1. § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB ist verfassungswidrig unbestimmt.
2. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG kann sowohl aus einer Verletzung des Normenklarheitsgebots als auch des Grundsatzes der Gewaltenteilung resultieren. Dabei ist der Gesetzgeber in der Pflicht, die Grenzen der Strafbarkeit selbst zu bestimmen und sie nicht den Gerichten zu überlassen. Beide Aspekte des Art. 103 Abs. 2 GG sind vorliegend verletzt.
3. Art. 103 Abs. 2 GG verpflichtet die Gerichte dazu, durch eigene Auslegung zur Normklarheit beizutragen (Präzisierungsgebot). Dabei ist es den Gerichten verboten, Tatbestandsmerkmale von Normen zu verschleifen oder deren Grenzen zu verwischen (Verschleifungs-/Entgrenzungsverbot). Sollte eine Auslegung nicht möglich sein – wie dies vorliegend der Fall ist – mit der einzelne Tatbestandselemente trennscharf abgegrenzt werden können, so verletzt die Norm das Normenklarheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG.
4. Während die Tatbestandsmerkmale „Nicht angepasste Geschwindigkeit“, „grob verkehrswidrig“ und eingeschränkt „rücksichtslos“ noch voneinander abgegrenzt werden können, so ist das Tatbestandsmerkmal „um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“ unter Anwendung anerkannter Auslegungsmethoden nicht bestimmbar.
(Leitsätze des Gerichts)
AG Villingen-Schwenningen,Beschl. v.16.1.2020–6 Ds 66 Js 980/19
I. Sachverhalt
Das AG hat im Zwischenverfahren über die Eröffnung des Hauptverfahrens hinsichtlich folgender Anklage zu entscheiden: Als der Angeklagte bemerkt hatte, dass ihm eine polizeiliche Verkehrskontrolle drohte, beschleunigte er das von ihm genutzte Fahrzeug, um sich der Kontrolle zu entziehen, verfolgt von einem Funkstreifenwagen. Dem Angeschuldigten, der keine Fahrerlaubnis besitzt und unter Drogeneinfluss stand, kam es während der anschließenden Verfolgungsfahrt durchgehend darauf an, unter Berücksichtigung der Verkehrslage und der Motorisierung eines Fahrzeugs möglichst schnell zu fahren, um auf diese Weise die ihn verfolgenden Polizeibeamten abzuhängen. So erreichte er teils innerhalb geschlossener Ortschaften Geschwindigkeiten zwischen 80 und 100 km/h. Er überfuhr insgesamt vier Rotlicht anzeigende Lichtzeichenanlagen. Als erfüllter Straftatbestand wird in der Anklageschrift u.a. § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB genannt. Das AG hat das Verfahren ausgesetzt und die Entscheidung des BVerfG darüber eingeholt, ob diese Vorschrift mit dem GG vereinbar und deshalb gültig ist.
II. Entscheidung
Das AG hält die Strafvorschrift wegen mangelnder Bestimmtheit für verfassungswidrig i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG. Nach eingehender Darstellung des verfassungsrechtlich vorgegebene Prüfungsmaßstabs (Leitsatz 2) kommt das AG zu dem Ergebnis, dass das Tatbestandsmerkmals „um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“ zu unbestimmt sei, um noch einer Auslegung zugänglich zu sein, da eine Verschleifung mit den anderen Tatbestandsmerkmalen drohe (Leitsatz 3). Die gerade im Hinblick auf sog. Polizeifluchtfälle wie hier von Rechtsprechung und Literatur angebotenen Auslegungsmöglichkeiten böten keine hinreichende Abhilfe zur Frage, was mit „höchstmöglicher Geschwindigkeit“ gemeint ist. Auch bei eigener Anwendung der Auslegungsmethoden sieht sich das AG hierzu nicht in der Lage (Leitsatz 4) und hat die Frage daher dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt.
III. Bedeutung für die Praxis
Der Tatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB („Alleinraser“) hat seit seiner Einführung am 13.10.2017 Kritik auf sich gezogen und die Rechtsprechung beschäftigt (LG Berlin NZV 2019, 315 [Winkelmann]; OLG Stuttgart NJW 2019, 2787 m. Anm.Zopfs= VRR 9/2019, 16/StRR 11/2019, 23 [jew.Burhoff]; AG Waldbröl NZV 2019, 317 [Krenberger]). Bereits das KG (StraFo 2019, 342 = VRR 9/2019, 15/StRR 11/2019, 21 [jew.Burhoff] = NZV 2019, 314 [Quarch]) hat mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG gemahnt, es bedürfe einer zurückhaltenden Auslegung der Vorschrift (krit. auchFischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 315d Rn 18;JansenNZV 2019, 285). Dem Gesetzgeber ist keine überzeugende Abgrenzung zur bloß massiven Geschwindigkeitsüberschreitung gelungen, die lediglich eine Ordnungswidrigkeit darstellt. Der umfangreiche und deshalb hier nur stark verkürzt wiedergegeben Vorlagebeschluss des AG ist daher der richtige Schritt, um hinsichtlich dieser problematischen Strafnorm abschließend Klarheit durch das BVerfG zu gewinnen. Das gilt selbst dann, wenn das BVerfG die Norm nicht für zu unbestimmt halten sollte, aber Grundsätze für eine verfassungskonforme Auslegung vorgeben sollte.
Verteidiger sollten in einschlägigen Verfahren den Antrag auf Aussetzung unter Hinweis auf den Vorlagebeschluss stellen. Das ist allerdings kein Selbstläufer, da der Vorlagebeschluss als solcher keine Bindungswirkung für andere Gerichte entfaltet. Diese haben eigenständig über ihre Ansicht zur Bestimmtheit der Norm zu entscheiden in Ansehung der Gefahr, dass im Instanzenweg später eine Aufhebung einer Verurteilung erfolgt. Zu beachten ist auch: Mit einer Entscheidung des BVerfG ist angesichts der dortigen Arbeitsbelastung in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Im Falle der Aussetzung wird sich der Zeitablauf auch bei einer Verurteilung auf die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Bestimmung einer Sperrfrist auswirken (§§ 69 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1a, 69a StGB). Bei einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO ist neben der Aussetzung auch die Aufhebung des entsprechenden Beschlusses und Herausgabe des Führerscheins zu beantragen.
RiAGDr. Axel Deutscher, Bochum