Beitrag

Reichweite der Sperrwirkung bei § 177 Abs. 6 S. 1 StGB

Der Strafrahmen des § 177 Abs. 6 S. 1 StGB entfaltet umfassende Sperrwirkung gegenüber demjenigen des § 177 Abs. 9 Var. 3 StGB.

(Leitsatz des Gerichts)

BGH, Beschl. v. 14.5.20246 StR 502/23

I. Sachverhalt

Minder schwerer Fall der Vergewaltigung mit Qualifikation

Das LG hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung verurteilt. Er richtete ein Küchenmesser mit einer Klingenlänge von ca. 20 cm auf die Nebenklägerin, um dadurch ihren etwaigen Widerstand gegen die von ihm beabsichtigten sexuellen Handlungen zu unterbinden. Dann warf er das Messer nicht weit vom Hauptweg entfernt ins Gebüsch. Dann drängte er die Nebenklägerin weiter in den Wald hinein bis zu einer Lichtung an einem See und forderte sie auf, sich ebenfalls zu entkleiden. Der Angeklagte, dem der entgegenstehende Wille der Nebenklägerin bewusst war, berührte zunächst mit seinen Händen ihre nackten Brüste. Dann führte er „zwei oder drei Finger“ in ihre Scheide ein, bewegte diese etwa ein bis zwei Minuten lang hin und her und onanierte dabei vor ihr, ohne eine Erektion zu bekommen und zum Samenerguss zu gelangen. Nach wenigen Minuten hörte er auf und ließ von der Nebenklägerin ab.

II. Entscheidung

Das Rechtsinstitut der Sperrwirkung …

Der Strafausspruch lasse keinen Rechtsfehler erkennen. Das LG habe die Tat aufgrund der gebotenen umfassenden Gesamtabwägung als minder schweren Fall i.S.d. § 177 Abs. 9 Var. 3 StGB gewertet und dabei insbesondere berücksichtigt, dass die Verwirklichung des Regelbeispiels nach § 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB der Annahme eines minder schweren Falles regelmäßig entgegensteht (BGH StV 2001, 456). Es stoße indes auf keine rechtlichen Bedenken, dass das LG der Strafzumessung den Strafrahmen des § 177 Abs. 6 S. 1 StGB zugrunde gelegt hat, der die Verhängung einer Freiheitsstrafe von zwei bis fünfzehn Jahren vorsieht. Mit dem Rechtsinstitut der Sperrwirkung des im Wege der Gesetzeskonkurrenz verdrängten Delikts würden wertungswidrige Ergebnisse korrigiert, die durch gesetzliche Inkohärenzen bzw. Unstimmigkeiten bei der Strafrahmenbestimmung entstehen können. Droht das Gesetz etwa für die Verwirklichung einer tatbestandsmäßigen Qualifikation in einem minder schweren Fall eine geringere Mindeststrafe als für den Grundtatbestand an, dann könne diese „wenig geglückte Harmonie der Strafrahmen“ (BGH NJW 2003, 1679) bei der Strafzumessung zu einer Besserstellung desjenigen Täters führen, der neben dem milderen Gesetz noch ein schwereres Gesetz (mit niedrigerer Mindest- oder Höchststrafe) verletzt. Das Rechtsinstitut der Sperrwirkung behebe diesen Wertungswiderspruch, indem bei der Strafrahmenwahl der Strafrahmen des verdrängten Tatbestandes denjenigen des spezielleren und damit nach den Regeln der Gesetzeskonkurrenz (Spezialität) vorrangigen Tatbestandes sperrt. Es verhindere dadurch, dass der Täter aus dem von ihm verwirklichten erhöhten Unrecht Vorteile zieht, und trage der Bestimmung der Strafe Rechnung, gerechter Schuldausgleich zu sein (BGH StV 2024, 240). Praktische Bedeutung habe die Sperrwirkung des verdrängten Delikts vor allem im Betäubungsmittelstrafrecht, insbesondere in Fällen des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (in nicht geringer Menge), § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG. Diese Vorschrift begründe eine Qualifikation zu § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG (Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge), der sich seinerseits als qualifiziertes Delikt gegenüber dem Grundtatbestand des § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BtMG (Handeltreiben mit Betäubungsmitteln) darstellt. Beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG träten mithin der Qualifikationstatbestand des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG und der Grundtatbestand des § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BtMG nach dem Grundsatz der Spezialität in Gesetzeskonkurrenz hinter § 30a Abs. 2 BtMG zurück (BGH NStZ 2014, 164). § 30a Abs. 3 BtMG regelt einen minder schweren Fall des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, der den Strafrahmen des § 30a Abs. 2 BtMG von fünf bis fünfzehn Jahren auf eine Strafrahmenuntergrenze von sechs Monaten und eine Strafrahmenobergrenze von zehn Jahren mildert. Der hinter § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG zurücktretende § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG sehe demgegenüber einen höheren Strafrahmen vor: Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünfzehn Jahren. Diese Inkohärenz führe – soweit nicht zugleich ein minder schwerer Fall i.S.d. § 29a Abs. 2 BtMG vorliegt – zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Privilegierung desjenigen Täters. Aus diesem Grund entfalte § 29a Abs. 1 BtMG nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur in diesen Fällen eine Sperrwirkung, die sich allerdings auf die Strafuntergrenze beschränken soll (BGH NJW 2003, 1679; NStZ 2011, 98; NStZ-RR 2014, 180); der 3. Strafsenat des BGH habe seine zwischenzeitlich vertretene abweichende Auffassung, dass die Sperrwirkung des § 29a Abs. 1 BtMG auch hinsichtlich der Strafobergrenze gelte (BGH NStZ 2014, 164, 165), wieder aufgegeben (BGH NJW 2021, 175).

… ist bei § 177 StGB anwendbar …

Auch die Deliktsstruktur des § 177 StGB, die in der Literatur treffend als „undurchdringliches Dickicht differenzierter, sich überschneidender Strafdrohungen“ bezeichnet wird (Renzikowski, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, Band 4, § 9 Rn 70), werfe die Frage einer Sperrwirkung und damit nach deren Reichweite auf. Liegen die Voraussetzungen eines (erschwerenden) Qualifikationstatbestandes gem. § 177 Abs. 7 oder Abs. 8 StGB vor, dann trete § 177 Abs. 5 StGB – und damit auch die Strafzumessungsregel des § 177 Abs. 6 S. 1 StGB – im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurück. Diese Regelungstechnik führe bei der Strafrahmenwahl zu einem Wertungswiderspruch, wenn der Täter – wie in dem hier in Rede stehenden Fall – einen besonders schweren Fall des sexuellen Übergriffs (Vergewaltigung) nach § 177 Abs. 5, Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB und darüber hinaus die Qualifikation des § 177 Abs. 8 Nr. 1 StGB verwirklicht, Letztere aber nur in einem minder schweren Fall i.S.v. § 177 Abs. 9 Var. 3 StGB. Denn ohne Korrektur durch das Rechtsinstitut der Sperrwirkung komme dann trotz der qualifizierenden Umstände der mildere Strafrahmen des § 177 Abs. 9 Var. 3 StGB zur Anwendung. Um zu vermeiden, dass derjenige günstiger gestellt wird, der neben dem Regelbeispiel des § 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB außerdem einen Qualifikationstatbestand erfüllt, habe der BGH angenommen, dass § 177 Abs. 6 S. 1 StGB hinsichtlich der Strafuntergrenze eine Sperrwirkung entfaltet (BGH StV 2003, 395; NStZ 2023, 340). Er habe indes bisher offengelassen, ob sich die Sperrwirkung auch auf die Strafobergrenze erstreckt.

… auch hinsichtlich der Strafobergrenze

Die hier bedeutsame Frage, ob § 177 Abs. 6 S. 1 StGB in solchen Fällen auch hinsichtlich der Strafobergrenze eine Sperrwirkung entfaltet, sei zu bejahen. Das ergebe sich schon aus dem Rechtsinstitut der Sperrwirkung als Ausprägung des Grundsatzes eines gerechten Schuldausgleichs. Die Strafzumessung werde von dem Grundsatz der gerechten Schuldstrafe bestimmt (BGHSt 28, 318, 324; BGHSt 56, 262, 265). Danach dürfe sich die Strafe weder nach oben noch nach unten von ihrer Bestimmung lösen, gerechter Schuldausgleich zu sein. Dementsprechend garantiere das Rechtsinstitut der Sperrwirkung, dass dem Täter aus seiner eigenen Schuld- und Unrechtssteigerung bei der Festsetzung der Strafe keine unbilligen Vorteile erwachsen. Es trage damit dem als Ausschöpfungsgebot bezeichneten Prinzip der Strafzumessung Rechnung, wonach ein Täter nicht davon profitieren darf, dass er zusätzlich ein anderes oder ein noch größeres Unrecht verwirklicht hat, nur eine umfassende Sperrwirkung dem Ausschöpfungsgebot und damit dem Grundsatz der Schuldstrafe gerecht wird (wird eingehend ausgeführt). Ergebe sich nach alledem bereits aus dem Rechtsinstitut der Sperrwirkung, dass dieses nicht nur die Strafunter-, sondern auch die Strafobergrenze umfasst, so gelte dies grundsätzlich für alle Deliktsbereiche. Ausnahmen kämen nur in Fällen sogenannter privilegierender Spezialität in Betracht, in denen es gerade dem Sinn und Zweck der spezielleren Vorschrift entspricht, den Täter zu begünstigen (BGHSt 53, 288 Rn 13; BGHSt 49, 34, 375). Daraus, dass bislang im Betäubungsmittelstrafrecht eine Beschränkung der Sperrwirkung auf die Strafuntergrenze angenommen wird, folge für die hier in Rede stehende Konstellation nichts anderes, weil die Frage des Ausmaßes der Sperrwirkung jedenfalls für jeden Deliktsbereich gesondert zu beurteilen ist. Insoweit gilt für die Deliktsstruktur des § 177 StGB Gleiches wie für das Steuerstrafrecht (BGHSt 32, 95).

III. Bedeutung für die Praxis

Grundsätzlich überzeugend

Der in Breite und Tiefe schon monografisch anmutende und hier nur stark verkürzt wiedergegebene Beschluss des 6. Senats ist für BGHSt vorgesehen. Was die Sperrwirkung bei der Strafuntergrenze angeht, ist dem Beschluss bezüglich der Übertragung der dargestellten anerkannten Grundsätze im Betäubungsmittelstrafrecht nichts hinzuzufügen. Anders sieht es bei der Strafobergrenze aus. Nicht nur wie zitiert der 3. Senat (BGH NJW 2021, 175), sondern auch andere Senate haben sich im Bereich des BtMG gegen eine solche Sperrwirkung ausgesprochen (beispielhaft 1. Senat NStZ 2011, 98; 4.Senat NStZ-RR 2014, 82). Trotz des Hinweises darauf, dass die Sperrwirkung für jede Deliktsart individuell zu betrachten sei – wobei sich der Senat bei der Strafuntergrenze gerade auch auf die Parallele zum BtMG stützt –, steht zu vermuten, dass sich hier eine Divergenz in der Grundsatzfrage zu den anderen Senaten auftut. Früher oder später dürfte diese Frage den Großen Senat beschäftigen.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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