Beitrag

Einsicht in Messunterlagen (Daten der gesamten Messreihe); Divergenzvorlage zum BGH

Dem BGH wird die Sache zur Entscheidung folgender Rechtsfrage vorgelegt: Liegt in der Verweigerung der Einsichtnahme in dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Daten („gesamte Messreihe“) auch dann ein Verstoß gegen, den Grundsatz des fairen Verfahrens, wenn eine Relevanz der betreffenden Daten für die Beurteilung der Zuverlässigkeit des verfahrensgegenständlichen Messvorgangs und damit für die Verteidigung des Betroffenen nicht erkennbar ist?

(Leitsatz des Gerichts)

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 4.5.2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 35 km/h zu einer Geldbuße von 120 EUR verurteilt. Die Messung wurde mit dem Messgerät ES 3.0 der Firma ESO vorgenommen. Der Verteidiger beantragte vor der Hauptverhandlung u.a. Einsicht in „die Falldatensätze der gesamten tatgegenständlichen Messreihe mit Rohmessdaten/Einzelmesswerten sowie Statistikdatei und Caselist“. Zur Begründung hat er ausgeführt, aus einer Analyse der Messreihe könne sich ergeben, dass andere Messungen fehlerhaft sind oder technisch nicht nachvollzogen werden können, was Rückschlüsse auf die tatgegenständliche Messung zulasse. Dies gelte insbesondere für die Aspekte atypischer Fotopositionen, einer Divergenz zwischen der Anzahl der erfassten Messungen und der generierten Falldatensätze, der Annulierungsrate des Geräts, möglicher Bewegungen des Messgeräts während der Messung sowie einer, eventuellen Nutzung von Messpunkten außerhalb des Messbereichs. Die Verwaltungsbehörde verweigerte die Übersendung dieser Daten. Der Antrag der Verteidigung auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG) war beim AG erfolglos. In der Hauptverhandlung beantragte die Verteidigung die Aussetzung des Verfahrens unter Bezugnahme auf die nicht gewährte Einsicht in die Messunterlagen. Das AG wies den Antrag zurück und verurteilte den Betroffenen.

II. Entscheidung

Das OLG beabsichtigt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen als unbegründet zu verwerfen, sieht sich daran jedoch durch den Beschl. des OLG Jena v. 17.3.2021 (1 OLG 331 SsBs 23/20, VRR 5/2021) gehindert und legt daher im Wege der Divergenzvorlage (§§ 121 Abs. 2 GVG, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG) dem BGH die Frage vor, ob in der Verweigerung der Einsichtnahme in dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Daten („gesamte Messreihe“) auch dann ein Verstoß gegen, den Grundsatz des fairen Verfahrens liegt, wenn eine Relevanz der betreffenden Daten für die Beurteilung der Zuverlässigkeit des verfahrensgegenständlichen Messvorgangs und damit für die Verteidigung des Betroffenen nicht erkennbar ist.

Nach dem Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 (VRR 1/2021, 4) hat der Betroffene einen aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) hergeleiteten Anspruch auf Zurverfügungstellung bzw. Einsicht auch in nicht bei den Akten befindliche Messunterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt (vgl. Burhoff/Niehaus in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 225 ff.). Das BVerfG hat diese Rechtsprechung inzwischen mehrfach bestätigt (Beschl. v. 28.4.2021 (2 BvR 1451/18) und vom 4.5.2021 (2 BvR 868/20 und 2 BvR 277/19). Das OLG Zweibrücken will allerdings – wie schon das BayObLG (Beschl. v. 4.1.2021 – 202 ObOWi 1532/20, VRR 1/2021, 14) – gleichwohl dem Betroffenen das Einsichtsrecht in die Messunterlagen des gesamten Tattages (also in diejenigen Daten, die nicht den Betroffenen, sondern dritte Verkehrsteilnehmer betreffen) versagen. Das OLG ist der Meinung, der Betroffene habe die „(mögliche) Relevanz der daraus erwarteten Erkenntnisse im Hinblick auf den Tatvorwurf“ zu „erläutern“, wenn diese Relevanz „nicht oder nicht ohne weiteres ersichtlich“ sei. Das „Tatgericht“ habe die mögliche Relevanz für die Verteidigung „eigenständig und ggfs. unter Rückgriff [auf] sachverständige Äußerungen oder ggf. eine Stellungnahme der PTB zu beurteilen.“ Auf dieser Grundlage nimmt das OLG Zweibrücken sodann (wie das BayObLG) Bezug auf eine Stellungnahme der PTB vom 30.3.2020, wonach aus der Betrachtung der „gesamten Messreihe… kein relevanter Erkenntnisgewinn zu erwarten“ sei. Die Verfahrensrüge des Betroffenen sei daher nach Auffassung des Senats unbegründet.

III. Bedeutung für die Praxis

Das OLG Zweibrücken referiert zunächst die Aussagen des BVerfG aus dessen Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 (VRR 1/2021, 4) über das aus dem Recht auf ein faires Verfahren herzuleitende Einsichtsrecht in die Messunterlagen. Dieses Einsichtsrecht erstreckt sich im übrigen nach einem weiteren aktuellen Beschluss des OLG Zweibrücken vom 27.4.2021 – 1 OWi 2 SsRs 173/20auchauf die „Lebensakte“ des Geräts, also auf die behördliche Sammlung von Nachweisen über erfolgte Wartungen, Reparaturen oder sonstige Eingriffe am Messgerät (einschließlich elektronisch vorgenommener Maßnahmen, also Softwareänderungen und -aktualisierungen), vgl. Verf. in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 2872.

Das OLG zitiert in seinem Vorlagebeschluss insbesondere auch die hier entscheidende Passage des Beschlusses des BVerfG (Rn 57), wonach für die Relevanz der vom Betroffenen begehrten Informationen „maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers abzustellen“ ist. Die Verteidigung kann jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen (vgl. bereits BVerfGE 63 45, 67 – „Spurenakten-Entscheidung“). Das BVerfG führt daher weiter unmissverständlich aus, dass es für das Einsichtsrecht nicht darauf ankommt, „ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich erachtet“ (a.a.O., Rn 57).

Zu diesen Ausführungen des BVerfG, die im übrigen schon der bisherigen h.M. auch in der Rechtsprechung entsprechen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 8.1.2020 – 3 Rb 33 Ss 763/19, wonach das Recht auf Zurverfügungstellung vorhandener Rohmessdaten auch dann besteht, „wenn das Gericht diese Informationen für unerheblich hält“), dürften sich das OLG Zweibrücken und das BayObLG in einen erkennbaren Widerspruch setzen, wenn etwa das OLG Zweibrücken ausführt, dass das „Tatgericht“ die mögliche Relevanz für die Verteidigung „eigenständig und ggfs. unter Rückgriff [auf] sachverständige Äußerungen oder ggf. eine Stellungnahme der PTB zu beurteilen“ habe. Dies hat „das Tatgericht“ (und erst recht die PTB) nach den zuvor dargelegten Grundsätzen des BVerfG – abgesehen vom Maßstab des Rechtsmissbrauchs (s.u.) – gerade nicht zu „beurteilen“, wie insbesondere auch das OLG Jena in seinem Beschl. v. 17.3.2021 (1 OLG 331 SsBs 23/20, VRR 5/2021, 19) überzeugend ausgeführt hat, indem es allein die Einschätzung der Verteidigung für die Frage der Bedeutung von Informationen für die Verteidigung für maßgeblich hält.

Das BVerfG hat allerdings äußerste Grenzen für das Einsichtsrecht formuliert (a.a.O., Rn 56). Es hat dies jedoch ausdrücklich mit der Gefahr uferloser Ausforschung und des Rechtsmissbrauchs begründet, wodurch deutlich wird, dass damit gerade nicht die o.g. Grundsätze der Maßgeblichkeit der Perspektive der Verteidigung in Frage gestellt oder relativiert werden sollen. Dass diese äußersten Grenzen bei dem Begehren auf Zurverfügungstellung der Rohmessdaten des gesamten Tattages nicht erreicht sind, hat das OLG Jena (a.a.O.) überzeugend dargelegt. Denn bestimmte Auffälligkeiten wie etwa fehlende Vollständigkeit der Aufnahmen, Unregelmäßigkeiten bei der Dateneinblendung, eine hohe Anzahl verworfener Messungen, Stellungs- oder Standortveränderungen des Messgerätes, stark abweichende Positionen mehrerer der aufgenommenen Fahrzeuge zur Fotolinie oder gehäuftes Auftreten unsinniger Messergebnisse sind für den Betroffenen bzw. einen von ihm beauftragten Sachverständigen nur durch Betrachtung aller Aufnahmen zu ermitteln (Cierniak, zfs 2012, 664, 672). Wenn das OLG Zweibrücken und das BayObLG die Relevanz der Informationen für die Verteidigung in Frage stellen, so dürften sie damit unzulässig die eigene Beurteilung an die Stelle derjenigen der Verteidigung setzen, die für das Einsichtsrecht maßgeblich ist.

Dem Grundsatz der Maßgeblichkeit der Verteidigungsperspektive widerspricht auch die vom OLG Zweibrücken postuliert Pflicht zur Erläuterung und Plausibilisierung, „weshalb die Kenntnis vom Inhalt solche andere Verkehrsteilnehmer betreffende Daten für seine Verteidgung Bedeutung gewinnen können und er deshalb auf diese Informationen angewiesen ist“. Denn das Einsichtsrecht des Betroffenen zielt gerade darauf ab, mögliche Fehlerquellen erst zu ermitteln. Das Einsichtsrecht ist der Aufklärungspflicht des Gerichts vorgelagert (OLG Jena, a.a.O.) und steht mit ihr in keinem Zusammenhang.

Das Einsichtsrecht in verfahrensfremde Messdaten lässt sich auch nicht wegen entgegenstehenden Interessen der betreffenden (anderen) Verkehrsteilnehmer ablehnen. Soweit das OLG Zweibrücken insoweit nunmehr Bedenken entwickelt („dritte Verkehrsteilnehmer betreffen, deren Rechte tangiert sein können“), hat gerade das BayObLG bereits im Jahr 1990 entschieden, dass Gründe des „Geheimnisschutzes“ einer Übersendung eines Videobandes an den Verteidiger nicht entgegenstehen (NJW 1991, 1070) und auch das BVerfG hat im Jahr 2011 die Position vertreten, dass die Verkehrsteilnehmer sich durch die Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer und auch der Kontrolle ihres Verhaltens im Straßenverkehr durch die Polizei aussetzen (NJW 2011, 2783, 2785).

Die Versuche des BayObLG und des OLG Zweibrücken, das nunmehr auch vom BVerfG dem Betroffenen zuerkannte Einsichtsrecht in die Messerunterlagen jedenfalls hinsichtlich vorhandener Rohmessdaten wieder zu relativieren, vermögen nach hiesigem Dafürhalten nicht zu überzeugen. Sie dürften insbesondere dem Umstand nicht gerecht werden, dass die vom BVerfG bestätigten Grundsätze des standardisierten Messverfahrens mit den damit verbundenen Erleichterungen für die Beweisführung des Gerichts und die Darlegungen im Urteil gerade nur dann zu legitimieren sind, wenn komplementär dem Betroffenen und seiner Verteidigung die Möglichkeit eingeräumt wird, die Richtigkeit der Messung eigeninitiativ zu überprüfen und in Frage zu stellen (vgl. Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2, 7; DAR 2018, 541, 544). Dies setzt aber ein „umfassendes“ (BVerfG, a.a.O., Rn 50) Zugangsrecht zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen voraus, zu denen auch vorhandene Rohmessdaten/Einzelmesswerte des gesamten Tattages gehören dürften.

RiLG Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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