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Alleinrennen: Strafbarkeit der sog. Polizeiflucht

Von § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB werden beim Vorliegen der weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen auch sogenannte Polizeifluchtfälle erfasst, sofern festgestellt werden kann, dass es dem Täter darauf ankam, als notwendiges Zwischenziel für eine erfolgreiche Flucht über eine nicht ganz unerhebliche Wegstrecke die höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass aus einer Fluchtmotivation nicht ohne Weiteres auf die Absicht geschlossen werden kann, die gefahrene Geschwindigkeit bis zur Grenze der situativ möglichen Höchstgeschwindigkeit zu steigern (vgl. BGH, Beschl. v. 17.2.2021 ‒ 4 StR 225/20, VRR 4/2021, 13 = StRR 5/2021, 27).

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 29.4.2021 – 4 StR 165/20

I. Sachverhalt

Das LG hat den Angeklagten wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens nach den § 315d Abs. 1 Nr. Abs. 4 StGB verurteilt. Nach den Feststellungen war der Angeklagte am 23.12.2017 gegen 1.08 Uhr am Steuer eines Pkws VW Golf GTI im Stadtgebiet von Kempten unterwegs. Der Angeklagte sollte einer allgemeinen Verkehrskontrolle unterzogen werden. Der Angeklagte, der das hinter ihm mit Anhaltesignal fahrende Einsatzfahrzeug der Polizei bemerkt hatte, wollte sich dem entziehen. Ohne sich über andere Verkehrsteilnehmer und mögliche Gefahren Gedanken zu machen, beschleunigte er auf der K. Straße seinen zunächst mit normaler Geschwindigkeit fahrenden Pkw VW Golf GTI mit Vollgas, wobei er das Gaspedal seines mit einem Automatikgetriebe ausgestatteten Fahrzeugs bis zum Bodenblech durchdrückte, bis auf eine Geschwindigkeit von mindestens 130 km/h durchfuhr anschließend mit dieser Geschwindigkeit einen Straßenabschnitt auf der K.-Straße mit einer angeordneten Geschwindigkeitsbegrenzung auf 20 km/h. Dabei war es das Ziel des Angeklagten, dem verfolgenden Streifenwagen zu entkommen. Dies konnte er nach seinen Vorstellungen nur durch das Wegfahren mit der in dieser Situation höchstmöglichen Geschwindigkeit erreichen. Der Angeklagte lieferte sich mit den Polizeibeamten, die ihn zwischenzeitlich aus den Augen verloren hatten eine Verfolgungsfahrt, u.a. durch eine Fußgängerzone. Dort standen der Zeuge F. zusammen mit seiner Schwester und einer Bekannten vor einer aus Sicht des Angeklagten auf der rechten Straßenseite gelegenen Gaststätte auf der G.-Straße. Der Angeklagte, der die Personen aus etwa 40 bis 50 Meter Entfernung erkannt hatte, wollte seine Flucht vor der Polizei weiter erfolgreich fortsetzen, weshalb er nicht abbremste oder auswich, sondern ‒ auf deren Ausweichen vertrauend ‒ mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h auf die auf der G.-Straße stehenden Personen zufuhr. Der Zeuge F. nahm das Fahrzeug des Angeklagten wahr und konnte mit einer schnellen Reaktion seine Schwester und diese ihrerseits die Bekannte zur Seite ziehen und dadurch einen Zusammenstoß des vom Angeklagten gesteuerten Pkws mit der Bekannten verhindern. Der Angeklagte passierte die Personen in einem Abstand von ca. 30 cm mit unverminderter Geschwindigkeit. Die konkrete Gefahr einer Kollision mit entsprechenden Verletzungen hätte der Angeklagte bei dieser Fahrweise erkennen können und müssen. Das LG hat den Angeklagten wegen eines Verstoßes gegen § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB verurteilt. Das Rechtsmittel des Angeklagten hatte – teilweise – Erfolg.

II. Entscheidung

Nach Auffassung des BGH beruhen die Feststellungen der Strafkammer zu der nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB strafbarkeitsbegründenden Absicht des Angeklagten auf einer nicht tragfähigen Beweiswürdigung beruhen. Die insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des angefochtenen Urteils ergeben indes, dass der Angeklagte zu Beginn der Fluchtfahrt in der K. Straße den Grundtatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB verwirklicht hat.

Die Strafvorschrift des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB setze in objektiver Hinsicht ein Sich-Fortbewegen mit nicht angepasster Geschwindigkeit voraus, das sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls als grob verkehrswidrig und rücksichtslos darstellt. Die grobe Verkehrswidrigkeit des Fahrens mit nicht angepasster Geschwindigkeit könne sich allein aus der besonderen Massivität des Geschwindigkeitsverstoßes oder aus begleitenden anderweitigen Verkehrsverstößen ergeben, die in einem inneren Zusammenhang mit der nicht angepassten Geschwindigkeit stehen. Die Tathandlung müsse ferner im Sinne einer überschießenden Innentendenz von der Absicht des Täters getragen sein, nach seinen Vorstellungen auf einer nicht ganz unerheblichen Wegstrecke die unter den konkreten situativen Gegebenheiten maximal mögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Diese Absicht brauche nicht Endziel oder Hauptbeweggrund des Handelns zu sein. Es reiche vielmehr aus, dass der Täter das Erreichen der situativen Grenzgeschwindigkeit als aus seiner Sicht notwendiges Zwischenziel anstrebt, um ein weiteres Handlungsziel zu erreichen (vgl. BGH VRR 4/2021, 13 = StRR 5/2021, 27, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt; Beschl. v. 13.4.2021 ‒ 4 StR 109/20).

Dieses Verständnis des Absichtsmerkmals in § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB habe zur Folge, dass beim Vorliegen der weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen auch sog. Polizeifluchtfälle von der Strafvorschrift erfasst werden, sofern festgestellt werden könne, dass es dem Täter darauf ankam, als notwendiges Zwischenziel für eine erfolgreiche Flucht über eine nicht ganz unerhebliche Wegstrecke die höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Dabei sei allerdings zu beachten, dass aus einer Fluchtmotivation nicht ohne Weiteres auf die Absicht geschlossen werden könne, die gefahrene Geschwindigkeit bis zur Grenze der situativ möglichen Höchstgeschwindigkeit zu steigern (vgl. BGH VRR 4/2021, 13 = StRR 5/2021, 27).

Die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte habe durch sein Fahrverhalten in der G.-Straße den Grundtatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB und die einen fahrlässig verursachten Gefahrenerfolg voraussetzende Qualifikationsnorm des § 315d Abs. 4 StGB verwirklicht, begegne – so der BGH – durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Denn die Feststellung des LG, dass das Fahren des Angeklagten mit unangepasster Geschwindigkeit in der G.-Straße von der Absicht getragen war, die nach seiner Vorstellung höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, stütze sich auf eine Beweiswürdigung, die auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 29, 18, 20 f. m.w.N.; Franke in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 337 Rn 117 ff. m.w.N.) einer rechtlichen Prüfung nicht standhält. Die Beweiswürdigung erweise sich insoweit als lückenhaft. Die Strafkammer habe ihre Überzeugung vom Vorliegen des Absichtselements des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB neben den Bekundungen des Zeugen F. und eines weiteren Zeugen zu ihren subjektiven Eindrücken vom Fahrverhalten des Angeklagten maßgeblich auf die durchgängig vorhandene Fluchtmotivation des Angeklagten sowie den Umstand gestützt, dass der Angeklagte zu Beginn der Fluchtfahrt in der K.-Straße mit maximaler Beschleunigung fuhr. Dagegen habe sie die im Urteil wiedergegebenen Ausführungen des verkehrstechnischen Sachverständigen bei der Bewertung der subjektiven Tatseite nicht in den Blick genommen. Der Sachverständige habe dargelegt, dass die vom Angeklagten nach dem R.-Platz zunächst zu bewältigende Rechtskurve in der G.-Straße mit einer Geschwindigkeit von höchstens 51 km/h durchfahren werden konnte und anschließend bis zur Position der vor der Gaststätte stehenden Personen eine Beschleunigungsstrecke zur Verfügung stand, die das Erreichen einer maximalen Geschwindigkeit von 110 km/h ermöglicht hätte. Der Umstand, dass für den Angeklagten bis zu dem Passieren der Personen vor der Gaststätte nach den Erläuterungen des Sachverständigen bei maximaler Beschleunigung eine Geschwindigkeit von 110 km/h möglich gewesen wäre, er an den Personen tatsächlich aber mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h vorbeifuhr, hätte vom LG bei der Prüfung des Absichtselements mit in seine beweiswürdigenden Überlegungen eingestellt werden müssen. Darüber hinaus wäre bei der indiziellen Bewertung der beim Angeklagten durchgängig vorhandenen Fluchtmotivation zu berücksichtigen gewesen, dass der Angeklagte in der G.-Straße nicht mehr unter unmittelbarem Verfolgungsdruck stand, weil er das ihm in der K.-Straße nachfahrende Einsatzfahrzeug der Polizei zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschüttelt hatte.

Die insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen tatsächlichen Feststellungen des Urteils ergaben nach Ansicht des BGH aber, dass der Angeklagte durch sein Fahrverhalten zu Beginn der Fluchtfahrt in der K.-Straße den Tatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB erfüllt und sich wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens strafbar gemacht hat. Indem er die K.-Straße ungeachtet der dort geltenden Geschwindigkeitsbeschränkungen auf 50 km/h und anschließend 20 km/h mit einer Geschwindigkeit von mindestens 130 km/h entlangfuhr, bewegte er sich als Kraftfahrzeugführer mit unangepasster Geschwindigkeit fort. Sein Tun habe sich schon angesichts der massiven Überschreitungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeiten als grob verkehrswidrig dargestellt. Nach den Urteilsausführungen habe der Angeklagte auch gleichgültig gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern um seines schnelleren Fortkommens Willen, mithin rücksichtslos, gehandelt. Schließlich habe das LG auf der Grundlage der als glaubhaft bewerteten geständigen Einlassung des Angeklagten rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die unter maximaler Beschleunigung unternommene Fahrt des Angeklagten in der K.-Straße von der Absicht getragen war, nach seinen Vorstellungen über eine nicht ganz unerhebliche Wegstrecke die unter den konkreten situativen Gegebenheiten höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, um auf diese Weise der ihn verfolgenden Polizeistreife zu entkommen.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Die Entscheidung liegt auf der Linie der Rechtsprechung des BGH zu § 315d StGB. Der BGH behandelt – soweit ersichtlich – erstmals einen „Polizeifluchtfall“. Die Entscheidung zeigt, wie kompliziert sich die Anwendung des § 315d StGB in der Praxis gestaltet.

2. Der BGH hat vor dem Hintergrund der gutachterlichen Ausführungen des verkehrstechnischen Sachverständigen und der seit dem Geschehen mittlerweile verstrichenen Zeitspanne von mehr als drei Jahren – der BGH hatte schon einmal eine Verurteilung des Angeklagten nach § 315c StGB aufgehoben – ausgeschlossen, dass noch tatsächliche Feststellungen getroffen werden können, die für den Abschnitt der Fluchtfahrt in der G.Straße das Vorliegen des Absichtsmerkmals des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB ergeben könnten. Er hat daher die rechtliche Würdigung geändert, so dass die Verurteilung des Angeklagten nach der Qualifikationsnorm des § 315d Abs. 4 StGB entfiel und es bei der Strafbarkeit gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB verblieb. Diese Änderung der rechtlichen Bewertung hat zur Aufhebung des Strafausspruchs und der Entscheidung über die Dauer der Sperre für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis. Die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 1 StGB hat der BGH hingegen aufrecht erhalten. Der Angeklagte habe das Regelbeispiel des § 69 Abs. 2 Nr. 1a StGB für ein Vorliegen der Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen verwirklicht. Angesichts der Vielzahl der im Verlauf der gesamten Fluchtfahrt begangenen gravierenden Verkehrsverstöße könne ausgeschlossen werden, dass das LG auf der Grundlage der geänderten rechtlichen Bewertung von der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 1a StGB abgewichen wäre.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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