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Vertrauen auf (angemessene) Postlaufzeit

Eine Partei darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass im Bundesgebiet werktags – innerhalb der Briefkastenleerungszeiten – aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte muss ein Rechtsmittelführer deshalb nicht mit Postlaufzeiten rechnen, die die ernsthafte Gefahr der Fristversäumung begründen.

(Leitsatz des Gerichts)

BGH,Beschl. v.17.12.2019–VI ZB 19/19

I. Sachverhalt

Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch. Das AG hat die Klage durch Urt. v. 17.10.2018 abgewiesen, das dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 25.10.2018 zugestellt worden ist. Mit Schriftsatz vom Donnerstag, dem 22.11.2018 hat die Klägerin Berufung gegen das amtsgerichtliche Urteil eingelegt. Dieser Schriftsatz ist beim LG am Dienstag, dem 27.11.2018 eingegangen. Die Klägerin hat daraufhin am 30.11.2018 schriftsätzlich beim LG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die versäumte Berufungsfrist beantragt. Zur Begründung hat sie unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der Auszubildenden ihres Prozessbevollmächtigten vorgebracht, die Berufungsschrift habe die Auszubildende am 22.11.2018 abends – kurz nach 17.00 Uhr – zur Post aufgegeben. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin habe darauf vertrauen dürfen, dass die Berufungsschrift bei normalem Postlauf fristgerecht bei Gericht eingehe. Das LG hat den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Klägerin. Die Rechtsbeschwerde hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Der BGH führt zur Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde aus: Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung erfordere die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts unter anderem dann, wenn durch den angefochtenen Beschluss die Verfahrensgrundrechte einer Partei auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt worden seien. Dies sei anzunehmen, wenn die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten des Prozessbevollmächtigten der Partei versagt wurde, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und die den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. BVerfG NJW-RR 2002, 1004 m.w.N.; BGH NJW 2014, 700 m.w.N.).

Nach Auffassung des BGH hat das LG der Klägerin zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist verwehrt. Das LG habe ausgeführt, eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht deshalb gerechtfertigt, weil sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin darauf habe verlassen dürfen, dass die Berufungsschrift bei normalem Postlauf rechtzeitig bei Gericht eingehen werde. Grundsätzlich dürfe sich der Absender zwar auf die Zuverlässigkeit der Postdienste verlassen. Hier sei die Aufgabe aber zu einem Zeitpunkt erfolgt, der auch bei normalem Postlauf den rechtzeitigen Eingang bei Gericht nicht sichergestellt habe. Vorgetragen sei lediglich, dass der Schriftsatz am 22.11.2018 abends zur Post aufgegeben worden sei, so dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass die Beförderung bereits am selben Abend begonnen habe. Es müsse deshalb zugrunde gelegt werden, dass die tatsächliche Beförderung des Briefes erst am Freitag, dem 23.11.2018 begonnen habe. Die Annahme einer Postlaufzeit von lediglich zwei Werktagen erscheine zu kurz bemessen.

Diese Annahme halte rechtlicher Überprüfung nicht stand. Vielmehr habe der Prozessbevollmächtigte der Klägerin darauf vertrauen dürfen, dass der zur Post gegebene Schriftsatz zur Berufungseinlegung fristwahrend beim LG eingehen werde. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung dürfe eine Partei grundsätzlich darauf vertrauen, dass im Bundesgebiet werktags – innerhalb der Briefkastenleerungszeiten – aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte müsse ein Rechtsmittelführer deshalb nicht mit Postlaufzeiten rechnen, die die ernsthafte Gefahr der Fristversäumung begründen (vgl. BGH NJW-RR 2019, 500 m.w.N.). Nach dem Vortrag der Klägerin, von dessen Glaubhaftmachung das LG ausgegangen sei, sei der Schriftsatz zur Berufungseinlegung am Donnerstag, dem 22.11.2018 abends zur Post aufgegeben worden. Auch wenn man mit dem LG davon ausgehe, dass die Beförderung der Postsendung erst am Freitag, dem 23.11.2018 begonnen habe, habe der Prozessbevollmächtigte der Klägerin nach den dargestellten Grundsätzen davon ausgehen können, dass die Postsendung noch rechtzeitig bis zum Ablauf der Berufungsfrist am Montag, dem 26.11.2018 beim LG eingehen werde. Dass für den Prozessbevollmächtigten der Klägerin konkrete Anhaltspunkte hinsichtlich der Gefahr einer Verzögerung des Postlaufs bestanden hätten, sei weder vom LG festgestellt noch ersichtlich.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Der VI. Zivilsenat des BGH schreibt die Rechtsprechung des VII: Zivilsenats im Beschl. v. 23.1.2019 (VII ZB 43/18, NJW-RR 2019, 500) fort. Und m.E. zu Recht. Denn das LG war zu streng. Unabhängig von der Frage der eintägigen Postlaufzeit, auf die der BGH deutlich hinweist, erschließt sich nämlich nicht, warum nicht ein am Freitagabend noch vor der Briefkastenleerungszeit zur Post gegebener Brief zumindest am Montag beim Empfänger eintrifft.

2. Die Entscheidung ist in einem Zivilverfahren ergangen. Sie gilt aber auch in Straf- und Bußgeldverfahren, und zwar dann, wenn der Mandant ggf. selbst Rechtsmittel eingelegt hat bei der Beurteilung des „eigenen Verschuldens“ (§ 44 StPO) oder, wenn es sich um einen Fall handelt, bei dem dem Beschuldigten/Betroffenen ggf. doch ein Verschulden seines Verteidigers zugerechnet wird (vgl. dazuBurhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl., 2019, Rn 5013 ff.;Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl., 2019, Rn 3772 ff.;Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl., 2018, Rn 4210 ff.).

RADetlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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