. Der Vortrag des Klägers, wonach bei seinem vom sog. Dieselskandal betroffenen Fahrzeug von einer Gesamtlaufleistung von 400.000 bis 500.000 Kilometern auszugehen sei, stellt eine tatsächliche Behauptung und nicht lediglich die Äußerung einer Rechtsauffassung dar. Erfolgt diese Behauptung erstmalig im Rahmen des Berufungsverfahrens, stellt dies ein neues Angriffsmittel i.S.d. § 531 Abs. 2 ZPO dar.
(Leitsatz des Verfassers)
BGH, Urt. v. 18.5.2021– VI ZR 720/20
I. Sachverhalt
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung auf Schadenersatz in Anspruch, Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des von ihm erworbenen Pkws. Den von der Beklagten hergestellten Neuwagen VW Tiguan hatte der Kläger im September 2012 erworben. In diesem Fahrzeug ist ein Dieselmotor des Typs EA189 verbaut, in dessen Motorsteuerung seitens der Beklagten eine Software zur Abgassteuerung installiert wurde, die über zwei unterschiedliche Betriebsmodi zur Steuerung der Abgasrückführung verfügt. Der „Modus 1“ ist im Hinblick auf den Stickoxidausstoß optimiert. Er wird auf dem Prüfstand für die Bestimmung der Fahrzeugemissionen nach dem maßgeblichen Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) automatisch aktiviert und bewirkt eine höhere Abgasrückführungsrate, wodurch die gesetzlich geforderten Grenzwerte für Stickoxidemissionen eingehalten werden. Im normalen Fahrbetrieb ist der „Modus 0“ aktiviert, der zu einer geringeren Abgasrückführungsrate und zu einem höheren Stickoxidausstoß führt.
Das LG hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Bei der Bemessung der Gebrauchsvorteile hat es die erstinstanzlich vom Kläger behauptete anzunehmende Gesamtlaufleistung von 300.000 km berücksichtigt. Im Rahmen des Berufungsverfahrens hatte der Kläger sodann vorgetragen, es lasse sich vertreten, dass das Gericht hier auch eine Gesamtfahrleistung von 400.000 km oder 500.000 km hätte ansetzen können. Diese Formulierung wertete das Berufungsgericht jedoch nicht als ausdrückliche Aufgabe der vom Kläger erstinstanzlich zugrunde gelegten Laufleistung von 300.000 km, zumal nicht vorgetragen oder ersichtlich sei, warum abweichender Vortrag gemäß § 531 Abs. 2 ZPO zu berücksichtigen gewesen sei. Es wies die Berufung zurück, weshalb der Kläger mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision seinen ursprünglichen Antrag, soweit ihm nicht stattgegeben worden ist, weiterverfolgt.
II. Entscheidung
Nach Auffassung des BGH seien dem Berufungsgericht aber keine Rechtsfehler unterlaufen. Dieses habe zutreffend den erstmals im Berufungsverfahren erfolgten klägerischen Vortrag zu einer möglichen Gesamtlaufleistung von 400.000 km oder 500.000 km für nicht mehr berücksichtigungsfähig erachtet.
Es sei nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht davon ausgehe, dass der Kläger im Berufungsverfahren weiterhin eine Gesamtlaufleistung von 300.000 km zugrunde legen wollte. Gehe man hingegen davon aus, der Kläger habe zweitinstanzlich die vom erstinstanzlichen Vortrag abweichende Behauptung aufgestellt, Fahrzeuge der vorliegenden Art hätten eine Gesamtlaufleistung von 400.000 bis 500.000 km, so habe das Berufungsgericht diesen neuen Vortrag zu Recht für gemäß § 531 Abs. 2 ZPO nicht mehr berücksichtigungsfähig gehalten, da es sich hierbei um eine neue tatsächliche Behauptung und nicht lediglich um die Äußerung einer Rechtsauffassung handele, worin ein neues Angriffsmittel i.S.d. § 531 Abs. 2 ZPO zu sehen sei.
Der vom Kläger im Revisionsverfahren vorgetragene Grund für die Zulassung solch neuen Vortrags ergebe sich auch nicht daraus, dass bereits das LG die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Gesamtlaufleistung unterlassen hätte. Zwar sei zutreffend, dass der Tatrichter auch ohne entsprechenden Parteiantrag gehalten sein könne, ein Sachverständigengutachten einzuholen, wo seine eigene Sachkunde nicht ausreicht, um schlüssig vorgetragene und wirksam bestrittene beziehungsweise von Amts wegen zu prüfende Tatsachen festzustellen.
Diese Voraussetzungen seien jedoch in erster Instanz nicht erfüllt gewesen, da erstinstanzlich allein streitig gewesen sei, ob die anzunehmende Gesamtlaufleistung – der Behauptung des Klägers entsprechend – 300.000 km betrage oder – der Behauptung der Beklagten entsprechend – nur bei 200.000 bis 250.000 km liege. Eine streitige und damit gegebenenfalls beweisbedürftige Behauptung, die Gesamtlaufleistung von Fahrzeugen des vorliegenden Typs liege bei mehr als 300.000 km, habe es in erster Instanz hingegen nicht gegeben.
Letztlich sei es auch nicht zu beanstanden, dass seitens des Berufungsgerichts kein Sachverständigengutachten eingeholt und im Berufungsurteil nicht dargelegt worden sei, dass die Mitglieder des Berufungssenats über eigene Sachkunde verfügten. Denn es habe schon keinen Anlass gegeben, ein Sachverständigengutachten einzuholen und sich auf dessen Grundlage eine Überzeugung i.S.v. § 286 ZPO zu bilden oder eine Schätzung gemäß § 287 ZPO vorzunehmen, da das Berufungsgericht ohne durchgreifende Rechtsfehler davon ausgegangen sei, dass eine entsprechende, im Berufungsverfahren berücksichtigungsfähige Behauptung des Klägers zu einer höheren Laufleistung überhaupt nicht vorliege.
III. Bedeutung für die Praxis
In den Dieselskandalfällen zum Motor EA189 sind die wohl wesentlichen Punkte bereits durch den BGH geklärt worden. Zu einem interessanten Streitpunkt hat sich die Frage der anzurechnenden Gebrauchsvorteile entwickelt, da sich hierüber der zurückzuerstattende Kaufpreis im erheblichen Umfang reduzieren lässt. Seitens der Beklagten werden dann in den entsprechenden Verfahren auf mehreren Seiten Argumente dafür vorgebracht, warum eine lineare Berechnung keinen interessengerechten Vorteilsausgleich darstelle. Dabei hatte der BGH mit Urteil vom 30.7.2020 – VI ZR 354/19 entschieden, dass die Berechnung
Gebrauchsvorteil = Bruttokaufpreis x gefahrene Strecke (seit Erwerb) g erwartete Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt
revisionsrechtlich nicht zu beanstanden sei.
Die anzusetzende Höhe der zugrunde zu legenden Gesamtlaufleistung obliegt der richterlichen Schätzung nach § 287 ZPO. Hierbei steht dem Richter ein Ermessen zu, wobei in Kauf genommen wird, dass das Ergebnis unter Umständen mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt (BGH, Urt. v. 6.12.2012 – VII ZR 84/10). Hieraus ergeben sich letztlich auch die Bandbreiten bei der zu erwartenden Gesamtlaufleistung in den Dieselskandalfällen, welche im vorliegenden Fall mit 300.000 km bereits überdurchschnittlich sein dürfte.
Der Kläger im hiesigen Verfahren hat offensichtlich zu hoch gepokert, zumal er sich nunmehr die während der Dauer des Revisionsverfahrens zurückgelegten weiteren Kilometer ebenfalls entgegenhalten lassen muss.
Markus Schroeder, RA und FA für VerkehrsR, Velbert