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Erste Erfahrungen mit dem Hinterbliebenengeld in der Praxis

Mit der neuen Vorschrift des § 844 Abs. 3 BGB sowie dem gleichlautenden § 10 Abs. 3 StVG hat der Gesetzgeber einen immateriellen Ersatzanspruch für Hinterbliebene geschaffen, wenn eine ihnen besonders nahestehende Person getötet wird. Hierbei besteht die Besonderheit, dass keine eigene Rechtsgutsverletzung beim Anspruchssteller erfolgt sein muss. Zu diesem mittelbaren Ersatzanspruch sind die ersten praxisrelevanten Gerichtsentscheidungen ergangen, welche mit diesem Beitrag dargelegt werden.

I. Zeitpunkt für die Anwendung

Dieses Hinterbliebenengeld gilt gem. Art. 229 § 43 EGBGB nur für Neufälle, die sich nach dem Inkrafttreten der Vorschrift am 22.7.2017 ereignet haben. Erforderlich ist dabei, dass sowohl der Tod als auch die zu ihm führende Verletzungshandlung nach diesem Zeitpunkt eingetreten sind (Nugel/Schumann, VRR 5/2018, S. 4 ff.). Ansprüche vor diesem Stichtag sind dagegen ausgeschlossen (OLG Oldenburg, Urt. v. 2.10.2018 – 5 U 61/18).

II. Anspruchsberechtigung

Anspruchsberechtigt ist, wer zu der getöteten Person zum Zeitpunkt der Verletzungshandlung in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis gestanden hat. Welche Anforderungen an die Annahme eines solchen Näheverhältnis gestellt werden, hat der Gesetzgeber im Einzelnen nicht geregelt und überlasst dies vielmehr Rechtsprechung und Literatur. Zugleich benennt er vier Fälle, bei denen kraft Gesetzes ein solches Näheverhältnis vermutet wird:

  • Ehepartner
  • Partner nach dem Partnerschaftsgesetz
  • Kinder
  • Eltern.

Neben diesen vier Fallgruppen kann auch jede andere Person anspruchsberechtigt sein, wenn sie ein besonders persönliches Näheverhältnis mit einer vergleichbaren Intensität nachweist. Allerdings greift außerhalb der vier Fallgruppen keine Vermutungswirkung ein und der Hinterbliebene muss den Vollbeweis nach dem Maßstab des § 286 ZPO ohne eine solche Erleichterung führen. Zu beachten ist dabei, dass schon der gewählte Begriff eines besonderen persönlichen Näheverhältnisses eine gesteigerte persönliche Beziehung erfordert (Nugel/Schumann, VRR 5/2018, S. 4 ff.).

Über einen solchen Fall hatte das LG Tübingen bzgl. des Bruders des Verstorbenen zu entscheiden. Dieser hatte den Tod bei einem Motorradunfall selbst miterlebt als er mit dem Verstorbenen wie häufiger gemeinsam auf einer Motorradtour unterwegs war. Zu seinem Bruder hatte er im Übrigen regelmäßig zumindest einmal wöchentlich per Telefon Kontakt. Diese Umstände haben dem LG zusammen mit der Verwandtschaft als Bruder ausgereicht, um ein Näheverhältnis als Grundlage für ein Hinterbliebenengeld zu bejahen, seinen Anspruch dann aber bei der Bemessung der Höhe gegenüber den Kindern und der Ehefrau des Verstorbenen geringer anzusetzen, deren Beziehung – und damit ihr Leid – als noch intensiver bewertet worden ist (LG Tübingen, Urt. v. 17.5.2019 – 3 O 108/19 = VRR 3/2020, S. 12 ff.). Ob diese Umstände schon genügen, kann auch kritisch hinterfragt werden – entscheidend ist ja eine vergleichbare Intensität zu den o.g. vier weiteren Fallgruppen, welche frei von Zweifeln nachgewiesen sein muss. Für das LG Limburg hat es daher in einem anderen Verfahren nicht ausgereicht, dass die Schwägerin mit der Getöteten enge familiäre Kontakte unterhielt und mit ihr viel Freizeit verbracht hat (LG Limburg, Urt. v. 22.3.2019 – 2 O 177/18). Allerdings ist bei einem Bruder auch das Zusammenleben in der Kindheit als Wurzel für eine später fortbestehende weitere Bindung zu berücksichtigen. Im Einzelfall kann z.B. auch bei einer Schwiegertochter ein ausreichende Näheverhältnis bestehen (LG München, Urt. v. 17.5.2019 – 12 O 4540/18).

Greift ansonsten bei den oben genannten vier Fällen eine Vermutung ein, ist zu beachten, dass die Schädigerseite diese Vermutung widerlegen kann. Dabei ist auch beachten ist, dass den Anspruchssteller eine sekundäre Darlegungslast zu den Umständen trifft, die allein in seiner Wissenssphäre liegen und er auch zu konkreten Einwendungen der Gegenseite entsprechend konkret erwidern und ggf. substantiiert bestreiten muss (Nugel/Schumann, VRR 5/2018, S. 4 ff.). Im Fall des Todes eines Ehegatten kann insoweit einem Getrenntleben bzw. einem laufenden Scheidungsverfahren eine besondere Bedeutung zukommen. In dem Fall, bei dem die Ehegatten schon seit drei Jahren getrennt gelebt und die Scheidung beantragt haben, hat das LG Traunstein überzeugenderweise ein solches Näheverhältnis abgelehnt (LG Traunstein, Urt. v. 11.2.2020 – 1 O 1047/19).

III. Abgrenzung zur Schockschadenrechtsprechung

Der Gesetzgeber hat zutreffend darauf hingewiesen, dass ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld mit einem Anspruch auf immateriellen Schadensersatz nach der Schockschadenrechtsprechung konkurrieren kann, wenn deren strengere Voraussetzungen ebenfalls erfüllt sind. Er sieht das Hinterbliebenengeld als Minus zu einem Schmerzensgeld nach der Schockschadenrechtsprechung an (Vgl. BT-Drucks. 18/11397, S. 15), so dass dieser Anspruch in einem Schmerzensgeld aufgeht, wenn die weiteren o.g. Voraussetzungen der Schockschadenrechtsprechung erfüllt sind.

Für die Praxis bedeutet dies, dass bei der anwaltlichen Beratung genau geprüft werden muss, ob der Hinterbliebene eine eigene Gesundheitsbeschädigung nach dem Maßstab der Schockschadenrechtsprechung erlitten hat und ihm in diesem Fall weiterreichende Ersatzansprüche zustehen. Bzgl. des Ausgleiches des immateriellen Schadens geht ein Hinterbliebenengeld darin auf, kann aber beispielsweise im Prozess hilfsweise verfolgt werden (Nugel/Schumann, VRR 5/2018, S. 4 ff.).

Auch das LG Tübingen betont in seiner sehr ausführlichen Entscheidung die insoweit gebotene Unterscheidung und hatte in seinem Verfahren ein Schmerzensgeld nach der Schockschadenrechtsprechung mangels einer eigenen Gesundheitsverletzung der Ehefrau des Verstorbenen abgelehnt (LG Tübingen, Urt. v. 17.5.2019 – 3 O 108/19 = VRR 3/2020, Nr. 3 S. 12 ff.). Psychische Beeinträchtigungen können im Rahmen dieser Rechtsprechung nur dann als haftungsbegründende Gesundheitsverletzung angesehen werden, wenn sie erstens pathologisch fassbar sind und zweitens über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind (BGH, Urt. v. 21.5.2019 – VI ZR 299/17 = NJW 2019, 2387). Dies hatte das LG Tübingen selbst bei einer abnormalen Trauerrelation abgelehnt – wodurch aber zugleich auch der Raum für ein Angehörigenschmerzensgeld der Ehefrau als mittelbarer Schadensersatz eröffnet worden ist.

IV. Bemessung der Höhe des Hinterbliebenengeldes

Diese Abgrenzung zu einem Schmerzensgeldanspruch wegen eines Schockschadens ist zugleich eine wichtige Grundlage für die Bemessung der Höhe des Hinterbliebenengelds.

1. Vorgaben des Gesetzgebers

Das Hinterbliebenengeld soll nach der Gesetzesbegründung das seelische Leid des Hinterbliebenen lindern. Der Gesetzgeber hat es über diese allgemeine Vorgabe hinaus unterlassen, konkrete weitere Vorgaben zu schaffen oder gar feste Beträge im Gesetz festzulegen, um eine Einzelfallgerechtigkeit zu ermöglichen und überlässt auch insoweit das Feld der Rechtsprechung und Literatur. Den Materialien zur Gesetzesbegründung (Vgl. BT-Drucks. 18/11397 S. 11) kann allerdings auch entnommen werden, dass der Gesetzgeber sich insoweit an der Rechtsprechung zur Höhe des Schmerzensgeldes bei Schockschäden orientiert hat. Die Höhe des Hinterbliebenengeldes soll allerdings diesem gegenüber zurückstehen, da diese Rechtsprechung ja eine schwerwiegende eigene Rechtsgutsverletzung erfordert (LG Tübingen, Urt. v. 17.5.2019 – 3 O 108/19 = VRR 3/2020, S. 12 ff.; vgl. auchSteenbuckr+s 2017, 449 ;Nugel/Schumann, VRR 5/2018, S. 4 ff.).

Im Gesetzgebungsverfahren wurde dabei augenscheinlich ein Durchschnittswert für die Fälle der Schockschadenrechtsprechung mit 10.000 EUR angeführt. Zuvor war in dem ersten maßgeblichen Entwurf des bayrischen Justizministeriums noch eine Bandbreite von 3.000–5.000 EUR als Höhe des Schmerzensgeldes in diesen Fällen hervorgehoben worden. Auch der Gesamtverband der Versicherungswirtschaft hat darauf hingewiesen, dass üblicherweise eine Abfindung in dieser Höhe erfolgt (GdV, Stellungnahme vom 16.1.2017 zum Referentenentwurf S. 7).

2. Überblick über die Diskussion in der Literatur

In der Literatur werden diese Vorgaben zum Anlass genommen, für eine maßvolle Entschädigung im Rahmen des Hinterbliebenengeldes zu plädieren, die unterhalb der Schockschadenrechtsprechung liegen sollte. Eine Entschädigung soll nach dieser Ansicht im Regelfall die o.g. Bandbreite von 3.000–5.000 EUR nicht überschreiten, wobei im Einzelfall naturgemäß auch ein Betrag darüber angemessen sein kann (Quaisser,DAR 2017, 688;Nugel,zfs 2018, 72).

Nach anderer Ansicht in der Literatur hat der Gesetzgeber die Fälle der Schockschadenrechtsprechung schon gar nicht richtig erfasst und seine Ausführungen würden vielmehr für ein Bedürfnis zur generellen Erhöhung des Schmerzgeldes für die Schockschadenfälle in Abgrenzung zum Hinterbliebenengeld sprechen (Jäger, VersR 2017, 1041). Dies müsste auch für das Hinterbliebenengeld als immateriellen Anspruch gelten und es wären daher Beträge in einer Größenordnung von 10.000 EUR–20.000 EUR als Regelfall zu fordern (Wagner, NJW 2017, 2641). Angesichts der deutlichen Orientierung des Gesetzgebers an der bisher entwickelten Rechtsprechung zum weitergehenden Schockschaden als Obergrenze und den dafür entwickelten Beträgen vermag diese Einschätzung aber weniger zu überzeugen.

3. Erste gerichtliche Entscheidungen

Die ersten ergangenen Entscheidungen der Gerichte bieten eine gute Orientierung, zeigen aber zugleich auch erhebliche Unterschiede auf.

a. Urteile des LG Tübingen

Das LG Tübingen hat in seinem Fall zwischen mehreren Anspruchsstellern unterschieden und dabei eine Orientierungsgrenze von 10.000 EUR gesetzt (LG Tübingen, Urt. v. 17.5.2019 – 3 O 108/19 = VRR 3/2020, S. 12 ff.). Ein darüberhinausgehender Anspruch als Regelfall würde dagegen die Abgrenzung zur Schockschadenrechtsprechung verwischen und nicht mehr dem Gefüge immaterieller Schadensersatzansprüche entsprechen. Mit dieser Vorgabe grenzt sich das LG mithin von der zuletzt zitierten, deutlich zu weit gehenden Auffassung in der Literatur zu einem höheren Betrag für das Hinterbliebenengeld ab.

Darauf aufbauend urteilte die Kammer mit 12.000 EUR den höchsten Anspruch für die Ehefrau des Verstorbenen aus, die sich mit ihm in einer 30-jährigen Ehe mit einer dadurch begründeten besonderen Vertrauensbeziehung befunden hat. Dieser gegenüber wurde das erlittene Leid für die beiden volljährigen Söhne mit 7.500 EUR darunter bemessen, welche nicht so lange mit dem verstorbenen Vater zusammengelebt hatten wie die Ehefrau und auch nicht mehr auf die Fürsorge des Vaters angewiesen waren. Bei dem Bruder wurde dann der Anspruch mit 5.000 EUR noch einmal deutlich geringer angesetzt, da dieser in der Beziehung zu den Kindern des Verstorbenen geringer bewertet wurde. Allerdings war auch zu beachten, dass der Bruder den Tod des Verstorbenen selbst vor Ort miterleben musste.

Beide Beträge sind allerdings noch recht hoch angesetzt, wenn die durchschnittliche Höhe eines Schmerzensgeldanspruchs eines Schockschadens mit 10.000 EUR eingestuft wird und das Hinterbliebenengeld mangels einer unmittelbaren eigenen Verletzung bei einer überzeugenden Abgrenzung darunterliegen müsste.

b. Weitere zivilgerichtliche Urteile

Auf diesem Gedanken aufbauend hat das LG Wiesbaden selbst bei einer 40-jährigen Ehe ein Hinterbliebenengeld mit 10.000 EUR ausreichen lassen: Dem klagenden Ehemann, welcher für einen darüberhinausgehenden Anspruch Prozesskostenhilfe begehrte, wurde diese nicht bewilligt (LG Wiesbaden, Beschl. v. 23.10.2018 – 3 O 219/18). In der Tat dürfte bei einer derart langen Beziehung zu dem Verstorbenen das Leid eines Ehegatten als besonders hoch einzustufen sein – diesem wird aber mit einem Betrag in Höhe von 10.000 EUR als Sonderfall auch schon ausreichend Rechnung getragen, der üblicherweise eine eigene erhebliche Rechtsgutsverletzung im Rahmen der strengen Vorgaben der Schockschadenrechtsprechung voraussetzt.

Konsequent ist insoweit auch die Entscheidung des LG München, welches 5.000 EUR als Hinterbliebenengeld an den erwachsenen Sohn und 3.000 EUR an die Schwiegertochter des Verstorbenen zugesprochen hat und sich damit im Rahmen der üblichen Beträge für ein Hinterbliebenengeld in Abgrenzung zu den höheren Beträgen nach Schockschadenrechtsprechung bewegt (LG München, Urt. v. 17.5.2019 – 12 O 4540/18). Dass es sich dabei aber auch nur um eine mögliche Einschätzung unter mehreren handelt, ergibt sich schon daraus, dass das Berufungsverfahren vor dem OLG München sodann im Vergleichswege mit einer erhöhten Zahlung der Beklagtenseite von 7.500 EUR für den Sohn und 4.000 EUR für die Schwiegertochter abgeschlossen worden ist. Dies wäre jeweils der Mittelwert für ein Hinterbliebenengeld mit einer Bandbreite von 5.000–10.000 EUR für einen Hinterbliebenen der im Gesetz hervorgehoben 4 Fälle mit der Vermutungswirkung eines ausreichend starken Näheverhältnisses und 3.000–5.000 EUR für einen weiteren Anspruchssteller mit geringerer Nähebeziehung. Auf dieser Linie liegen auch die Entscheidungen des AG Passau mit einem Hinterbliebenengeld von 5.000 EUR für einen einjährigen Enkel des Verstorbenen (AG Passau, Urt. v. 22.11.2019 – 16 C 722/19) und einen fünfjährigen Enkel (AG Passau, Urt. v. 3.12.20219 – 11 C 721/19).

c. Urteile im Adhäsionsverfahren im Strafrecht

Auch die Strafgerichte hatten sich im Adhäsionsverfahren nach den §§ 403 ff. StPO mit einem Hinterbliebenengeld zu befassen. Die dabei ausgeurteilten Beträge erscheinen aber nach zivilrechtlichen Maßstäben als zu hoch bzw. zu niedrig angesetzt. So hat das LG Rottweil der Mutter und den minderjährigen Kindern der Ermordeten jeweils einen Betrag i.H.v. 20.000 EUR, der Schwester und dem getrenntlebenden Ehemann jeweils 10.000 EUR zugesprochen und damit Bereiche ausgewählt, die auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten eines Mordfalls sehr hoch angesetzt sind (LG Rottweil, Urt. v. 4.7.2018 – 1 Ks 10 Js 10802/17). Sehr gering erscheint dagegen der Betrag in Höhe von 2.000 EUR, den die Jugendkammer Osnabrück bei einer anderen Verurteilung wegen eines Mordes im Adhäsionsverfahren mit dem ebenfalls kritisch zu sehenden Hinweis ausgeurteilt hat, dass ein Hinterbliebenengeld mit 20 % des Schockschadens anzusetzen wäre (LG Osnabrück, Urt. v. 9.1.2019 – 3 KLs/710 Js 55274/17 – 4/18). Ein betragsmäßiger Mittelwert, d.h. 10.000–12.000 EUR, dürfte bei diesen Fällen unter Berücksichtigung des bei einem Mordfall erlittenen besonderen Leids überzeugender sein und sich in das Gefüge immaterieller Schadenersatzansprüche gut einfügen.

Dr. Michael Nugel, RA und FA für VerkehrsR und VersR, Essen

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