Aus dem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG kann sich grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen ergeben.
(Leitsatz des Verfassers)
BVerfG, Beschl. v. 28.4.2021 – 2 BvR 1451/18
I. Sachverhalt
Der Betroffene hatte im Bußgeldverfahren Einsicht in nicht zur Akte gelangte Messunterlagen, hierunter die sogenannten Rohmessdaten und die Lebensakte des Messgerätes oder vergleichbare Unterlagen, verlangt, um eine eigenständige Überprüfung der Ordnungsmäßigkeit des Messergebnisses vorzunehmen. Das hatten die Verwaltungsbehörde und das AG abgelehnt. Das OLG Bamberg hatte die auf einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens gestützte Rechtsbeschwerde des Betroffenen in seinem Beschl. v. 13.6.2018 (3 Ss OWi 626/18, StRR 7/2018, 23 = VRR 7/2018, 14) unter Hinweis auf die auch bei Anwendung standardisierter Messverfahren bestehenden Amtsaufklärungspflichten als unbegründet zurückgewiesen und zugleich die Rechtsprechung des VerfG Saarland im Beschl. v. 27.4.2018 (Lv 1/18, VRR 6/2018, 15 = StRR 6/2018, 22) als zu weitgehend abgelehnt. Gegen den Beschluss des OLG Bamberg hatte der Betroffene Verfassungsbeschwerde erhoben, die nun beim BVerfG Erfolg hatte.
II. Entscheidung
Das BVerfG stellt eine Verletzung des Rechts des Betroffenen auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) fest. Die Fachgerichte hätten verkannt, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Betroffenen grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgen könne. Die generelle Versagung des Begehrens des Beschwerdeführers auf Informationszugang, welches dieser wiederholt im behördlichen und gerichtlichen Verfahren geltend gemacht habe, werde deshalb der aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Gewährleistung nicht gerecht. Entgegen der Annahme der Fachgerichte handele es sich hierbei auch nicht um eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht, sondern der Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, VRR 1/2021 4 ff.). Auf dieser Fehlannahme beruhe die Entscheidung des OLG Bamberg.
III. Bedeutung für die Praxis
1. Die Ausführungen des BVerfG wird man in Bayern im Hinblick auf die vor allem dort vertretene restriktive Rechtsprechung in den Einsichtsfragen, die ja vom BayObLG fortgeführt wird, nicht gerne lesen. Von Bedeutung ist auch der Hinweis auf die Entscheidung im Verfahren 2 BvR 1616/18. Damit macht das BVerfG deutlich, was es von der Rechtsprechung einiger OLG hält, die schon wieder dabei sind, diese Entscheidung des BVerfG zu relativieren (s. aber auch OLG Stuttgart VRR 9/2021, 25 [in diesem Heft]; eingehend zu der Einsichtsproblematik Niehaus in Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 222 ff.).
2. Zu „bestanden“ ist – mal wieder – die lange Dauer des Verfahrens beim BVerfG. Man fragt sich, warum Karlsruhe fast drei Jahre braucht, um Stellung zu nehmen.
3. Als unzulässig hat das BVerfG allerdings die Verfassungsbeschwerde angesehen, soweit sich der Betroffene gegen den amtsgerichtlichen Beschluss gewendet hatte, mit dem das AG über seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 62 OWiG über die behördliche Versagung seines Einsichtsantrages entschieden hat. Insoweit war die Verfassungsbeschwerde verspätet. Zur Fristwahrung hätte sich der Beschwerdeführer nach Auffassung des BVerfG innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG gegen den angegriffenen Beschluss des AG wenden müssen. Bei der Entscheidung gemäß § 62 OWiG handele es sich um eine vom Hauptsacheverfahren unabhängige Entscheidung über eine Maßnahme der Verwaltungsbehörde im Bußgeldverfahren, die grundsätzlich unanfechtbar sei (§ 62 Abs. 2 Satz 3 OWiG).
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg