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Alleinhaftung des Auffahrenden bei Verkehrsunfall im Stop-and-Go-Verkehr auf der Autobahn

1. Gegen den von einem Zubringer auf den rechten Fahrstreifen der Autobahn auffahrenden Fahrzeugführer spricht der Beweis des ersten Anscheins wegen eines Verstoßes gegen § 18 StVO auch dann, wenn sich die Kollision während des Einfädelungsvorgangs im Stop-and-Go-Verkehr ereignet hat.

2. Dieser Anscheinsbeweis erhärtet sich, wenn nach Zeugenaussagen feststeht, dass der Fahrzeugführer in einer viel zu kleinen Lücke direkt vor den Lkw gefahren ist.

3. Für eine ohnehin deutlich geringere Mithaftung des LKW-Fahrers muss ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO nachgewiesen werden – dieser scheidet aus, wenn der LKW-Fahrer den Pkw bei diesem Einscheren in einem geringen Abstand entweder gar nicht sehen konnte oder aber keine Veranlassung hatte, vor dem Moment des Anfahrens zusätzlich in einen besonderen Seitenspiegel zu schauen.

(Leitsätze des Verfassers)

OLG Hamm, Beschl. v. 19.5.2020 – I 9 U 23/20

I. Sachverhalt

Der Kläger kollidierte im Stop-and-Go-Verkehr beim Auffahren vom Auffahrstreifen auf den rechten Fahrstreifen auf einer Autobahn mit dem dort befindlichen Lkw der Beklagtenseite und begehrte den Ersatz des dadurch entstandenen Schadens. Die beklagte Versicherung hatte dies mit dem Argument abgelehnt, dass der klägerische Fahrzeugführer die entscheidende Unfallursache durch einen Verstoß gegen § 18 Abs. 3 StVO gesetzt hat.

II. Entscheidung

Nach der durchgeführten Beweisaufnahme hat das Oberlandesgericht Hamm diese Einschätzung geteilt: Gegen den Kläger würde selbst bei einer Stop-and-Go-Situation der Anscheinsbeweis eines schuldhaften Verstoßes gegen § 18 StVO im Zusammenhang mit dem Auffahren auf die Autobahn und dem damit verbundenen Fahrstreifenwechsel sprechen. Auch im Stop-and-Go-Verkehr müsste bei einem solchen gefährlichen Fahrmanöver vom Kläger das Höchstmaß an Sorgfalt an den Tag gelegt werden, um eine Kollision zu vermeiden. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme hat sich dieser Anscheinsbeweis noch erhärtet, da unbeteiligte Zeugen ausgesagt haben, dass der klägerische Fahrzeugführer sich unmittelbar vor den Lkw in eine Lücke hineingedrängt hätte, die für sein Fahrzeug gar nicht groß genug gewesen ist.

Vor diesem Hintergrund hat der Senat auch einen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO zu Lasten des Fahrzeugführers des Lkw abgelehnt, da nicht sicher festgestellt werden konnte, dass dieser durch eine rechtzeitige Reaktion die Kollision hätte vermeiden können. Bei einem Einfahren mit einem derartig geringen Abstand lässt sich eine Kollision nach Kenntnis des Senats nur dann vermeiden, wenn der LKW-Fahrer vor dem Anfahren über einen – ohnehin gesetzlich nicht vorgeschriebenen – Zusatzspiegel im Bereich der Windschutzscheibe verfügen würde, der ihm auch den Einblick direkt rechts vor das Fahrzeug gewährt. Einen solchen Blick müsste der Fahrzeugführer ohne besonderen Anlass nicht vornehmen, sodass ihm kein Verschulden nachgewiesen werden könnte. Die Betriebsgefahr des Lkw würde sodann hinter dem groben Fehlverhalten des klägerischen Fahrzeugführers in vollem Umfang zurücktreten.

III. Bedeutung für die Praxis

Das OLG Hamm hat als Berufungsgericht über eine in der Tat immer wiederkommende Konstellation bei Verkehrsunfällen im Stop-and-Go-Verkehr auf der Autobahn in einer sogenannten „Einfädelungssituation“ zu entscheiden. Dabei ist insbesondere zu beachten, dass gegen den auffahrenden Fahrzeugführer sowie bei einer Durchfahrt im fließenden Verkehr als auch im Stop-and-Go-Verkehr der Beweis des ersten Anscheins wegen eines schuldhaften Verstoßes gegen § 18 Abs. 3 StVO spricht, den er zu erschüttern hat (vgl. KG NZV 2008, 244; OLG Köln NZV 2006, 420). Kann er den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis nicht erschüttern, haftet er grundsätzlich erst einmal wegen des damit verbundenen Verstoßes gegen eine Kardinalpflicht alleine (vgl. OLG Köln NZV 1999, 43). Bei einem Auffahren auf die Autobahn in einem derart geringen Abstand wie hier direkt vor den Lkw liegt ein Verschulden des beteiligten Fahrzeugführers auf der Hand.

Zugunsten des LKW-Fahrers ist zu berücksichtigen, dass es sich in einer solchen Situation gerade nicht um einen typischen Auffahrunfall handelt, da die Fahrzeuge nicht lange genug hintereinander hergefahren sind, dass sie sich auf ein Fahrverhalten des anderen Fahrzeugführers einstellen konnten – vielmehr ist die Situation ja dadurch geprägt, dass sich häufig das den Fahrstreifen wechselnde Fahrzeug noch in einem schrägen Bereich direkt im toten Winkel vor dem Lkw befindet und der Fahrzeugführer gar keine Möglichkeit hat, die Kollision zu vermeiden (grundlegend bereits BGH NJW 1982, 1595; KG MDR 2001, 986).

Wie das OLG Hamm in diesem Fall zu Recht darauf hinweist, zeigt die Erfahrung aus einer Vielzahl von Sachverständigengutachten zu diesen Unfallkonstellationen, dass der LKW-Fahrer hier eine Kollision nur dann vermeiden kann, wenn sein Lkw mit einem besonderen Sicherheitsspiegel an der Seite ausgestattet ist und er vor dem Anfahren auch einen Blick in gerade eben diesen Spiegel vornimmt. Grundsätzlich darf der LKW-Fahrer allerdings darauf vertrauen, dass sich ein Fahrzeug nicht direkt in einem toten Winkel vor ihn setzt und muss nicht vor jedem kurzfristigen Anhalten im Stop-and-Go-Verkehr auch den Bereich rechts vorne neben seinem Lkw überprüfen (vgl. LG Essen, Beschl. v. 24.11.2017 – 13 S 44/17; AG Essen, Urt. v. 20.3.2017 – 14 C 188/16). Derartige Anforderungen können allenfalls von einem Idealfahrer erwartet werden – diese Prüfung kann aber im Regelfall dahinstehen, wenn alleine das grob verkehrswidrige Verhalten des einfahrenden Fahrzeugführers dazu führt, dass die Betriebsgefahr des beteiligten Fahrzeuges auch bei einem Lkw im vollen Umfang dahinter zurücktritt (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 27.10.2014 – I 9 U 60/14).

RA und FA für VerkehrsR und VersR Dr. Michael Nugel, Essen

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