Zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, wenn das AG eine hinreichende Entschuldigung für das Fernbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung verneint und deswegen den Einspruch des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen hat, das AG aber selbst den Zugang des Betroffenen zum Gerichtsgebäude und damit auch dessen Teilnahme an der Hauptverhandlung in offenkundig rechtswidriger Weise von der Preisgabe personenbezogener Daten abhängig gemacht hat.
(Leitsatz des Verfassers)
VerfGH Sachsen, Beschl. v. 23.4.2021 – Vf. 137-IV-20
I. Sachverhalt
Der Betroffene hat gegen einen gegen ihn ergangenen Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt. Zum anberaumten Termin zur Hauptverhandlung am 5.5.2020 erschien der – von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen nicht entbundene – Betroffene am AG. Dort wurden neben den gewöhnlichen Einlasskontrollen Kontrollen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie durchgeführt. Hierzu musste sich jeder Besucher, um Zugang zum Gericht zu erhalten, am Eingang in eine fortlaufende, tabellarisch geführte Liste („Besucherkarte“) eintragen und dabei – für alle nachfolgenden Besucher lesbar – Name, Anschrift und Telefonnummer sowie das Aktenzeichen und den Sitzungssaal der Verhandlung angeben, zu der er geladen war. Der Betroffene sowie sein Verteidiger rügten, das Ausfüllen der Liste sei unzumutbar und widerspreche jeglichen datenschutzrechtlichen Grundsätzen. Da sich der Betroffene weigerte, die Liste auszufüllen, um – nach eigenen Angaben – anderen Besuchern und dem Personal nicht zu ermöglichen, seine Telefonnummer oder die konkrete Verhandlung bekannt zu machen, wurde ihm der Zugang zum Gericht verweigert. Das AG hat dann den Einspruch des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Das OLG Dresden hat den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde zurückgewiesen. Mit seiner Verfassungsbeschwerde hat der Betroffene die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör gerügt. Damit hatte er beim VerfGH Sachsen Erfolg.
II. Entscheidung
Der VerfGH verweist darauf, dass § 74 Abs. 2 OWiG als eine den Anspruch des Betroffenen auf Gewährung des rechtlichen Gehörs einschränkende Vorschrift von Verfassungs wegen eng auszulegen sei. Daraus folge das generelle Gebot, den Begriff der „genügenden Entschuldigung“ zugunsten des Betroffenen weit zu verstehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 29.3.2007 – 2 BvR 2366/06 – m.w.N.; vgl. auch BayObLG StV 2020, 855 [Ls.]). Eine Entschuldigung sei nach der – insofern verfassungsrechtlich unbedenklichen – herrschenden Auffassung dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Betroffenen einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, wenn dem Betroffenen also unter den gegebenen Umständen unter Berücksichtigung der Bedeutung der Sache ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar gewesen sei und ihm infolgedessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden könne (BayObLG, Beschl. v. 31.3.2020 – 202 StRR 29/20; Seitz/Bauer in: Göhler, OWiG, 17. Aufl., § 74 Rn 29).
Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben sei das AG nicht gerecht geworden. Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung habe das AG unberücksichtigt gelassen, dass es selbst den Zugang des Betroffenen zum Gerichtsgebäude und damit auch dessen Teilnahme an der Hauptverhandlung in offenkundig rechtswidriger Weise von der Preisgabe personenbezogener Daten abhängig gemacht hatte. Die am Einlass zum Gerichtsgebäude bei sämtlichen Besuchern durchgeführte, papiergebundene Sammlung personenbezogener Daten (Name, Vorname, Anschrift, Telefonnummer, Datum und Uhrzeit des jeweiligen Zutritts zum Gebäude einschließlich der mit dem Eintrag in die Liste verbundenen Bestätigung, in keinem Coronavirus-Risikogebiet gewesen zu sein, keine Symptome einer Coronavirus-Infektion aufzuweisen und keine entsprechenden Kontakte gehabt zu haben), falle in den Anwendungsbereich der DSGVO. Denn es handele sich hierbei i.S.d. Art. 2 Abs. 1 DSGVO um die nichtautomatisierte Verarbeitung von in einem Dateisystem gespeicherter Daten. Nach der Definition in Art. 4 Nr. 6 DSGVO bestehe ein solches Dateisystem in einer strukturierten Sammlung personenbezogener Daten, die nach bestimmten Kriterien zugänglich sei, unabhängig davon, ob sie zentral, dezentral oder nach funktionalen oder geografischen Gesichtspunkten geordnet geführt werde; umfasst würden nach herrschender Auffassung alle denkbaren Ordnungssysteme einschließlich Tabellen und Listen (vgl. Kühling/Raab in: Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, 3. Aufl., Art. 4 Abs. 6 DS-GVO Rn 3; Bäcker in: BeckOK Datenschutzrecht, Stand August 2020, Art. 2 DS-GVO Rn 4, Art. 4 DS-GVO Rn 83; Ernst in: Paal/Pauly, DS-GVO BDSG, 3. Aufl., Art. 2 DS-GVO Rn 8 f.). Vorliegend erfolgte jedenfalls eine geordnete Sammlung der Informationen über den Zutritt zum Gerichtsgebäude, die – zu Rekonstruktionszwecken für die Gesundheitsbehörden – sowohl nach Datum und Uhrzeit, als auch nach den weiteren erhobenen Merkmalen wie insbesondere Sitzungssaal, Name oder Kontaktdaten ausgewertet werden konnte. Bereits das Erheben solcher personenbezogenen Daten stelle nach Art. 4 Nr. 2 DSGVO eine Verarbeitung im Sinne der Datenschutz-Grundverordnung dar. Da die Verarbeitung nicht zum Zwecke der Strafverfolgung, sondern aus Gründen des Infektionsschutzes erfolgte, stehe Art. 2 Abs. 2 Buchst. d DSGVO einer Anwendung der Datenschutz-Grundverordnung nicht entgegen.
Die Erhebung der personenbezogenen Daten mittels einer – zumindest für nachfolgende Besucher – einsehbaren Liste habe offenkundig gegen den Grundsatz der Vertraulichkeit gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. f DSGVO verstoßen und habe daher eine unzulässige Verarbeitung dargestellt, weil sie unbefugten Dritten Zugang zu den Daten ermöglicht habe (vgl. Erwägungsgrund 39 S. 12 DSGVO; Herbst in: Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, 3. Aufl., Art. 5 Rn 76; Schantz in: BeckOK Datenschutzrecht, Stand August 2020, Art. 5 DS-GVO Rn 35 f.; Heberlein in: Ehmann/Selmayr, DSGVO, 2. Aufl., Art. 5 Rn 28).
Das AG sei von Verfassungs wegen gehalten gewesen den Umstand, dass der Betroffene, um Zugang zum Gerichtsgebäude zu erlangen, personenbezogene Daten in einer den datenschutzrechtlichen Bestimmungen widersprechenden Weise hätte angeben müssen, bei der Prüfung des § 74 Abs. 2 OWiG in die Abwägung mit der öffentlich-rechtlichen Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung einzustellen. Die prozessuale Mitwirkungsobliegenheit, zumutbare Möglichkeiten auszuschöpfen, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen, umfasse nicht die Erfüllung von Zugangsvoraussetzungen, deren Ausgestaltung durch die an das Recht gebundene Gerichtsverwaltung objektiv rechtswidrig gewesen seien. Es habe auch nicht in Rede gestanden, dass der Betroffene eine Preisgabe der Daten auch unabhängig von der Form der Erhebung verweigert hätte. Für eine amtswegige Prüfung der Rechtmäßigkeit der Einlasskontrollen am Tag der Hauptverhandlung habe das AG schon deshalb Anlass gehabt, weil der Verteidiger in der Hauptverhandlung angegeben habe, dass der Betroffene infolge verweigerten Zugangs nicht habe erscheinen können. Dem stehe auch nicht entgegen, dass das erkennende Gericht – offenbar – darauf vertraut habe, dass am AG entsprechende Handlungsanweisungen des Oberlandesgerichts Dresden sachgerecht umgesetzt worden sind. Dies habe das AG nicht getan und dadurch den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt.
III. Bedeutung für die Praxis
1. Die Entscheidung ist zwar in einem Bußgeldverfahren ergangen, die Überlegungen und Ausführungen des VerfGH Sachsen gelten aber für das Strafverfahren in den Fällen der Berufungsverwerfung entsprechend.
2. Von Bedeutung ist, dass es hier um die Erhebung der personenbezogenen Daten mittels einer – zumindest für nachfolgende Besucher – einsehbaren Liste gegangen ist. Anders müsste m.E. der Fall zu beurteilen sein, wenn es sich nicht um eine „einsehbare Liste“ handelt, sondern um eine geschlossene. Insoweit hätte der Betroffene auch – so muss man m.E. auch den Sachverhalt verstehen – seine Angaben nicht verweigert (vgl. zur Kontaktdatenerfassung wegen der Coronapandemie auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.5.2020 – OVG 11 S 43/20; OVG Lüneburg, Beschl. v. 5.11.2020 – 9 LA 115/20, NJW 2021, 650).
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg