1. Bereits mit der ersten Tätigkeit des Rechtsanwalts für den Mandanten entsteht in jedem (gerichtlichen) Verfahren eine Verfahrensgebühr als Ausgangsgebühr und daneben auch eine Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG, die den für die erstmalige Einarbeitung anfallenden zusätzlichen Aufwand honoriert.
2. Das Entstehen der Verfahrensgebühr Nr. 4130 VV RVG setzt voraus, dass der Verteidiger einen Auftrag für das Revisionsverfahren hat.
(Leitsätze des Verfassers)
LG Amberg,Beschl. v.21.1.2020–11 Qs 55/19
I. Sachverhalt
Gestritten wird um das Entstehen von Verfahrensgebühren Nr. 4106 VV RVG und der Verfahrensgebühr für das Revisionsverfahren Nr. 4130, 4131 VV RVG. Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Rechtsanwalt war Pflichtverteidiger des Angeklagten in einem beim AG anhängigen Verfahren (8 Ds 102 Ja 6172117). In diesem erhielt er einen Anruf vom zuständigen Richter. Dieser teilte mit, dass unter den Aktenzeichen 8 Ds 102 Ja 5902/17 und 8 Ds 108 Js 8132/17 je eine weitere Anklage gegen den Angeklagten vorliege. Der Anklagevorwurf wurde mitgeteilt. Es wurde die weitere Verfahrensbehandlung dahingehend besprochen, dass der Rechtsanwalt auch in diesen beiden Verfahren als Pflichtverteidiger bestellt werde. Hierüber wurde der Mandant informiert. Der Rechtsanwalt wurde beigeordnet. Er nahm Akteneinsicht und informierte den Angeklagten über den Gegenstand der Verfahren und die Beweissituation aufgeklärt. Gegen das amtsgerichtliche Urteil hat der Rechtsanwalt dann Berufung eingelegt. Im Berufungshauptverhandlungstermin erschien der Angeklagte nicht. Die Berufung wurde nach § 329 StPO verworfen. Der Pflichtverteidiger legte innerhalb der Wochenfrist fristwahrend Revision ein. Nach Ablauf der Wochenfrist stellte sich heraus, dass sich der Mandant in Strafhaft befand und auch bereits zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung vor dem Berufungsgericht befunden hatte. Der Rechtsanwalt hat daher den Angeklagten in der Haftanstalt aufgesucht und ihn auf seine Bitte hin beraten, ob die Revision weiter durchgeführt werden soll, oder ob die Revision zurückgenommen wird und stattdessen ein Wiedereinsetzungsgesuch gestellt werden soll. Da ein Wiedereinsetzungsgesuch (§ 329 Abs. 7 StPO) als der erfolgversprechende Weg erschien, hat der Rechtsanwalt auftragsgemäß die Revision zurückgenommen und ein Wiedereinsetzungsgesuch gestellt, dem stattgegeben worden ist. Das LG hat für die beiden zusätzlichen Verfahren jeweils eine Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG festgesetzt. Die Verfahrensgebühr Nr. 4130, 4131 für das Revisionsverfahren ist nicht festgesetzt worden.
II. Entscheidung
Nach Auffassung des LG ist die Verfahrensgebühr Nrn. 4130, 4131 VV RVG für das Revisionsverfahren zu Recht nicht festgesetzt worden. Die entstehe mit der ersten Tätigkeit des Rechtsanwalts nach seiner Beauftragung für die Revisionsinstanz (Hartung in: Hartung/Schons/Enders, RVG, 3. Aufl. 2017, VV 4130, 4131 Rn 11). Da der Pflichtverteidiger bereits in der Berufungsinstanz als Verteidiger tätig gewesen sei, habe die Einlegung der Revision nach § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 10 RVG noch zum gerichtlichen Verfahren der Berufungsinstanz gehört. Jede danach für den Mandanten erbrachte Tätigkeit führe, wenn der Verteidiger den Auftrag zur Verteidigung im Revisionsverfahren erhalten hat, zur Verfahrensgebühr Nr. 4130 VV RVG (Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 24. Aufl., VV 4130 Rn 7). Eine Beauftragung für die Revisionsinstanz sei daher Voraussetzung für das Entstehen der Verfahrensgebühr Nr. 4131 VV RVG). Vorliegend habe der Pflichtverteidiger die Revision vorsorglich eingelegt, da sein Mandant in der Berufungshauptverhandlung abwesend gewesen sei. Der Pflichtverteidiger habe in der Folge gerade nicht den Auftrag zur Verteidigung im Revisionsverfahren erhalten, weshalb letztlich die Rücknahme der Revision erfolgte. Somit habe er auch keine Tätigkeiten in Bezug auf die Revisionsinstanz entfaltet. Das Gespräch mit dem Mandanten haben neben der Abklärung eines Wiedereinsetzungsgrundes der Abklärung gedient, ob ein Revisionsauftrag erteilt werde, was nicht geschehen sei.
Ein Auftrag zur Verteidigung im Revisionsverfahren ergebe sich – so das LG – auch nicht aus der Befugnis zur Rechtsmitteleinlegung gemäß der vom Angeklagten unterzeichneten Vollmacht. Denn mit der Beiordnung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger sei die Vollmacht erloschen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 142 Rn 7 unter Verweis auf BGH NStZ 1991, 94).
Letztlich seien beratende Tätigkeiten in Bezug auf die Durchführung einer Revision auch nicht notwendig gewesen, da der Verteidiger Kenntnis von einem möglichen Wedereinsetzungsgrund hatte. Zu Beginn des Gesprächs mit dem Angeklagten in der JVA habe der der Pflichtverteidiger erfahren, dass der Verurteilte sich auch zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung in Haft befunden hatte. Damit lag sicher ein Wiedereinsetzungsgrund vor. Weitere Tätigkeiten in Bezug auf ein Revisionsverfahren seien daher nicht erforderlich gewesen. Erstattungsfähig sei die Gebühr nur, wenn die erbrachte Tätigkeit notwendig gewesen sei. Eine Prüfung der Notwendigkeit sehe das RVG bei der Vergütung des Pflichtverteidigers zwar ausdrücklich nur für dessen Auslagen und sonstige Aufwendungen vor (§ 46 RVG). Aus dem durch die Bestellung des Rechtsanwalts begründeten öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnis ergebe sich aber die ihm im Interesse der Allgemeinheit obliegende Verpflichtung, keine Gebühren durch unnötiges Verteidigungshandeln auszulösen (KG Berlin, Beschl. v. 19.5.2011 – 1 Ws 168/10; OLG Koblenz NStZ-RR 2014, 327).
Die Verfahrensgebühr für den ersten Rechtszug vor dem Amtsgericht gemäß Nr. 4106 VV RVG und in den beiden „zusätzlichen“ Verfahren hat das LG hingegen festgesetzt. Die Verfahrensgebühr entstehe gem. Vorbemerkung 4 Abs. 2 VV RVG für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information. Abgegolten werde mit ihr die gesamte Tätigkeit des Rechtsanwalts im jeweiligen Verfahrensabschnitt, soweit hierfür keine besonderen Gebühren vorgesehen seien. Durch das 2. KostRMoG sei in der Anm. zu Nr. 4100 VV RVG ausdrücklich klargestellt, dass die Grundgebühr neben der Verfahrensgebühr entsteht. Mit der Formulierung solle verdeutlicht werden, dass die Grundgebühr grundsätzlich nicht allein anfällt, sondern regelmäßig neben einer Verfahrensgebühr. Für die Tätigkeit in einem jeden gerichtlichen Verfahren entstehe eine Verfahrensgebühr als Ausgangsgebühr. Durch sie werde bereits die Information als Bestandteil des „Betreibens des Geschäfts“ entgolten (Vorbemerkung 4 Abs. 2 VV RVG). Die Grundgebühr solle den zusätzlichen Aufwand entgelten, der für die erstmalige Einarbeitung anfällt. Sie habe daher den Charakter einer Zusatzgebühr, die den Rahmen der Verfahrensgebühr erweitert (BT-Drucks 17/11471 S. 281). Hieraus folge, dass bereits mit der ersten Tätigkeit des Rechtsanwalts für den Mandanten in jedem (gerichtlichen) Verfahren eine Verfahrensgebühr als Ausgangsgebühr und daneben auch eine Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG, die den für die erstmalige Einarbeitung anfallenden zusätzlichen Aufwand honoriert, entstehe (OLG Saarbrücken RVGreport 2015, 64 = StRR 2015, 117 = RVGprofessionell 2015, 60 unter Verweis auf Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, Vorb. 4 VV Rn 11 und 4100, 4101 VV Rn 9). Vorliegend sei die Verfahrensgebühr auch angefallen. Es seien anwaltliche Tätigkeiten zur Betreibung des Geschäfts einschließlich der Information ausgeführt. Es entstehe bereits mit der ersten Tätigkeit des Rechtsanwalts für den Mandanten in jedem gerichtlichen Verfahren eine Verfahrensgebühr als Ausgangsgebühr und daneben auch eine Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG, die den für die erstmalige Einarbeitung anfallenden zusätzlichen Aufwand honoriert.
III. Bedeutung für die Praxis
1. Die Nichtgewährung der Nr. 4130, 4131 VV RVG ist m.E. unzutreffend. Das LG macht mal wieder den bei vergleichbaren Konstellationen häufigen Fehler, dass die Frage des Entstehens der Verfahrensgebühr für das Rechtsmitteverfahren mit der Frage der Erstattung der Gebühr verwechselt/vermischt wird (vgl. dazu auch eingehendBurhoffRVGreport 2014, 410). Hier ist die Verfahrensgebühr Nr. 4130, 4131 VV RVG nicht nur entstanden, sondern wäre auch – entgegen der Ansicht des LG – zu erstatten/festzusetzen gewesen. Soweit das LG das Entstehen der Gebühr Nr. 4130 VV RVG davon abhängig macht, übersieht es m.E. zunächst § 297 StPO, der dem Verteidiger ein eigenes Recht zur Rechtsmitteleinlegung einräumt. Und dieses Recht musste der Rechtsanwalt hier aus anwaltlicher Vorsorge auch ausüben, da der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung nicht anwesend gewesen und damit völlig offen war, wie mit der Verwerfung der Berufung nach § 329 StPO umgegangen werden sollte. Dass der Angeklagte sich dann entschieden hat, die eingelegte Revision wieder zurückzunehmen, führt nicht zum Wegfall der durch das Gespräch mit dem Mandanten bereits entstanden Gebühr (vgl. auch LG Osnabrück RVGreport 2019, 339). Aus Vorstehendem folgt zugleich auch, dass die Tätigkeit des Pflichtverteidigers auch notwendig war und die Gebühr daher hätte festgesetzt werden müssen.
2. Die Festsetzung der beiden Verfahrensgebühren Nr. 4106 VV RVG ist hingegen zutreffend. Sie entspricht der h.M. zum Verhältnis von Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und jeweiliger Verfahrensgebühr nach den 2013 erfolgten Änderungen durch das 2. KostRMoG (neben OLG Saarbrücken, a.a.O. noch OLG Saarbrücken, RVGreport 2015, 64 = StRR 2015, 117 = RVGprofessionell 2015, 60; LG Chemnitz RVGreport 2015, 265 = StRR 2015, 319 = AGS 2015, 379; LG Duisburg AGS 2014, 330 = StRR 2014, 360 = RVGprofessionell 2014, 155 = RVGreport 2014, 427; LG Oldenburg RVGreport 2014, 470 = AGS 2014, 552 = StRR 2015, 80 = RVGprofessionell 2015, 45; LG Saarbrücken RVGreport 2015, 221 = StRR 2015, 239 = AGS 2015, 389). A.A. ist – soweit ersichtlich, nachdem das LG Saarbrücken sich inzwischen auch der h.M. angeschlossen hat, nur noch – ohne nähere Begründung – das OLG Nürnberg (RVGreport 2016, 105 = StraFo 2015, 39 = AGS 2015, 29 = StRR 2015, 118). Von daher wäre es vielleicht angebracht gewesen, das LG hätte die weitere Beschwerde gegen seine Entscheidung zugelassen und hätte das nicht mit: „Das Verhältnis von Grundgebühr und Verfahrensgebühr ergibt sich ausdrücklich aus dem Gesetz und der Gesetzesbegründung.“ abgelehnt. Das wird man bei dem dem LG „übergeordneten“ OLG Nürnberg nicht gern lesen.
RADetlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg