Beitrag

Anspruch auf Überlassung der gesamten Messserie des Tattages

Das aus dem Recht auf ein faires Verfahren herzuleitende Einsichtsrecht des Betroffenen in die Messunterlagen erstreckt sich auf die mit der verfahrensgegenständlichen Messung (des Betroffenen) in Zusammenhang stehende Messreihe, d.h. auf die gesamten am Tattag an der Messstelle zum Nachweis von Verkehrsverstößen angefallenen und gespeicherten digitalen Falldatensätze.

(Leitsatz des Verfassers)

OLG Jena, Beschl. v. 17.3.2021 – 1 OLG 331 SsBs 23/20

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 63 km/h zu einer Geldbuße von 440 EUR verurteilt und ein Fahrverbot von zwei Monaten angeordnet. Die Messung wurde mit dem Messgerät PoliScan M1 HP vorgenommen. Die Verteidigung hat vor der Hauptverhandlung gegenüber der Bußgeldbehörde die gewährte Akteneinsicht als unvollständig beanstandet und u.a. vergeblich die Überlassung der gesamten Messserie des Tattags gefordert. Dieses Begehren hat sie sodann (erfolglos) mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung weiterverfolgt (§ 62 OWiG) sowie mit einem entsprechenden Antrag in der Hauptverhandlung, den sie mit einem Aussetzungsantrag verbunden hat. Zur Begründung hat die Verteidigung ausgeführt, sie wolle den Tatvorwurf auf breiterer Grundlage prüfen und insbesondere nach etwaigen, allen Messungen anhaftenden, aber der Messung des Betroffenen nicht zu entnehmenden Fehlern suchen.

II. Entscheidung

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte mit der Rüge der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren Erfolg. Die Sache wurde zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das AG zurückverwiesen.

Nach dem Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 (VRR 1/2021, 4 ff.) hat der Betroffene einen aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) hergeleiteten Anspruch auf Zurverfügungstellung bzw. Einsicht auch in nicht bei den Akten befindliche Messunterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt. Dieses Informationsrecht geht deutlich weiter als die Amtsaufklärungspflicht des Gerichts und erstreckt sich auf die mit der verfahrensgegenständlichen Messung (des Betroffenen) in Zusammenhang stehenden Messreihe, d.h. auf die gesamten am Tattag an der Messstelle zum Nachweis von Verkehrsverstößen angefallenen und gespeicherten digitalen Falldatensätze.

Die am Tattag an der Messstelle generierten Falldateien anderer Verkehrsteilnehmer stehen in sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem dem Betroffenen angelasteten Geschwindigkeitsverstoß und können aus der (maßgeblichen) Sicht des Betroffenen für die Beurteilung der Erfolgsaussichten seiner Verteidigung bedeutsam sein. Denn die Kenntnis der dort zeitnah gewonnenen Messdaten, die sich nicht auf die ihm vorgeworfene Tat beziehen, verschafft dem Betroffenen eine breitere Grundlage für die Prüfung, ob im konkreten Fall tatsächlich ein standardisiertes Messverfahren ordnungsgemäß zur Anwendung gekommen ist und das Messgerät fehlerfrei funktioniert hat, indem sie anhand der Daten, die im zeitlichen Zusammenhang mit seiner Messung an gleicher Stelle erhoben worden sind, die Suche nach Hinweisen auf etwaige Fehlfunktionen des Messgeräte oder Fehler bei der Durchführung eröffnet, die eventuell Rückschlüsse auf die Fehlerhaftigkeit auch der eigenen Messung erlauben. Dass ein die Messreihe insgesamt betreffender Fehler, der sich in anderen Dateien abbildet, aus der Messdatei des konkreten Verkehrsverstoßes ebenfalls hervorgehen müsste (so OLG Koblenz, Beschl. v. 17.6.2018 – 1 OWi 6 SsBs 19/18), trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Bestimmte Auffälligkeiten wie etwa fehlende Vollständigkeit der Aufnahmen, Unregelmäßigkeiten bei der Dateneinblendung, eine hohe Anzahl verworfener Messungen, Stellungs- oder Standortveränderungen des Messgerätes, stark abweichende Positionen mehrerer der aufgenommenen Fahrzeuge zur Fotolinie oder gehäuftes Auftreten unsinniger Messergebnisse sind für den Betroffenen bzw. einen von ihm beauftragten Sachverständigen nur durch Betrachtung aller Aufnahmen zu ermitteln (Cierniak, zfs 2012, 664, 672).

Die vom BVerfG für die Gewährung des Informationszugang geforderte Relevanz der begehrten Informationen für die Verteidigung lässt sich nicht mit der Erwägung verneinen, dass aus der Betrachtung der gesamten Messreihe ohnehin keine für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen betreffenden Einzelmessung erheblichen Erkenntnisse gezogen werden könnten (so BayObLG, Beschl. v. 4.1.2021 – 202 ObOWi 1532/20, VRR 1/2021, 14 m. abl. Anm. Niehaus). Die insoweit erhobenen Einwände reichen nicht aus, um schon die Möglichkeit etwa aus der Messreihe insgesamt abzuleitender Entlastungsmomente schlechthin auszuschließen und der Messreihe von vornherein eine potentielle Beweiserheblichkeit abzusprechen. Ob bestimmte Informationen für die Verteidigung von Bedeutung sein können, unterliegt allein ihrer Einschätzung, wobei sie – wie vom BVerfG dargelegt – auch rein theoretischen Entlastungsmöglichkeiten nachgehen kann. Dass die dem Gericht obliegende Aufklärungspflicht sich nicht auf Ermittlungen erstreckt, „die sich auf die nur theoretische, nicht tatsachengestützte Möglichkeit einer Entlastung gründen“, so dass der Betroffene derartige Ermittlungen vom Gericht nicht verlangen kann (vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 17.7.2018, a.a.O.), ist für den Umfang des vorgelagerten Informationsanspruchs des Betroffenen gegenüber der Behörde ohne Belang.

Das Einsichtsrecht in verfahrensfremde Messdaten lässt sich auch nicht wegen entgegenstehenden Interessen der betreffenden (anderen) Verkehrsteilnehmer ablehnen. Gegenüber der gebotenen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren sind die Persönlichkeitsrechte Dritter regelmäßig nachrangig. Bei der vorzunehmenden Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht der anderen, in der Messserie abgebildeten Verkehrsteilnehmer ist zu berücksichtigen, dass diese sich durch ihre Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer und der Kontrolle ihres Verhaltens durch die Polizei ausgesetzt haben und der festgehaltene Lebenssachverhalt jeweils auf einen sehr kurzen Zeitraum begrenzt ist, so dass die Aufzeichnung nicht den Bereich der engen Privatsphäre berührt.

Eine Vorlage an den BGH gem. § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG war nicht veranlasst. Soweit in dem Beschl. des BayObLG v. 4.1.2021 (202 ObOWi 1532/20) ein Anspruch auf Einsichtnahme in die gesamte Messreihe verneint wird, handelt es sich nicht um tragende Erwägungen, nachdem die dahingehend erhobene Verfahrensrüge bereits als unzulässig zurückgewiesen worden ist. Gleiches gilt für die vom BayObLG in Bezug genommenen Entscheidungen des OLG Zweibrücken vom 5.5.2020 und 27.10.2020 (1 OWi 2 SsBs 94/19 bzw. 1 OWi 2 SsBs 103/20).

III. Bedeutung für die Praxis

Der zutreffenden Entscheidung des OLG Jena ist nichts hinzuzufügen. Der entgegenstehenden Entscheidung des BayObLG vom 4.1.2020 (202 ObOWi 1532/20) kann aus den vom OLG dargelegten Gründen (vgl. auch VRR 1/2021, 14, 15 f.) nicht gefolgt werden. Soweit das BayObLG einen Anspruch des Betroffenen auf Überlassung der gesamten Messreihe des Tattages ablehnt, widerspricht dies dem Beschl. des BVerfG vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 und der dort in Bezug genommenen Spurenakten-Entscheidung (BVerfGE 63 45, 67). Denn danach kommt es nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information für erforderlich erachtet, sondern auf die Sichtweise der Verteidigung (BVerfG, a.a.O., Rn 57).

Die Entscheidung des OLG Jena zeigt erneut auf, dass die Verteidigung ihr Vorbringen im Rahmen einer später ggf. erforderlich werdenden Rechtsbeschwerde vorbereiten muss, um den Verstoß gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren erfolgversprechend geltend zu machen (vgl. ausführlich Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 243 ff.). Insbesondere muss im Ermittlungsverfahren ein Antrag auf Zurverfügungstellung der Messunterlagen gestellt werden. Wird dieser abgelehnt, muss dagegen mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG) vorgegangen werden. In der Hauptverhandlung muss die Verteidigung den Einsichtsantrag wiederholen und zugleich die Aussetzung der Hauptverhandlung mit Blick auf die bisher nicht (ausreichend) gewährte Einsicht in die Messunterlagen beantragen. Gegen die Ablehnung dieses Antrags muss die gerichtliche Entscheidung nach § 238 Abs. 2 StPO beantragt werden. Mit Blick auf den daraufhin ergehenden Beschluss kann sodann im Rechtsbeschwerdeverfahren die unzulässige Beschränkung der Verteidigung nach § 338 Nr. 8 StPO, § 79 Abs. 3 OWiG gerügt werden.

Das OLG Jena entspricht mit seiner Rspr. der spätestens mit dem Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 einhelligen Auffassung zum Einsichtsrecht in die Messunterlagen. Der Versuch etwa des BayObLG (Beschl. v. 4.1.2021 – 202 ObOWi 1532/20), dieses Recht wieder zu relativieren, hat damit eine erste deutliche Absage erfahren.

RiLG Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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